Religionsfreiheit
Es war 1944, im letzten Kriegsjahr, als Inge in die Schule eintrat.
Ihre Mutter war römisch-katholisch, ihr Vater evangelisch.
Als das kleine Mädchen geboren worden war, hatte man es nach dem Glaubensbekenntnis des Vaters in der schönen evangelischen Heilandskirche in Mürzzuschlag zur Taufe getragen.
Diese Kirche verfügt über eine Besonderheit, über eine Einmaligkeit: Sie ist die einzige protestantische Kirche mit einem Marienbildnis.
Dies nämlich hatte Peter Rosegger
zur Bedingung gemacht, als er das Geld für den Bau des evangelischen Gotteshauses zur Verfügung gestellt hatte.
Selbst Katholik und großer Marienverehrer, hatte er im In- und Ausland gesammelt, in Zeitungen zu Spenden aufgerufen und Lesungen gehalten, um die Mittel für den Kirchenbau aufzubringen.
Er übergab das Geld der Gemeinde, und im Jahre 1900 konnte das Gotteshaus errichtet werden.
In dieser “Heilandskirche” wurde Inge nun als Baby getauft.
Als sie dann in die Schule eintrat,
nahm sie natürlich am evangelischen Religionsunterricht teil.
Während der Großteil der Kinder im Klassenzimmer auf den Herrn Pfarrer wartete, begaben sich die wenigen protestantischen Schülerinnen in einen kleineren Nebenraum, wo sie der Herr Pastor unterrichtete.
Er war ein Mann in mittleren Jahren und selbst Familienvater. Seine Tochter Ingrid besuchte dieselbe Klasse wie Inge. Sie waren sogar ein wenig befreundet, und Inge hatte ihre Klassenkameradin schon einigemal im Pfarrhaus zum gemeinsamen Spiel besucht.
Der Pastor gestaltete den Unterricht nüchtern und sachlich. Er war streng. Die
Schulanfängerinnen mussten jedesmal lange Absätze auswendig lernen und viel zeichnen.
Inge war ein aufgewecktes Mädchen.
Bald hatte sie herausgefunden, dass es im katholischen Religionsunterricht viel schöner zugehen sollte.
Nein, nein, beteuerten die Freundinnen, sie müssten bestimmt nichts lernen und zeichnen. Im Gegenteil, diese Unterrichtsstunde sei eine der schönsten, denn der Herr Pfarrer würde so schöne Geschichten von Jesus und dem lieben Gott erzählen.
Inge glaubte es nicht.
“Das schau´ ich mir einmal an!”
beschloss sie und blieb während der Religionsstunde in der Klasse sitzen.
Es stimmte! Es war wirklich wahr!
Der Herr Pfarrer, ein lieber, alter Mann, konnte wunderschön erzählen.
Inge war hingerissen - und niemand vermochte sie noch einmal in den kleinen Raum zum protestantischen Religionsunterricht zu bringen
Der Pastor schickte ein Mädchen, um sie zu holen.
Erfolglos . “Nein, nein, ich gehe nicht mit. Hier gefällt es mir viel besser!” entschied die Abtrünnige.
Die Frau Lehrerin redete ihr gut zu.
Der Pastor selbst kam, um das verlorene
Schäfchen zurückzuholen.
Alles umsonst!
Inge weigerte sich standhaft.
Nun wurde die Mutter in die Schule gebeten, um ihre Tochter endlich zur Vernunft zu bringen.
Die Frau Mama war Mitglied der katholischen Kirche. Ihr Mann, Inges Vater, vor wenigen Monaten im Krieg gefallen.
Es fiel ihr daher leicht, den Entschluss ihrer Tochter spontan zu akzeptieren.
Sie leitete die notwendigen Schritte ein, damit ihr kleines Mädchen zum katholischen, und damit zu ihrem
eigenen Glauben übertreten konnte.
Mutter und Tochter waren gleichermaßen froh über diese Entscheidung und haben sie nie bereut.