Eine leise Erinnerung an längst vergangene Tage. Ich glaube aber, der alte Koffer steht noch immer auf dem Dachboden ...
Der fliegende Koffer
Sobald die Dämmerung hereinbrach, bettelten unsere Enkelkinder Martina, Monika und Erwin: „Oma, erzähl´ uns ein Märchen!“
Ich setzte mich in den Schaukelstuhl. Die Kinder durften Kerzen anzünden und platzierten  sich erwartungsvoll auf ihren Hockern. Ich räusperte mich, klapperte mit den Stricknadeln und begann zu erzählen ....
Manchmal waren es Geschichten, die sie schon kannten. Um die Aufmerksamkeit der Kinder anzuregen, ließ ich gelegentlich etwas aus oder fügte fremde Passagen hinzu. Meist protestierten sie sofort. Meinen Beteuerungen: „Doch, das stimmt.“, glaubten sie nicht.
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„Der fliegende Koffer“, begann ich eines Abends, „gehörte einem Kaufmannssohn, dem sein Vater viel Geld hinterlassen hatte. Der junge Mann aber war ein Schlendrian und Tunichtgut. In ganz kurzer Zeit hatte er mit seinen Freunden das gesamte Erbe durchgebracht. Aus großen Geldscheinen
hatte er Schiffchen gefaltet und den Fluss hinunter schwimmen lassen ....“
„Nein!“, riefen die Kinder, „Er faltete Flieger und Vögel.“
Unbeirrt erzählte ich weiter: „Zuletzt besaß er nur noch einen alten Anzug und ein Paar Schuhe.“
„Falsch!“, korrigierten mich Martina und Monika, „einen Morgenrock und Pantoffeln.“
Schuldbewusst räumte ich ein, mich geirrt zu haben, und fuhr fort:
„Eines Tages schenkte ihm ein alter Mann einen Koffer. Da unser Held aber nichts einzupacken hatte, setzte er sich selbst hinein. Gedankenverloren drehte er an dem Schloss ... und siehe da ... der
Koffer hob sich mitsamt seinem Passagier in die Luft.
Zuerst wurde dem Kaufmannssohn angst und bang. Dann allerdings merkte er, dass er sein wunderliches Flugobjekt sogar steuern konnte.“
Ich hielt kurz inne, um meine Strickmaschen zu zählen.
„Weiter!“, drängten die Kinder.
Ich runzelte die Stirn, als ob ich grĂĽbelte, wie es nun wohl weiter ginge.
„Erzählt doch ihr ein Stückchen“, bat ich die Kinder, „ich habe jetzt tatsächlich den Faden verloren.“
Martina, die älteste, bemühte sich, fließend und schön zu sprechen.
„Der Kaufmann flog in die Türkei und
landete auf dem Dach eines Sultanspalastes. Er kroch durch ein Fenster und lernte die wunderschöne Tochter des Sultans kennen.“
„Die war so schön“, fügte Erwin etwas verschämt hinzu, „dass er sich sofort in sie verliebte. Er hielt um ihre Hand an und bald heirateten sie.“
„Ja.“, bekräftigte Monika. „Und bei den Hochzeitsfeierlichkeiten startete der Kaufmannssohn seinen Koffer und zündete in luftiger Höhe unzählige Feuerwerkskörper. Der Himmel war mit funkelnden Sternen übersät. Sie bildeten schöne Ornamente in allen möglichen Farben und fielen in Kaskaden nieder.“
„Wie bei uns zu Silvester!“, strahlte
Erwin.
Martina warf ihm ob der vielen Unterbrechungen einen strengen Blick zu und erzählte weiter.
„Er ging in die Stadt und hörte, wie die Leute begeistert über das Feuerwerk sprachen so etwas hatten sie nämlich noch nie gesehen.
Als er wieder in den Wald zurück kehrte, fand er den Koffer nicht mehr. Er war durch Funken in Brand geraten und verbrannt.“
Jetzt war es an mir, zu widersprechen.
„Nein“, erklärte ich, „der Koffer ist nicht verbrannt, den gibt es noch.“
„Wo?“, riefen die Kinder.
Ich lieĂź sie eine Weile raten und zappeln.
Dann sagte ich: „Er steht bei uns auf dem Dachboden.“
Mehr von den Kindern gezwungen als freiwillig, begab ich mich mit ihnen auf den Dachboden. Im Schein einer Taschenlampe suchten wir nach dem Koffer.
Er stand völlig verstaubt in einer Ecke. Notdürftig wischten wir Staub und Spinnweben ab und betrachteten das märchenhafte Stück von allen Seiten.
„Glaubst du, dass wir alle drei darin Platz haben?“, fragte Monika zaghaft.
„Natürlich!“, gab sich Erwin zuversichtlich. „Probieren wir es aus.“
Es half keine Ausrede. Diese Frage musste auf der Stelle geklärt werden. Der
Schein der Taschenlampe reichte gerade noch, um eine geeignete Sitzposition im Koffer auszuprobieren.
„Jetzt müssen wir aber hinunter.“, mahnte ich. „Es ist spät, ihr müsst ins Bett.“
„Morgen aber holen wir den Koffer! Vielleicht können wir wirklich damit fliegen?“
Sie akzeptierten meinen Widerspruch nicht, als ich von einem gefährlichen Abenteuer sprach und der Angst, die ich dabei hätte.
Am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück, wurde der kostbare Schatz geborgen.
„Wohin sollen wir fliegen?“, fragten die Kinder, als der Koffer mitten im Wohnzimmer auf dem Teppich stand.
„Kinder, Kinder! Schön langsam. Märchenstunde ist erst abends und bis dahin haben wir sicher ein lohnendes Ziel gefunden.“
Aber die Kinder waren nicht mehr zu beruhigen.
Ich ĂĽberlegte ....
Es war Winter ...also ab ins Land der Schneekönigin.
Während ich erzählte, schaukelten sich die Kinder im alten Koffer auf dem Fußboden.
DrauĂźen vor dem Fenster tanzten Schneeflocken und der Wind heulte um
das Haus.
Als ich vom kleinen Kai berichtete, den die Schneekönigin mitgenommen hatte, legte ich den Kindern eine Decke um die Schultern.
„Damit ihr nicht friert“, sagte ich, „denn jetzt kommen wir in ein Reich aus Eis und Schnee.“ und servierte ihnen zum Aufwärmen heißen Früchtetee.
Das Märchen von der Schneekönigin zog sich über mehrere Tage hin.
Später besuchten wir Afrika und die vielen Großwildtiere, das Morgenland mit seinen Alabasterpalästen, den Sultans und verschleierten Prinzessinnen. Wir reisten nach Amerika und kämpften
an der Seite der Indianer.
Die ganze Welt eroberten wir. Und meine Enkelkinder flogen in dem alten Koffer begeistert zu all diesen Schauplätzen.
Ohne „fliegenden Koffer“ gab es nun lange, lange Zeit kein Märchen mehr. Jeden Tag waren wir mit ihm unterwegs.
Und ich muss gestehen: Für mich waren es die schönsten Reisen, die ich in meinem langen Leben unternommen habe.
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