Die Tischordnung stimmte. Die „Gnädige“ überzeugte sich höchstpersönlich davon.
Kleine Kärtchen mit verschnörkelt aufgesetzten Namenszügen wiesen die zu erwartenden Gäste ihre Plätze zu ... „Gnädigste“ war sichtlich zufrieden ... Teller, Gläser, Bestecke ... Schüsseln, Karaffen ... soweit alles in Ordnung ... bis sie fast schon ihren Inspektionsgang um die Tischtafel herum abgeschlossen hatte. Da stutzte sie plötzlich. Warf ein halbes Dutzend sensorische Abtastblicke über das Diner-Arangement - und:
„Ach, Emmi ...?!“
Ein knapper, zusätzlicher Wink mit dem Finger ließ das junge neue Dienstmädchen beflissentlich zu ihr eilen.
„Ja bitte, gnädige Frau?“
„Emmi, was fehlt denn hier noch, hmm?“
Auch Emmi begutäugelte auf den Teil des Tisches, auf den die Dame des Hauses mit dezent gelupfter Augenbraue schaute, bevor sie ihren mahnend-strafenden Blick mit gezieltem Fingerzeig untermalte. Jedoch...:
„Was fehlt denn, gnädige Frau? Ich kann nichts feststellen. Soweit ich das beurteilen kann, ist alles vorhanden und am rechten Platz.“
„Vom Vorhandenen fehlt auch nichts“, kam es zwar streng, aber keinesweg vorwurfsvoll über die Lippen der Gnädigen. Und einsichtig genug war sie obendrein, dem gewiß lernwilligen jungen Ding auf gewisse Bestandteile der Etikette bei Tisch aufmerksam zu machen:
„“Hier fehlt die Zuckerzange, liebes Kind.“ erklärte sich auch nachsichtig, ja, direkt in einem mütterlichen Unterton in der Stimme. Allein - das brachte „die junge Nachwuchsperle“ nicht gerade viel weiter und aus großen, fragenden Augen blickte sie ihre Brötchengeberin an:
„Eine Zuckerzange, gändige Frau? Wozu eine Zuckerzange?“
„Aber Kindchen ...!“ Aus dem Mund der Gnädigen klang es fast wie pures Entsetzen. Aber noch immer behielt sie die Rolle der verständnisvollen, erklärenden Lehrmeisterin bei:
„Das ist so ...“, begann sie umständlich, „stellen Sie sich vor, dass die Herren auch zwischendurch einmal den Tisch verlassen, um ...“ Die Gnädige kramte sichtlich verlegen in ihren Hirnwindungen, um eine gemässigtere Wortwahl finden zu können - jedoch ergebnislos, worauf sie sich leicht vorbeugte, um den Rest ihrer Erklärung dem jungen Ding ins Ohr zu flüstern: „Also, wenn die Männer die Toilette aufsuchen ... oder vielmehr: danach, wenn sie wieder zurück sind und sie vielleicht ein oder zwei Stücke Zucker in den Kaffee geben wollen ... und wenn sie dann mit ihren Fingern in die Zuckerdose greifen müssten, das wäre doch wirklich äußerst unhygienisch, nicht wahr?!“
Ja, das leuchtete ein. Emmi nickte auch prompt zustimmend und machte sich eiligst auf den Weg, um das bislang Versäumte hurtigst nachzuholen ...
Die ersten Gäste trafen ein - indes die Zuckerzange fehlte allerdings noch immer.
Auch noch, als ein dezenter Gongschlag zu Tische bat ...
Eine gewisse Berührtheit, die sich allmählich zur offenen Nervosität steigerte, war der Gastgeberin geradezu vom Gesicht abzulesen.
Und als die Zuckerzange auch nach dem Hauptgang noch nicht gebracht worden war, einige der Anwesenden bereits zum Dessert und Kaffee griffen, da hielt es auch die gnädige Frau nicht länger auf ihrem Platz und sie bestellte das niedliche Fräulein Emmi zu sich - nachdrücklich und auf der Stelle!
Und als Emmi mit einem leichten Knicks vor sie trat, hatte die Tonlage der Hausherrin weiter an Schärfe hinzugewonnen:
„Sie hören wohl schlecht!?“ fauchte sie die Perle geradezu an. „Die Zuckerzange fehlt ja immer noch!“
„Aber nein, gnädige Frau, bestimmt nicht“, beeilte sich Emmi augenblicklich zu versichern. „Ich habe sie sofort, nachdem Sie mich darauf aufmerksam gemacht haben, in der Herrentoilette aufgehängt ...“