Töchter der Caluoc Fantasy – Roman von A.B. Schuetze
Impressum Texte:© Copyright by A.B. Schuetze Umschlag:© Copyright by A.B. Schuetze / Susanne Schmidt (Covergestaltung dank Fotos von https://pixabay.com/ ) ebook: neobooks.com
ISBN: wird im März nach Veröffentlichung nachgetragen
Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten
Mystic – Liebe – Fantasy „Salwidizer – ein Volk so alt wie die Zeit. Ihre Heimat ist Adanwe, eine Anderwelt. Ihnen wurden unermessliche Gaben zuteil, doch zu welchem Preis … “
Charlotte lebt bei ihrem Großvater. Als dieser einem Verbrechen zum Opfer fällt, erfährt sie von einem verhängnisvollen Geheimnis. Sie
beschließt, nicht daran zu rühren. Was gewesen ist, ist vorbei. Doch bei der Auflösung der Kanzlei ihres Großvaters fällt Charlotte ein Päckchen in die Hände, dessen Zustellung längst überfällig war. Kurzerhand macht sie sich auf, die Sendung der Empfängerin persönlich zu überbringen. Und genau dabei holt sie die Vergangenheit ihres Großvaters wieder ein. Nichts wird wieder so sein, wie es einmal war. „Sogar die Welt da draußen weiß, dass nichts mehr so sein wird, wie es einst war. Sie weint (nicht mehr) um das Gewesene. Es ist vorbei. Von nun an wird das Leben ein anderes sein.“
Charlotte Braun
Vorwort Glühende Funken stoben im Rhythmus der bebenden Erde in den wolkenfreien Nachthimmel und verwandelten sich dort in funkelnde Sterne, die den vollen Mond in einem silbernen Reigen umgaben. Männer, Frauen und Kinder saßen, sich wie in Trance wiegend und singend, im Halbkreis um ein Lagerfeuer. Ihnen gegenüber thronte auf einem Podest aus weiß polierten Knochen das Oberhaupt des Stammes. Die Königin. Tochter der Göttin Luruna. Trotz ihres hohen Alters ließ sich noch immer ihre einstmalige Schönheit erahnen. Über einem schlichten weißen Leinengewand,
welches sich eng um ihren schlanken Körper schmiegte, hatte sie einen knöchellangen Umhang aus Wolfspelzen gelegt. Statt einer Krone zierte der Kopf eines Wolfes das bereits ergraute Haar, welches ihr in üppigen Locken bis zur Taille reichte. Wie aus Stein gemeißelt, blickte die Königin stolz erhobenen Hauptes in die Ferne. Ihre tiefblauen Augen schienen nicht mehr in dieser Welt zu weilen. Zu ihren Füßen knieten beidseitig zwei Jünglinge auf allen Vieren, nur bekleidet mit einem Wolfspelz und einer Wolfskopfmaske. Junge Männer, ebenfalls in Wolfsfelle gehüllt, stampften tanzend zum Klang mehrerer Trommeln um das Feuer und stimmten im Einklang mit den beiden Jünglingen den Gesang der Wölfe an.
Der Mond, der wie eine riesige gelbe Scheibe am Himmel hing, schien sich allmählich blutrot zu färben. Aus den umliegenden Wäldern stieg träge aber stetig weißer Nebel auf, der die Lichtung einzuhüllen drohte. Die Luft kühlte merklich ab. Eiskalt kroch es den sieben Männern unter die sonst wärmende Outdoorbekleidung. Sie gehörten hier nicht her. Das wurde ihnen schlagartig klar. Wenngleich sie von der Bevölkerung freundlich und zuvorkommend aufgenommen wurden, … Vielleicht auch viel zu freundlich? Als ob man auf sie gewartet hatte. … sollten sie nicht länger hier verweilen, sondern ihre Sachen packen und sich umgehend auf den Weg hinab ins Tal
machen. Dort wurden sie ohnehin in zwei Wochen erwartet. Henry stieß leicht Sebastian an. „Wir müssen sehen, dass wir von hier verschwinden, so lange wir es noch können. Ich habe ein ganz mulmiges Gefühl. … Wir sind hier in irgendein Ritual hineingeraten. … Ich weiß auch nicht. Sag den anderen Bescheid.“ Flüsternd und ohne Aufmerksamkeit zu erregen, gab der Jüngere die Nachricht an die anderen weiter. Auch diese hatten die Wirkung des Gesanges und Tanzes gespürt. Es lag etwas in der Luft. Sie sollten hier nicht sein. Das Dorf sollte hier nicht sein. Keiner hatte ihnen gesagt, dass sie auf dem Weg durch die Wildnis auf Eingeborene oder wie auch immer man diesen wild lebenden
Stamm bezeichnen mochte, treffen würden. Stets war nur von Outdoor-Sport als Auseinandersetzung mit der Natur, Selbstüberwindung und Abenteuer mit seinem Nervenkitzel und Risiken in einem Gebiet weitab der Zivilisation die Rede. Dabei sollten sie für naturwissenschaftliche Forschungen des Instituts, welches die Unternehmung finanzierte, verschiedene Messungen durchführen sowie Proben von Flora und Fauna sammeln. Dann stand da plötzlich dieses Dorf vor ihnen. Einfach aus dem Nichts. Ein ganzes Dorf. In keiner Karte verzeichnet. Wie aus dem Boden gestampft. Der Nebel hatte mittlerweile das Dorf und den
umliegenden Wald vollkommen verschluckt und rund um den Schauplatz haltgemacht. Er wuchs nun wie eine undurchdringliche Wand zum Himmel empor. Abrupt schwiegen die Trommeln. Der Gesang der Wölfe verstummte. Absolute Stille legte sich über die Landschaft. Eine Stille, in der jede Bewegung eingefroren zu sein schien. Selbst die Flammen des lodernden Lagerfeuers erweckten den Eindruck, erstarrt zu sein. Majestätisch erhob sich die Königin. Sie erstrahlte in einem gleißenden Licht. Mit nach oben geöffneten Händen streckte sie die Arme nach vorn und schuf einen hellen, leuchtenden Tunnel in den Nebel hinein. „Hohe Göttin Luruna, das Volk der Caluoc hat
sich heute hier versammelt, um dir einen jungen Mann zuzuführen, dessen Samen uns eine neue Königin an meiner Statt aus deinem Schoße schenken möge. Sei uns gnädig und beehre uns …“ Beim Klang der sanften jedoch zugleich mystischen Stimme der im Licht stehenden Frau standen den Fremden alle Haare zu Berge. Es war höchste Zeit für den Rückzug. Henry gab das Zeichen. Zum Glück achtete keiner der Eingeborenen auf sie, denn aller Augen waren auf das Licht im Nebel gerichtet. Die Freunde nutzten die Situation und entfernten sich Schritt um Schritt seitwärts von diesem Schauspiel in den Nebel hinein. Sebastian starrte reihum und hielt Ausschau nach seinem Bruder. Der stand ganz vorn in
der ersten Reihe. „Thomas!“, zischte Sebastian ihm zu. „Thomas! Los jetzt! Lass uns gehen! Komm schon!“ Doch Thomas winkte nur verärgert ab und verfolgte voller gespannter Erwartung das Geschehen. Er wollte, nein, er musste einfach wissen, auf wen diese Menschen warteten. „Thomas bitte! Die anderen sind schon auf dem Weg!“, drängte Sebastian ungeduldig seinen Bruder. „Geht einfach. Ich komme nach“, murmelte dieser geistesabwesend und schritt wie magisch angezogen dem Lichtschein im Nebel entgegen. Sebastian sah sich hilfesuchend nach Henry um, der nur machtlos mit den Schultern
zuckte, ihn am Ärmel packte und mit sich zog. Ohne von jemandem wahrgenommen zu werden, verschwanden sie im Nebel. Ein letztes Mal noch schaute Sebastian zurück und sah seinen Bruder mit einer Erscheinung, die aus dem Licht trat, verschmelzen.
Erinnerungen Nichts war mehr, wie es sein sollte. Kein Grün. Kein Bunt. Kein Weiß. Wie trauernde Zeugen standen die Bäume des kleinen Wäldchens trostlos hinterm See. Sie fügten sich einfach in das triste Erscheinungsbild der Landschaft. Es bot ein Grau in all seinen Schattierungen, das jegliches Leben auf Erden zu verschlingen schien. Solidarisch hatte sich der Himmel ein schlichtes graues Gewand übergeworfen, aus dem seit Stunden Regentropfen herabfielen und kleine Kreise auf die Wasseroberfläche des Sees zeichneten. Diese wurden größer und größer, kreuzten wiederum andere
Kreise, teilten sie oder sich selbst und endeten letztlich in peripheren Wellen, die kaum die Kraft bis ans Ufer besaßen. Überhaupt machte die Natur den Eindruck, nicht die Energie und den Willen aufbringen zu wollen, der Jahreszeit gerecht zu werden. Es war Januar. Winter. Wie lange ist es her, dass sich Mutter Erde unter meterhohem Schnee ausgeruht und auf neues Leben vorbereitet hatte? Wann hatten die Bäume das letzte Mal unter der schweren Decke aus Schnee gestöhnt? Es scheint eine Ewigkeit her zu sein, damals als der See noch mit einer dicken Eisdecke zum Schlittschuhlaufen eingeladen hatte. Die junge Frau blickte traurig hinaus auf den See. Ein Seufzen entrang sich ihrer Brust.
Fast schon waren die Erinnerungen an eine glückliche Zeit verblasst …
Weithin ist das freudige Kreischen zu hören. Lachend liegt das kleine Mädchen bäuchlings auf dem Schlitten, sich an dessen Hörnern festhaltend, und schießt über das Eis, um sich dann wie ein Kreisel zu drehen. Sie liebt es, mit ihrem Vater Schlittendrehen zu spielen. Für den durchtrainierten Mann mit den ewig traurigen Augen ist es jede Mühe wert, sich um seine Achse zu drehen und den Schlitten somit in eine kreisende Bewegung zu bringen. Wenn das Gefährt dann mit Schwung lossaust, er das glückliche Jauchzen seiner Tochter hört und ihr strahlendes Gesicht sieht, legt sich ein wehmütiges
Lächeln um seinen Mund. „Bastian! Charlie! Treibt es nicht zu wild.“ Beide drehen sich zum Haus um und winken der schönsten und liebsten Person der Welt, die auf der Terrasse damit beschäftigt ist, die hohe Blautanne vom Weihnachtsputz zu befreien. „Ma … maaa! Schau! Ich fliie … ge!“, jubelt die Kleine und breitet die Arme aus. Ihr Vater hebt sie vom Schlitten und wirbelt sie durch die Luft. Sein tiefes Lachen und die glockenhelle Stimme seiner Tochter klingen weithin über den See. „Du bist schon von Konstantin zurück?“ Urs hauchte einen flüchtigen Kuss in ihr rotbraunes Haar. Es erinnerte an das Fell
eines Eichhörnchens. Charlotte nickte, ohne sich umzuschauen. Unverwandt ließ sie ihren Blick über den Wald, den See und den Garten schweifen. Die Bilder ihrer Vergangenheit, die soeben als Film in ihrem Kopf entstanden waren, lösten sich in Nichts auf. Leicht fröstelnd legte sie die Arme um sich. „Sogar die Welt da draußen weiß, dass nichts mehr so sein wird, wie es einst war. Sie weint um das Gewesene. Es ist vorbei. Von nun an wird das Leben ein anderes sein.“ Urs konnte kaum verstehen, was Charlotte sagte. Er wollte schon fragen, als sie sich zu ihm umdrehte und er das Meer von Tränen in ihren großen Augen sah, die die gleiche Farbe wie ihr Haar besaßen.
Das Leben, so wie es Charlotte bisher gekannte hatte, war endgültig vorbei. Der Besuch bei Konstantin war der vorletzte Schritt gewesen. Die junge Frau blinzelte ihre Tränen fort und streichelte mit einem scheuen Lächeln die Wange ihres Freundes. „Ist schon gut Urs. Es wird schon irgendwie weitergehen. Es muss einfach. … Es ist ja nicht so, als ob es das Schicksal nur schlecht mit mir meinte. Ich könnte bettelarm sein und obdachlos und unheilbar krank oder was weiß ich … Aber so bin ich nur die Letzte einer uralten Familie … Meiner Familie.“ Mit seinen wasserblauen Augen blickte Urs durch seine kleine runde Brille mit dem schwarzen Metallgestell und musterte die
Enkelin seines verstorbenen Chefs ob der Ernsthaftigkeit ihrer Aussage. Betroffen fuhr er sich mit der Hand durch sein strohblondes struppiges Haar. Schüttelte dann aber nur fassungslos den Kopf. So durfte sie nicht denken. Urs kannte Charlotte schon seit beinahe zehn Jahren. Bereits nach seinem ersten Staatsexamen hatte er von der theoretischen Juristerei die Nase voll. Ein Master of Laws war gerade noch drin gewesen. Doch dann wollte er endlich seine Brötchen allein verdienen und hatte sich in der Kanzlei Schröder&Partner beworben. Damals war Henry Schröders Partner noch dessen Schwiegersohn
Sebastian Braun, Charlottes Vater, gewesen. Gott, es hatte ihm bei seinem ersten Besuch in dieser Villa fast die Sprache verschlagen. Lange stand er mit seinem Wagen vor dem schmiedeeisernen Tor, welches sich nach einer gefühlten Ewigkeit automatisch öffnete. Die Einfahrt führte einige Meter bergab bis direkt auf einen Parkplatz vor einen Garagenblock. Eigentlich hatte Urs an den Pforten der Villa einen großen Eisenring im Maul eines Löwen zum Läuten und einen Butler, der die Tür öffnet, erwartet. Doch eine Video-Gegensprechanlage entsprach dann wohl mehr den modernen Standards und statt eines Angestellten im Livree hatte ihn Linda, eine attraktive Blondine Mitte Dreißig, in der
großen Vorhalle empfangen. „Schauen Sie sich in Ruhe um, Herr Förster. Mir erging es vor Jahren nicht anders“, begrüßte sie ihn lachend. Eine Freitreppe führte hinauf auf eine Galerie ins erste Obergeschoss. Die zweite und dritte Etage waren von hier aus nur über eine kleine Wendeltreppe oder einen Fahrstuhl zu erreichen. In der Halle befand sich eine Garderobe für die Familie als auch für Klienten. Eine Sitzecke und ein Empfangstresen sowie zwei Schreibtische hinter dem Tresen vervollständigten das Mobiliar. Und obwohl die Eingangs- und Empfangshalle sehr großzügig gestaltet war, wirkte sie keineswegs kalt oder gar unpersönlich. Man fühlte sich sofort gut
aufgehoben. Dann war plötzlich neben ihm ein kleines Eichhörnchen aufgetaucht und hatte ihn mit seinen seltsam braunen Augen angeblinzelt. „Hi. Ich bin Charlotte. … und du bist Urs, stimmts? Hm … komm mit.“ Sie nahm ihn lachend an der Hand und zog ihn ganz stolz hinter sich her. Das Mädchen veranstaltete für ihn eine Art Besichtigungstour durch das „Schröder-Imperium“. Es war ein herrschaftliches Haus. Zur Garten- und Seeseite bestand es überwiegend aus einer Glasfront. Freier Blick nach Westen über den See und den angrenzenden Wald. „Schau … und das ist unser Fitness-Keller mit Studio und Schwimmbad. Pass auf!“ Charlotte, von Familie und Freunden auch
Charlie gerufen, hatte ihn die Treppe hinuntergezerrt. Sie durchquerten die lichtdurchfluteten Kellerräume und betraten durch eine per Fernbedienung geöffnete große Fensterfront den Garten, dessen Rasen bis hinunter zum See reichte. Urs war in der Tat die Kinnlade heruntergeklappt. Das konnte nur ein Traum sein. Er, der aus einfachen Verhältnissen kam und sein ganzes Leben in einem Plattenbau verbracht hatte, kam aus dem Staunen nicht heraus. Mit einem verschmitzten Grinsen hatte ihn das Mädchen beobachtet. „Urs? … ich freue mich, dass du für meinen Grandpa arbeitest.“ Dann war sie lachend davongeflitzt. Das war Urs' erste Begegnung mit dem
Sonnenschein im Hause Schröder&Braun. Mit Charlotte. Seither war er für alles, was mit Tasten, Display und Speichern zu tun hatte, der Ansprechpartner. Er galt schlechthin als das technische Faktotum der Kanzlei. Wer wissen wollte, was wann wo geschah, was wo stand, wer wann welchen Termin mit wem hatte … der fragte Urs. Programme schreiben, technische Wartungen, Updates, Aktualisierungen … Urs wusste Bescheid. Er ging in seiner Tätigkeit, seiner Berufung auf und war nicht selten Tag und Nacht erreichbar. So war es auch nicht verwunderlich, dass man ihn nach kürzester Zeit zur Familie zählte. Zu einer großartigen, warmherzigen
Familie, in der jedoch eine immerwährende unterschwellige Trauer zu spüren gewesen war. Doch sobald Charlotte anwesend war, erstrahlte alles in einem hellen Licht. Sorgen, Probleme und Misslichkeiten verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Oftmals hatten sich Henry und Sebastian eine kleinen Spaß gestattet und ließen Charlotte bei wirklich schwierigen Verhandlungen mit Klienten zugegen sein. Irrsinnigerweise waren die Resultate nicht von der Hand zu weisen gewesen. Dieses Kind hatte auf irgendeine mystisch geheimnisvolle Art einen positiven psychischen Einfluss auf die Verhandlungsparteien. Charlotte war ein Sonnenschein. Doch von einem auf den anderen Tag hatte
sich alles geändert. Charlottes Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Die Ursache, weshalb Sebastian die Kontrolle über seinen Wagen verloren hatte, ein Brückengeländer durchbrach und in die Tiefe gestürzte war, ist niemals lückenlos aufgeklärt worden. Es war und blieb ein mysteriöser Unfall, bei dem vieles nicht zusammengepasst und auch der Polizei ein Rätsel aufgegeben hatte. Für die damals Dreizehnjährige war eine Welt zusammengebrochen. Sie hatte ihre wunderschönen Eltern abgöttisch geliebt. „Wenn ich einmal erwachsen bin, dann heirate ich dich, Papa … und Mama hat dann ja noch Opa Henry“, hatte sie immer gesagt und allen einen dicken Schmatzer
aufgedrückt. Und dann war dieser schöne Traum wie eine Seifenblase geplatzt. Hatte sich einfach in Luft aufgelöst. Charlotte verstand die Welt nicht mehr. Warum holte der liebe Gott ausgerechnet ihre Eltern? Sie hatten doch niemandem etwas getan. Auf die Seele der Kleinen legte sich ein Schatten, der dem Licht in ihr etwas an Helligkeit nahm. Henry gab ihr so viel Trost und Zuwendung, wie er selbst entbehren konnte. All seine Liebe floss in das junge Mädchen. Jedoch zog er sich von da an immer mehr in sich selbst zurück. Es schien, als lebte er nur noch für seine Enkelin Charlotte, die bei ihm aufwuchs. In dieser schlimmen Zeit war Urs wie ein großer Bruder. Immer für den Teenager da. Er verbrachte seine gesamte Freizeit mit ihr.
Kino. Tanz. Reisen. Sie paukten zusammen fürs Abitur. Er hielt ihr das Händchen bei der Aufnahmeprüfung an der Uni. Sie waren unzertrennlich. Urs verlor in diesen Jahren immer mehr sein Herz an die junge Frau, die sie geworden war und hätte sich mehr als nur Freundschaft gewünscht. Aber für Charlotte war und blieb er der große Bruder. Der allerbeste Freund. Im Laufe der Jahre hat sich wieder eine eine gewisse Art Normalität eingestellt. Das Leben ging weiter. Bis dann vor sechs Wochen das Unfassbare geschah. Henry war auf offener Straße überfallen und tödlich verletzt worden. Nach Aussage von Augenzeugen waren die Täter eine Gruppe maskierter Jugendlicher. Die Polizei hingegen
bezweifelte, dass es so einfach sein sollte. Das Seltsame war, Henry wurde nicht ausgeraubt, sondern scheinbar gezielt getötet. Auch waren die benutzten Waffen alles andere als alltäglich in der kriminellen Szene. Charlottes Großvater wurde mit einer Wolfsklaue die Brust und die Kehle aufgerissen. Das wiederum brachte die Kripo in Zusammenhang mit dem Tod von Charlottes Vater und vier weiteren seltsamen Unglücksfällen der letzten sechs Jahre, die alle eines gemeinsam hatten … rätselhafte Spuren, die auf Wölfen hinwiesen. „Frau Braun. Sie haben unser tiefstes Mitgefühl, doch wenn Sie wollen, dass wir den Tod an Ihrem Großvater aufklären sollen, sind wir auf Ihre Hilfe angewiesen. Kennen Sie die
anderen vier Männer? Wissen Sie, wie diese zu Ihrem Vater und Großvater standen? Schauen Sie sich die Fotos an und sagen Sie uns …“ Länger als eine Stunde befragten die Beamten Charlotte, nur um keinen Schritt weiter gekommen zu sein. Dieses Gespräch hatte Charlotte gänzlich verändert. Gefasst und mit ausdruckslosem Gesicht war sie nach Hause gefahren und hatte angefangen, sich um die organisatorischen Dinge in Sachen Beerdigung zu kümmern. Keiner wusste, wie es in ihr aussah. Sie sprach kein Wort. Sie weinte nicht. Sie suchte keinen Trost. Stoisch brachte sie die Tage hinter sich. Nach der Trauerfeier schloss sie sich in ihrem Zimmer ein.
Charlotte war schon immer sehr zierlich und als sie sich nach mehreren Tagen wieder in der Öffentlichkeit hatte sehen lassen, war sie kaum mehr ein Strich in der Landschaft gewesen. Blass und mit dunklen Ringen unter den geröteten Augen hatte sie die Belegschaft der Kanzlei zusammengerufen, die da aus Urs, Linda und Regine bestand. „Leute, es tut mir leid, dass alles so gekommen ist und ich will euch von ganzem Herzen danken, dass ihr trotz meiner … sagen wir geistigen und körperlichen Abwesenheit …“ Ein zaghaftes Lächeln war über ihr Gesicht gehuscht. „Also, dass ihr trotz allem den Betrieb am Laufen gehalten habt und immer für unsere Klienten da wart. Doch so leid es mir tut … das war es dann
aber auch mit der Kanzlei. … Ihr könnt bis nach Neujahr bezahlten Urlaub nehmen. Ich selbst werde wegfahren.“ Und noch bevor Urs Einspruch erheben konnte, hatte sie sofort hinzugefügt: „Allein, Urs. Ich weiß, du bist mir ein Bruder, ein Freund. Aber diese zwei Wochen brauche ich nur für mich allein. … Und für alle anderen … Ich werde gleich nach Neujahr mit Konstantin reden. Er war Henrys bester Freund und in den letzten Jahren sein stiller Partner. Ich bin mir sicher, er wird alle Mitarbeiter und Klienten übernehmen. … Linda … Regine … Urs … ich wünsche euch schöne Feiertage im Kreis eurer Lieben … und wir sehen uns im Januar wieder.“ Schnell hatte sich Charlotte umgedreht und war im Fahrstuhl verschwunden, der sie in
den Privatbereich des Hauses brachte. Verwirrt waren die Angestellten im Büro des Chefs der Kanzlei Schröder&Partner zurückgeblieben. Keiner hatte gesehen, was es sie an Kraft kostete, diese Aufgabe hinter sich zu bringen. Erschöpft war sie an der Fahrstuhlwand zu Boden gesunken und wieder wurde ihr Körper von Weinkrämpfen geschüttelt. Aber Urs hatte es damals gewusst, es wie so oft gefühlt, und konnte ihr dennoch nicht helfen. Außer immer für sie da zu sein, wenn sie ihn brauchte. So, wie in diesem Moment, als sie ihn so ohne Hoffnung anschaute. Noch immer musterte er Charlotte und schüttelte fassungslos den Kopf. „So darfst
du nicht denken Schatz. … Komm her an die starke Brust deines Bruders.“ Schon allein bei dieser Bemerkung musste die junge Frau lächeln. Von einer starken Brust konnte auch bei wohlwollender Betrachtung keine Rede sein. Trotzdem legte sie ihren Kopf an seine Schulter und holte sich tröstende Streicheleinheiten ab. Sie wollte eigentlich nicht schon wieder schwach sein, doch was sollte sie machen. Jeder Funken Trost entlockte ihr eine weitere Träne. Mit einem Kloß im Hals murmelte sie in seine Halsbeuge: „Du hast ja recht. Ich sollte so nicht sprechen. Ich habe Freunde … sehr liebe Freunde, die alles für mich machen würden. Alles, damit ich glücklich bin.“ Charlotte schaute in Urs' zärtliche Augen, die
stillschweigend auf ihr ruhten. „Seit ich von Konstantin zurück bin, stand ich hier am Fenster. Es ist, als wüsste der Wald, der See und der Garten, dass es ein Abschied ist. … und das macht es mir um so schwerer. … Ja, es wird nicht von heute auf morgen geschehen, aber doch in absehbarer Zukunft. Du weißt, ich kann das Haus allein nicht halten. Ich werde …“ Charlotte atmete tief durch. Es fiel ihr nicht leicht, Urs ihre Entschlüsse mitzuteilen, denn er würde sie bestimmt davon abringen wollen. „Ähm … lass uns hinsetzen und dann erzähle ich dir, was ich mit Konstantin besprochen habe.“ Urs führte sie hinüber zur Couch der gemütlichen Sitzecke aus dunkelbraunem
weichem Nappaleder und wollte sich ihr gegenüber in einen der Sessel setzen. Als er sah, wie Charlotte mit sich rang, suchte er ebenfalls auf der Couch einen Platz. Er nahm ihre Hände in die seinen und schaute sie aufmunternd aber zugleich auch fragend an. Von dem Gespräch mit Konstantin hing aller Zukunft ab und so war es nicht verwunderlich, dass Urs doch innerlich stark angespannt war. Konstantin übernahm alle Mitarbeiter der Kanzlei, sowie alle Klienten. Bis Mitte Januar sollte alles für den Umzug vorbereitet sein. Was das Interieur des Büros betraf, so wollte Charlotte dies nicht unbedingt aus dem Haus entfernen lassen. Es war eigens für diese speziellen Räume geschaffen worden und kam auch nur in diesen so richtig zur
Geltung. Wehmütig blickte sie sich im Raum um. Rechts neben der Tür waren Schränke aus Kirschholz in die Wand eingelassen, deren Türen mit kunstvollen Intarsien unterlegt waren. In der Ecke davor stand ein riesiger Schreibtisch mit unzähligen Schubladen. Immer wenn sie in dem schweren Stuhl dahinter Platz genommen hatte, war sie kaum noch zu sehen gewesen. „Soll ich dir ein Kissen holen, Krümelchen, damit du auf die Tischplatte schauen kannst?“, hörte sie ihren Großvater sagen, der in der Couchecke gegenüber dem Schreibtisch direkt vor einer großen Fensterfront saß, in einem seiner Bücher las und sie über seine Brille hinweg beobachtete.
Aber Charlotte schüttelte die Bilder ihrer Erinnerung ab. Krümelchen. Dabei befand sie, mit ihren eins fünfundsechzig hatte sie eine gute Größe. Bei großen Männern ging sie als kostbares Handgepäck durch und auch bei kleineren fand sie noch eine tröstende Schulter zum Anlehnen. Seufzend wanderte ihr Blick weiter. Neben der Couch füllte ein deckenhohes Bücherregal die gesamte Front zwischen Schränken und Fenster aus. Gegenüber davon, auf der anderen Seite des Raumes befand sich eine Bar mit Tresen und Hockern, gefüllt mit den edelsten Tropfen für das Besiegeln von Abschlüssen. Wer würde wohl jetzt seine Abschlüsse hier begießen oder sich einen Schluck zum Feierabend genehmigen? Ja,
wer weiß. Vielleicht wollte der neue Eigentümer der Villa auch gar nicht diese Einrichtung übernehmen. Dann würde sich Charlotte etwas einfallen lassen müssen. Doch bis dahin hieß es, erst einmal einen Käufer für das Anwesen zu finden. Konstantin wollte einen Makler damit beauftragen und überwachen, dass für die Enkelin seines alten Freundes auch genug dabei heraussprang. Als Urs hörte, dass das Anwesen verkauft werden sollte, zog er scharf die Luft ein. Hatte sich das Charlotte wirklich gut überlegt? Sicher, allein kann sie die Villa nicht unterhalten und doch. Das Haus und das große Wassergrundstück gehören seit
mehreren Generationen ihrer Familie.
Grundsolide gebaut und die Innenarchitektur … extravagant, was teilweise auch von außen zu erkennen ist. Sicher, es ist bestimmt der Renner auf dem Immobilienmarkt. Und doch … Urs hoffte, der Verkauf würde sich noch hinziehen und es ergäbe sich vielleicht eine andere Lösung. Besorgt sah er Charlotte an und wusste, so schwer es ihr auch fallen mochte, sie wollte einen Schlussstrich ziehen und einen Neuanfang wagen. Behutsam führte er ihre Hände an seine Lippen und hauchte zärtlich einen Kuss darauf. „Ach Prinzessin. Dann wollen wir die Sache mal angehen. Ich stehe dir zur Verfügung, so lange du mich brauchst.“ Schweren Herzens zog er seine kleine
Schwester näher an sich heran und blickte sich mit einem gewissen Bedauern im Büro um. Dabei fiel sein Blick auf ein edel geschnitztes Holzkästchen, das auf dem Schreibtisch stand. „Was hast du denn da mitgebracht?“ Seine Neugier war geweckt. Ohne auch nur hinzuschauen murmelte Charlotte: „Die hat Henry für mich bei Konstantin hinter.
Henrys Vermächtnis Da stand es. Ein kleines Rosenholzkästchen mit kunstvoll handgeschnitzten Blütenmotiven, dessen Facetten die unregelmäßig rötliche Maserung des Holzes auf eine besondere Art zur Geltung brachten und die Knospen und Blätter beinahe zum Leben erweckten. Es ist schon ein besonders schönes Stück. In Sammlerkreisen mag das Kästchen vielleicht ein hübsches Sümmchen einbringen. Aber kaum so wertvoll, dass Großvater es bei Konstantin hinterlegen musste? Dann kann ja nur der Inhalt von Wert sein. Aber was sollte Henry mir wertvolles hinterlassen? Was konnte so wichtig sein, dass er Dritten zur Aufbewahrung übergeben musste?
Charlotte betrachtete argwöhnisch den kleinen Kasten. Sie mochte da nicht hineinschauen. Schon der Gedanke verursachte ihr Bauchschmerzen. „Was ist? Willst du denn gar nicht wissen, was da drin ist? … Charlie?“ Urs war neben seine Freundin getreten und trampelte von einem auf den anderen Fuß. Er platzte beinahe vor Neugier. Der junge Mann kannte Henry als offenen Menschen und keineswegs als Geheimniskrämer. Immer hatte er alles sowohl mit Charlotte als auch seinen Angestellten besprochen. Alle wussten über die Vorkehrungen bezüglich der Kanzlei Bescheid, sollte seine Enkelin sie nichtübernehmen wollen oder können. Genau
so lag sein Testament in seinem Tresor, welches Charlotte als Alleinerbin benannte. Sie war die Letzte der Familie. Charlotte musste immer über seine Maßnahmen für den Todesfall, wie er es nannte, lachen. Bestimmt ein paar Tausend Mal hatte er ihr alles erklärt und gezeigt. Sicher, er war Charlottes Großvater, aber mit seinen Worten gesprochen >noch immer fit wie ein Turnschuh und keineswegs zum alten Eisen gehörend<. Und nun stand da dieses Kästchen. Mensch Henry. Was hast du dir bloß dabei gedacht? Du musstest doch wissen, dass Charlie ein solch geheimgehaltener Nachlass aus den Latschen wirft. Urs schüttelte leicht verwirrt den Kopf.
Charlotte dagegen starrte das Kästchen an, als ob es ihr jeden Moment in den Schoß springen würde. Sie nahm Urs und seine Neugier gar nicht richtig wahr. Eher beschäftigte sie ein Gedanke, eine Frage. Welches dunkle Geheimnis bewahrte Henry in dieser Schatulle auf? Von Konstantin wusste sie, dass Henry ihm das Kästchen schon vor Jahren zur Aufbewahrung anvertraut hatte. Er sollte im Fall des plötzlichen Ablebens seines Freundes diese Kassette dessen Enkelin aushändigen. Ein paar Mal verlangte er sie wohl noch zu sehen, gab sie aber wenig später immer wieder zurück. Die kleine zierliche Frau rang ihre Hände, verknotete ihre Finger und sah hilfesuchend zu Urs. „Ich weiß nicht. Mir ist richtig schlecht.
Ich mag eigentlich gar nicht wissen, was in dem Kästchen ist. Was, wenn es mir so gar nicht gefällt? Ich habe so ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache.“ Sie konnte sich drehen und wenden, man sah es ihr an. Sie wollte es wirklich nicht wissen. Urs legte Charlotte seinen Arm um die Schulter und führte sie zurück auf die Couch. „Mann, Mädchen. Du bist ja ganz blass und zitterst wie Espenlaub. Dich macht das wirklich nervös, oder? … Setzt dich und beruhige dich erst mal. Was soll denn schon in so einem kleinen Kästchen drin sein. Bisschen Schmuck. Vielleicht ein paar Briefe. … Komm schon. … Komm schon. Setz dich. Ich hole jetzt das Ding her und dann schauen wir gemeinsam.“ Urs wusste zwar, dass die letzten
Wochen Charlotte ganz schön zugesetzt hatten, doch dass dieses Kleinod sie so aus der Fassung zu bringen vermochte, wollte und konnte er nicht verstehen. Er nahm das Kästchen und betrachtete es interessiert von allen Seiten. An der Vorderseite war ein seltsames Schloss und bei genauerem Hinsehen stellte Urs fest, dass es sich im Deckel befand, der etwa ein Fünftel der Höhe des Kästchens ausmachte. Doch einen Schlüssel gab es nicht. „Charlie? Hast du einen Schlüssel in Henrys Unterlagen gesehen? Hat er irgendwo einen hinterlegt? Ähm … und der sollte schon etwas ungewöhnlich ausschauen. Also nicht so was ganz Gewöhnliches. Sonst bekommen wir nämlich die Schatulle nicht auf.“
Erwartungsvoll blinzelte Urs Charlotte an. Sein Blick schien zu sagen, na komm schon. Erinnere dich. Sie zuckte aber nur mit den Schultern. Kein Schlüssel. Also auch kein Öffnen des Kästchens. Das wäre doch ein Wink des Schicksals. „Charlie!“ Oh! Mit Nachdruck. Ja, den Ton kannte sie. Urs war ungeduldig und da ließ er nicht mit sich handeln. Charlotte rollte mit den Augen und gab sich geschlagen. „O...kay. Schau im oberen linken Schub nach“, meinte sie kleinlaut und zeigte auf den Schreibtisch ihres Großvaters. „Da liegt so ein seltsames altes Monstrum von einem
Schlüssel. Habe mich schon darüber gewundert. Wahrscheinlich gehört er zur diesem Ding da.“ Charlotte hätte niemals gedacht, dass es zu diesem Schlüssel überhaupt ein Schloss gab. Doch nun hielt Urs ihn in der Hand und inspizierte den fast zwanzig Zentimeter langen Hohldorn mit einem überraschend einfachen Bart. Der Griff mit Schnörkeln, die sich um ein kunstfertiges Blütenmotiv rankten, machte den Schlüssel zu einem Hingucker, zu etwas ganz Besonderem. Samt Kästchen und Schlüssel setzte er sich neben Charlotte, die wie ein ängstliches Mäuschen in der Sofaecke kauerte. „Na komm schon. So schlimm wird's schon nicht werden. Hinterher lachst du darüber. … Also?
Möchtest du? Oder soll ich?“ Damit hielt ihr Urs das Kästchen und den Schlüssel hin. Mit klammen Fingern griff Charlotte danach. Die aufmunternden Worte konnten sie in keiner Weise beruhigen. Das mulmige Gefühl war da und wollte auch nicht weichen. Zögerlich steckte sie den Schlüssel in die Öffnung. Nicht weit, dann stieß er auf ein Hindernis. Ratlos blickte sie auf. „Versuch ihn zu drehen. Ist zwar seltsam, dass er nicht weiter reingeht. Aber wer weiß.“ Charlotte versuchte es im Uhrzeigersinn. Nichts. Entgegengesetzt? Eine halbe Drehung und ein Klick. Dann verschwand der Schlüssel bis zum Gelenk im Schloss. „Ist ja irre. Das scheint doch tatsächlich so etwas wie ein Sicherheitsschloss zu sein. Den
Mechanismus muss ich mir dann genauer anschauen“, begeisterte sich Urs. Er war eben ein Technikfreak. Ihn interessierte weniger der Inhalt der Schatulle, als vielmehr der komplizierte Schließmechanismus. Komm schon. Mach Mädchen. Los. Schneller. „ … und jetzt nochmals drehen. Im Uhrzeigersinn.“ Und während Charlotte sich kaum zu bewegen wagt, fiel es Urs schwer, nicht wie ein Floh auf und nieder zu hüpfen. Aufregung. Begeisterung. „ … und? Was? Geht es zu öffnen? … Charlie! Nun mach schon!“ Langsam bewegte Charlotte den Schlüssel rechts herum. Ein Klacken und der Deckel sprang einen Spalt auf. Sie konnte gar nicht so schnell gucken, wie Urs den Deckel
aufklappte und ein enttäuschtes Gesicht machte. Natürlich! Nichts zu sehen. Hätte ich mir ja auch denken können. Eine mit rotem Samt bezogene Zwischenwand verhinderte den Blick auf den Schließmechanismus. Dann fiel sein Blick auf den Inhalt, der seiner Freundin so viel Angst machte. Zu oberst lag da ein Brief. >Für mein Krümelchen< stand in Henrys Handschrift geschrieben. Des weiteren eine Folie mit Zeitungsartikeln. Anscheinend chronologisch sortiert, denn obenauf lag ein Bericht vom vergangenen Jahr. Einige wenige Familienfotos und … „Was sind denn das hier für Leute? … Oh. Hier ist mein Paps … und Henry.“ Charlotte sah die Fotos flüchtig durch. Eine Gruppe von
Männern irgendwo in der Wildnis. Wahrscheinlich eine Expedition. Vorerst desinteressiert legte sie die Bilder zur Seite. Neugierig lugte Urs in die nun schon fast leere Schatulle. Was ist denn das? Also doch Schmuck. Ich hab's gewusst. Der ist bestimmt sehr wertvoll. Unter all den Papieren lag ein Säckchen aus schwarzem Satin. Ein schmaler Zettel schaute aus der Öffnung heraus. Charlotte zupfte daran und las: >Sie war einfach da. Sie hat dich gefunden. Sie wird dir Glück bringen. < Seltsame Worte. Wessen Schrift ist das denn? Nicht die von Großvater. Dann fiel eine Kette aus dem Etui. Der Anhänger war eine filigran gearbeitete Fassung mit einem walnussgroßen orange-roten Stein. So etwas
hatte Charlotte noch nie gesehen. Ihre Augen weiteten sich. Ehrfurchtsvoll strich sie über das Schmuckstück. In dem Moment, als ihre Finger behutsam den Stein berührten, ging ein Pulsieren durch ihn hindurch. Die Farben wurden intensiver. Sie schienen wie Feuer. Oh ja. Dieser Stein gehört zu mir. Ich habe ihn zum Leben erweckt. Er ist wunderschön und … magisch. Ich spüre seine Kraft durch mein Blut rasen. Was macht er mit mir? Ich fühle mich so … so … ich weiß auch nicht. Ich sollte ihn vielleicht wieder in das Säckchen packen, bevor … „Charlie? Alles in Ordnung mit dir?“ Urs rüttelte an ihrem Arm und holte sie aus ihren Gedanken zurück. Verwirrt sah sie Urs an. „Ich … ja? Sicher.
Was sollte denn nicht in Ordnung sein?“ Ein Blick auf die Kette und sie wusste instinktiv, diese hatte eindeutig Macht über sie. Aber eine gute Macht. Sie wurde von Energie durchströmt und fühlte sich viel vitaler und psychisch ausgeglichener als noch vor Stunden. Nur das sagte sie Urs nicht. „Diese Kette ist scheinbar das wertvollste in diesem Kästchen. Sie ist wunderschön. Findest du nicht auch? Ich werde sie immer im Andenken an Henry tragen.“ Sie legte die Kette um und musterte Urs skeptisch. „Was schaust du so?“ Der starrte sie, seit sie die Kette aus dem Futteral in den Händen hielt, unverwandt an. „Komm mit. Ich will dir was zeigen.“ Er zog Charlie hinter sich her bis vor einen
Spiegel. Da begriff Charlotte, sie musste es Urs nicht sagen, er sah es ihr an. Sie war nicht mehr so blass. Fast konnte man sagen, sie strahlt von innen heraus. Ihre Haut hatte plötzlich ein zartes Rosa angenommen und ihre Augen … das rötliche Braun ihrer Augen leuchtete in einem lange nicht mehr dagewesenem Glanz. Urs stand hinter ihr und betrachtete sie voller Liebe. Ja mein Schatz, diese Kette gehört dir. … und sie wird dir Glück bringen. Leider nicht mit mir. Wo auch immer dieser Stein her kommt, von da kommt auch der Mann, für den dein Herz einst schlagen wird. … und wehe, er weiß es nicht zu schätzen, dann bekommt er es mit mir zu tun. Er wusste nicht, woher das Wissen kam, nur dass er sich
dessen ganz sicher war. „Schau dich an. Du siehst toll aus. In dir war schon immer Magie. Aber was die Kette aus dir herausholt. Mädchen … du wirst dich vor Verehrern nicht mehr retten können. Mir bleibt dann nur noch, mich zu trollen. Leb wohl mein Schöne.“ Lachend fiel Charlotte Urs um den Hals. Dann bekam er für seine theatralischen Worte einen Nasenstüber. Sie zwinkerte amüsiert und hakte sich dann bei ihm unter. „Na dann komm mein Lieblingstroll. Lass uns die anderen Sachen noch durchschauen und vor allem Henrys Brief lesen. … Ach und übrigens, ich vertraue voll und ganz darauf, dass du immer auf mich aufpasst. Du bist und bleibst mein allerbester Freund, mein großer Bruder.“
Was ich niemals sein wollte. Mit einem leisen Seufzer küsste er Charlotte auf die Stirn und begleitete sie zurück ins Arbeitszimmer. Wieder in der Sitzlounge angekommen, griff Charlotte nach dem Brief ihres Großvaters. Der Stapel mit den Fotos der unbekannten Männer fiel dabei zu Boden und einige der Zeitungsartikel rutschten aus der Folie. Aus dem Augenwinkel erspähte Charlotte einen ihr nicht unbekannten Artikel. „Warum hat Henry diese Artikel gesammelt? Was wollte er denn damit? Schau!“ Charlotte nahm einen der Zeitungsausschnitte und zeigte ihn Urs. „Der Mann hier auf dem Bild … Der Kommissar wollte wissen, ob ich ihn kenne.“ Sie las schnell einige Zeilen. „Ja genau. Das ist der, der spät abends noch im Forst joggen
war und von einem angeblichen Wolfshund angefallen und tödlich verletzt wurde. Angeblich, weil … Die haben den nie gefunden. Und auch sonst war wohl alles sehr schwammig und unklar. Hier … Hier steht es. > … Von einem Obdachlosen, der des Nachts auf einer Bank am See kampierte, erfuhren wir vor Ort: „Ein riesengroßes Tier ist da hinten aus den Büschen gesprungen. Ich dachte schon, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. Aber das Biest hat mich Gott sei Dank nicht beachtet. Es jagte an mir vorbei, direkt auf den Kerl zu. Ein einziger Biss in die Kehle, dann war das Vieh weg und der Typ sackte einfach in sich zusammen. Mir graust immer noch davor. Das Ding hat ihn nicht mal umgeworfen. Einfach angesprungen, Biss und
weg war die Kehle.“ Obwohl wir sicher sein konnten, dass der Augenzeuge unter Schock das Geschehen übertrieb, fragten wir: „Was kann uns die Polizei dazu sagen?“ und „Kein Kommentar“, lautete die offizielle Antwort. Der Beamte verwies uns an die Pressestelle. Später. Doch wir sehen uns in der Pflicht, die Bevölkerung davor zu warnen, nach Einbruch der Dunkelheit den Forst aufzusuchen. Der Mörder auf vier Pfoten konnte nicht dingfest gemacht werden. … < Bla bla bla und so weiter. Das ist jetzt … drei Jahre her.“ Sie hielt Urs den Papierfetzen unter die Nase. „Sag's mir! Was wollte Henry damit? Was hatte er damit zu tun?“ Sich in die Polster zurückwerfend, richtete sie ihren Blick starr zur Decke und schnaufte vor sich hin. Ich
hab's gewusst. Ich hab's gewusst. Dieses Kästchen bringt uns nur Ärger. … und wahrscheinlich nicht nur mit der Kripo. Verdammt aber auch. Hätte ich doch nur den ollen Schlüssel weggeschmissen. Charlotte holte tief Luft und funkelte dann Urs herausfordernd an. „Nun mein Freund? Wie geht’s weiter? Irgendeine Idee?“ Urs nahm ihr kopfschüttelnd den Zeitungsabschnitt aus der Hand und überlegte. Er hatte doch das Gesicht schon gesehen. Aber wo? Dann wühlte er in den Fotos. Die Männer dieser Expedition. „Das ist doch der Mann. Viel jünger, aber definitiv der Selbe. Siehst du? Der hier bei Henry und deinem Vater. … und schau mal. Dieser neben deinem Dad … könnte fast sein
Zwillingsbruder sein.“ Nun betrachtete auch Charlotte die Bilder genauer. Urs hatte recht. Der Mann neben ihrem Paps sah wirklich aus, wie sein Zwilling. Das wird ja immer verworrener. Niemals war je die Rede von einem Bruder oder gar anderen Verwandten. Es hat aber auch nie jemand erwähnt, dass Paps und Großvater zusammen an einer Expedition teilgenommen hatten. … und überhaupt … Welche Expedition? Charlotte konnte sich nicht annähernd vorstellen, wie sich ihr Vater und Großvater durch die Wildnis kämpften. „Urs.“ Charlotte kam plötzlich ein abstruser Gedanke und sie wusste nicht, ob sie diesen weiter verfolgen wollte. „Wenn das wirklich eine Expedition gewesen ist … Oh Mann …
die Fotos … die Zeitungsartikel … Mein Vater ist tot. Henry ist tot. Der Mann aus dem Park … tot.“ Zwischen ihren hingeworfenen Wortfetzen wühlte sich Charlotte durch die Fotos und die Zeitungsausschnitte und sortierte sie zueinander. Das Ergebnis war erschreckend, beängstigend und gleichzeitig faszinierend. Zu jedem Gesicht auf den Fotos ihres Großvaters gab es eine Schlagzeile in der Presse. „Ich kann es nicht fassen. Jedes Jahr. Jedes Jahr ist einer von diesen Leuten gestorben. … Hier. Vor sechs Jahren meine Eltern. Ein Jahr später … der hier. Ein Tierschützer. Laut Berichten nahm er an einer Tierzählung im Yellowstone-Nationalpark teil. Ein Team erforschte dort den Lebensraum und die
Population der Wölfe. Er verschwand einfach über Nacht. Die Suche nach ihm blieb erfolglos. Seine Überreste wurden erst Wochen später von Wanderern gefunden.“ Urs wusste nicht, was er Charlotte antworten sollte. Egal was diese Männer miteinander verband, den Zeitungsberichten zufolge waren alle tot. Nicht einfach nur tot, sondern auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen und nicht einer der Todesfälle konnte restlos aufgeklärt werden. Er las den nächsten Artikel und betrachtete das dazugehörige Foto. „Ja. … und der hier war so ein Medienfutzi. Ist bei einer Reportage über die Rückkehr der Wölfe nach Deutschland ums Leben gekommen. Obwohl man ja sagt, dass Wölfe keine Menschen
angreifen … Der Gerichtsmediziner war der Überzeugung, die Kralle einer Wolfspfote im Herzen des Reporters gefunden zu haben. Wie auch immer die da hingekommen sein mochte. Die Polizei geht davon aus, dass Wölfe nicht mit ihren Krallen nach dem Herzen schlagen, sondern eher mit dem Maul die Kehle durchbeißen. Da wird irgendwer seine Hand im Spiel gehabt haben, dem der Reporter auf die Füße getreten ist. Die haben doch Feinde ohne Ende. … Na ja, und dann ein Jahr später der Arzt im Forst. Bei dem hat das ja mit der Kehle geklappt. Aber eben auch äußerst seltsam.“ Urs legte das Foto und den Artikel zusammen beiseite. Jetzt war nur noch ein Zeitungsausschnitt vorhanden.
Keiner der beiden, weder Urs noch Charlotte suchten den Blick des anderen. Was würden sie da sehen? Unglaube? Entsetzen? Trauer? Und Fragen über Fragen? Schweren Herzens langte Charlotte nach der noch auf dem Tisch liegenden Berichterstattung. „So. Das ist dann der letzte Auszug, den Henry beigelegt hat. Da muss ihm schon klar gewesen sein, dass nur noch er übrig war und es ihn über kurz oder lang ebenfalls erwischen würde. Denn er war kein Mensch, der an Zufälle glaubte.“ Urs strich Charlotte zärtlich über den Arm. „Wenn du willst, dann lese ich …“ „Nein schon gut. Ich schaffe das schon“, unterbrach sie ihn und überflog schnell die wenigen Zeilen der Notiz. „Ein Naturschützer.
> … Bei einer Wanderung in der Hohen Tatra wurde der Naturschützer Jens K. Opfer eines Jagdunfalls. … < Jagdunfall? Tja wohl kaum, denn es wurden bei der Obduktion nicht nur eine Schusswunde festgestellt, sondern auch diverse Kratz- und Bissspuren. Tödlich war davon eine jede Wunde für sich. So viel also dazu.“
Charlotte atmete tief durch und schob alle Dokumente weit von sich. Blieben nun nur noch zwei Fotos. Das ihres Großvaters und das eines jungen Mannes, der ihrem Vater so verdammt ähnlich sah. Henry ist tot. … und was ist mit diesem anderen Mann?
EagleWriter Hast du das Buch bei einem Verlag unterbekommen? Herzlichen Glückwunsch^^ lg E:W |
abschuetze Hallo Eagle, ich mache das allein über neobooks (ebook) und epubli macht für neobooks das Print. Also Lektorat, Korrektorat, Layout, Cover und und und ... alles im Alleingang. Genau wie bei "Amaranth - eine Lengende". Bisher meine besten Erfahrungen :-) |