Wendepunkt
Der Nebel legt sich wie ein grauer Schleier um meinen zitternden Körper. Niemals hätte ich gedacht, dass dieser Tag so früh kommen würde.
Natürlich war es mir tief im Inneren bewusst, doch hatte ich noch so viel vor. Für diesen Schritt hätte noch lange Zeit verfliegen müssen. Ein Blick auf meine Armbanduhr verrät, wie schnell die Momente vergehen.
Tick tack, tick tack, einatmen ausatmen. Meine Gedanken schweben davon, wie die Samen von Pusteblumen. Sie beginnen eine neue Reise, zu einem unbekannten Ort und starten dort ihr neues Leben. Wie gern wäre ich so leicht wie ein Samen, schwerelos und frei.
Aber es ist mir unmöglich, ich stecke fest im hier und jetzt. Ich breite meine Arme aus, spüre
den Wind in meinen Haaren und an jeder Fingerspitze. Dann schließe ich meine Augen und sehe deine schmale Silhouette, höre dein liebevolles Lachen, rieche den Duft deines Lieblings Körpersprays und schmecke deine wohltuenden Lippen auf meinen. Ich bin nicht am selben Ort wie du, werde es womöglich nicht mehr sein.
Ich bin nicht am Ort der unbregrenzten Möglichkeiten, einem fruchtbaren glänzenden Platz, der mir ein neues Leben ermöglicht. Stattdessen verweile ich an dieser tristen traurigen Stelle. Eingesperrt in einem langweiligen immerwährenden Trott. Und ich weiß, ich habe es verdient.
Zwischen Millionen Menschen würde ich mich immernoch alleine fühlen. Ich bin verlassen worden, zurückgelassen in einer Welt die mir plötzlich so fremd
erscheint.
Nichts ist mehr wie es war, eine 180 Grad Wende innerhalb von Sekunden. Mein Leben fährt auf einer Schiene, ohne Wendepunkte, immer gerade aus ins Ungewisse.
Nachts, wenn ich still und alleine in unserem Bett liege, überkommt mich die Angst. Wie gern würde ich mich zur Seite drehen, in deine wunderschönen Augen blicken, aber diese Zeit ist vorbei. Unsere gemeinsamen Tage war viel zu kurz, einen Abschied gab es nicht.
Du wurdest mir genommen, viel zu früh der Menschheit entrissen und uns allen geraubt.
Mit ihr ist nicht nur meine Seele verschwunden, sondern auch meine Ziele, meine Hoffnungen, mein Vertrauen in Gott und meine
unerschöpfliche Kraft.
Mein Herz liegt auf dem Scheiterhaufen und die Hülle, die sich mein Körper nennt, ist vollkommen entkräftet und ausgelaugt.
Und immer wenn ich an dem Ort vorbeifahre, wo du deine letzten Sekunden auf Erden verbracht hast, werde ich müde. Müde von dieser Stadt, müde von dieser Welt und müde von diesem Leben.
Einen Augenblick Ablenkung hat genügt, um unser Leben vollkommen zu verändern. Und deines auszulöschen.
Wie jeden Morgen haben wir uns im Auto gestritten, ich wollte abends mit den Jungs raus und du wolltest mit mir zu deinen Eltern
fahren.
Auch wenn es immer laut zu ging, mittlerweile scheinen die damaligen Probleme sinnlos und unnötig.
Wie gern würde ich die Zeit zurück drehen, es besser machen.
Verdammt, warum habe ich mein Handy aus der Hosentasche genommen und meinen Jungs wutentbrannt eine SMS geschrieben? Es hätte in diesen Minuten der Fahrt nichts wichtigeres geben dürfen, als dich und mich. Ein Leben ist so unendlich kostbar und ich bin so leichtfertig damit umgegangen.
Nun muss ich für immer mit diesem Gewissen leben, dass ich Schuld bin. Daran, dass die Welt einen wunderbaren Menschen, wie dich verloren
hat.
Alleine in Deutschland sterben jährlich um die 300 Menschen diesen sinnlosen Tod. Nur weil jemand leichtfertig gehandelt hat, werden sogar ganze Familien ausgelöscht.