Es war die Art, wie er seine Brille aufsetzte. Über Jahre hinweg. Aber auch ganz zu Beginn unserer gemeinsamen Geschichte. Vor allen Dingen ganz zu Beginn.
Es war eine flüssig leichte Bewegung aus dem Handgelenk, die nichts an Selbstsicherheit vermissen ließ. Ich bewunderte ihn dafür. Das hatte ich nie geschafft. Meine eigene Brille war mir immer verhasst gewesen. Sie hatte sich wie ein Fremdkörper angefühlt und sich nie so richtig einfügen lassen in meine Gesamtansicht. Sehr schnell war ich deshalb zu Kontaktlinsen übergegangen.
Bei ihm war es anders. Jedes Mal, wenn er sich die Brille aufsetzte, war es, als begrüßte er eine alte Freundin. Hey! Wo warst du? Ich hab´dich vermisst. Damit drückte er eine besondere Beziehung zu seinem Gesicht aus. Nichts Übertriebenes, wie Stolz, Eitelkeit und Prahlerei. Nein. Es war eine einfache, fast schon beiläufige Geste und dennoch sprach
Bedeutsamkeit aus ihr. Sicher und wohlbehütet lag das fragile Etwas zwischen seinem Mittel- und Ringfinger (ich hatte das früher oft ausprobiert - nie gelang mir eine andere Halteposition als zwischen Daumen- und Zeigefinger, bei allem anderen kippte mir das ungeliebte Ding weg), um sodann im schwungvollen Viertelkreis auf seine Nase befördert zu werden.
Die Bewegung war mehr als eine simple Alltagshandlung. Sie war ein Akt.
Und sie verführte mich dazu Körperteile zu betrachten, die mir ansonsten verborgen blieben. Ich gebe es zu. Wenn ich jemanden kennenlernte, litt ich unter der selektiven Wahrnehmung eines paarungsbereiten Löwenweibchens. Breite Schultern? Ja! Die fielen mir auf. Schmale Hüften, die in der Rückansicht auf einen knackigen Hintern schließen ließen, inklusive einer locker - aber nicht zu viel - nach vorne schwingenden Hüfte?
Ebenso! Aber Hände? Die blieben meinem ersten Scan meist verborgen. Das Gesicht? Dazu brauchte ich noch länger. Dazu brauchte ich Mut.
Das silbern schimmernde Gestell landete also in einem anmutigen Bogen auf einem faszinierend gerade verlaufenden Nasenrücken. Auf der Mittellinie des Ganzen sozusagen. Das gab mir Sicherheit. Lassen wir das Drumherum, sprach der Nasenrücken, so nachdrücklich, dass ich nicht widerstehen konnte. Hier musst du hinschauen. Hier ist das Gesicht. Du darfst darin lesen.
Es war eine Offenbarung für mich.
Alles andere sollte mir erst viel später ins Bewusstsein rücken. Das dichte Haar, zum Beispiel, mit den leicht aufgetürmten Stirnfransen, die doch nichts anderes waren, als der rührende Versuch, mit der Mode der Zeit zu gehen. Obwohl doch die Einheit von Wangen und Kinn so edel die Kontur markierten. Die
Kontur dessen, was von so etwas Nebensächlichem wie der Zeit doch ohnehin nie und niemals zerstört werden konnte! Der Mund mit der nur in der Mitte leicht vorgewölbten Unterlippe, die so gekonnt die Spannung hielten zwischen erotischem Forscherdrang und der vornehmen Zurückhaltung eines Gentleman.
Die Symmetrie, die Absolutheit, dieses Gesichtes zog mich in seinen Bann. Es wirkte so heil und unberührt. Als wäre der Mensch dahinter, darin, noch niemals in die Stürme des Lebens geraten, als wäre er durch sein ganzes Leben hindurch vollkommen unverletzt bis zu diesem heutigen Zeitpunkt gelangt, an welchem wir uns trafen.
Auf dem Bürgersteig. Unmittelbar neben dem Eisernen Steg. An einem ungewöhnlich hellen Nachmittag im Dezember, an welchem die Sonne ganz eindeutig nicht begriffen hatte, dass die zahlreichen Buden und Stände sie so gar nicht vermissten. Es war der 20. Dezember. Vier
Tage vor Weihnachten und der Weihnachtsmarkt auf dem Römerberg hatte schon seit gut zwei Stunden geöffnet.
"Alles klar?", fragte ich und beugte mich eher neugierig als besorgt zu dem gut gekleideten Mann hinab, der da auf allen Vieren auf dem Bürgersteig herumkroch. Er musste vor mir gelaufen sein, doch erst als er so seltsam ins Schwanken geraten und keine drei Sekunden später in einer wirklich bemerkenswerten Verrenkung zeitlupenartig in die Tiefe gegangen war, war er mir aufgefallen.
Erstaunt musste ich feststellen, dass mich der Anblick seiner feingliedrigen Hand, die sich suchend über den Asphalt bewegte, nicht mehr losließ. Ich konnte nicht anders. Die Hand hatte es mir angetan. Ich musste hinsehen.
"Gleichhawichdich", nuschelte mir eine undeutliche Stimme von unten her entgegen. Ich bückte mich, um ihm zu helfen, bei was auch immer. Ich MUSSTE einfach in der Nähe dieser
Hand bleiben. Glühweingeruch wehte mir entgegen und ich begriff den Zusammenhang zwischen dem wenig akrobatischen Sturz und der verwaschenen Stimme. Ihr Besitzer hatte wohl schon sehr früh an diesem Tag Bekanntschaft mit dem Glühwein gemacht. Und dann, plötzlich - ich hatte ja bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht begriffen, was seine Hand da suchte - kam eben jener Schwung, aus dem eben noch im schwarzen Mantel verborgenen Handgelenk heraus, mit welchem er sich die Brille auf die Nase setzte. Jene Bewegung, die - völlig unberührt von seinem offensichtlichen Glühweingenuss - dennoch so perfekt saß, dass sie meinen Blick mitnahm. Mitten hinein in sein Gesicht, das mir - und wirklich nur mir - so viel zu erzählen hatte.
Und ich war verloren.