Sehnsucht
„Hast du heute schon was vor?“
Mit dieser Frage beginnen zumeist kleinere oder größere Abenteuer, die meine Familie spontan plant.
So auch am letzten Sonntag. Die Jungs wollten mal wieder zum Flughafen. Als Ausflugsziel nicht meine erste Wahl, denn dort ist es immer laut, kribbelig, voll, schlecht gelüftet und meistens sehr warm. Aber genau das in dieser Reihenfolge, plus die unzähligen Möglichkeiten Essen zu fassen, lieben die Kinder einmal im Monat. Nicht unbedingt spektakulär, aber ich war dennoch dankbar für die Abwechslung, denn Wochenendtage vergehen sehr langsam, wenn man allein ist.
Kurze Zeit später parkten wir im achten Stock des riesigen Parkhauses - ein Muss, denn die Fahrt nach oben gleicht einer Karussellfahrt - und sofort spürte ich den typischen Flughafengeruch in der Nase. Eine Mischung aus Abgasen, Kerosin, fremden Ländern, Fernweh und Flughafen eben. Ein Geruch, der jedes Mal ein ganz seltsames Feeling erzeugt, jedenfalls in mir.
Da Mittagszeit war, wurde zuerst eins der unzähligen Restaurants angesteuert.
„All you can eat“, was so viel bedeutet wie „Essen, was rein passt“ beim Chinesen, liebt schon der Zweijährige.
Obligatorisch folgte danach der Besuch der Aussichtsplattform, von der aus beide Start-und Landebahnen einzusehen sind und die
Raterunde, wo wohl jedes der unzähligen Flugzeuge herkommt oder hin fliegt. Ein erneutes Gefühl von Fernweh und aufkeimende Erinnerungen wurden unterbrochen vom Anstehen am Bezahl-Fernglas. Die Raterunde ging weiter, genau wie die Suche nach dem allerbesten Aussichtspunkt.
Nachdem später auch das Fahren auf den Rolltreppen abgehakt werden konnte, sowie das kilometerlange Flitzen auf den Laufbändern, bevorzugt in entgegengesetzter Richtung, bei dem es keinen Gewinner geben kann, weigerte ich mich vor dem letzten Programmpunkt. Jeder benötigte dringend irgendetwas aus einem der vielen Geschäfte. Auf einem der größten Flughäfen
Deutschlands gibt es am Sonntagnachmittag nichts, was es nicht gibt.
Fürsorglich wurde ich mit einem „Cafe to go“ (Kaffee zum Mitnehmen) und dem Versprechen, dass man mich dort wieder abholen würde, auf einer Bank geparkt und wieselflink zerstreute sich die Familie in alle Himmelsrichtungen.
Zeit zum Durchatmen, obwohl ich das wegen der schlechten Luft eigentlich gar nicht so gern wollte.
Es war immer noch laut, kribbelig, voll und sehr warm. Wie vorher bei den Flugzeugen versuchte ich nun zu erraten, woher die Menschen kamen oder welches ihr Ziel war. Manche wirkten gestresst, einige gelangweilt, andere sahen nach Urlaub aus.
Urlaub!
Sogleich waren sie zurück, die vorher schon erwachten Erinnerungen. Urlaubserinnerungen habe ich zum Glück unzählige und fast alle sind sehr schöne und wertvolle.
So stahl ich mich ganz heimlich fort aus diesem Tumult, aus dem Krach, aus der schlechten Luft und der Hektik. Alles um mich herum verlangsamte sich, die Geräusche wurden leiser, waren bald nicht mehr zu hören und ich nahm nur noch ein gleichmäßiges Brummen wahr, welches dem Motorengeräusch unseres Wohnmobils glich.
Als ich aufschaute, sah ich die endlose Straße durch den scheinbar endlosen Wald vor mir.
Wir waren unterwegs im Hoh-Regenwald, dem Hoh Rain Forest, der sich auf der Olympic Peninsula im Westen des Bundesstaates Washington, im Nordwesten der USA befindet. Er ist einer der wenigen gemäßigten Regenwälder des Landes und Teil des Olympic-Nationalparks. Dort wollten wir in völliger Wildnis am Hoh River, fernab jeglicher Zivilisation, einige Tage verbringen. Wir fuhren ewig lange durch diesen Wald, der immer dichter und dunkler wurde, trafen nur äußerst selten mal ein weiteres Fahrzeug und bekamen langsam das Gefühl allein zu sein. Dass wir das auch waren, merkten wir, als wir nach langer Zeit den einsamen Campingplatz fanden.
In Amerika gibt es viele private
Campingplätze, die allen Komfort und Zurück bieten, den Otto-Normal-Verbraucher benötigt. Und es gibt staatliche Plätze, die eigentlich nichts bieten, außer der meist verwahrlosten Bezahlbox, dem obligatorischen Grillplatz pro Stellfläche und wenn man Glück hat, einem Toilettenhaus. Wasser und Strom sind dort nur selten vorhanden. Natürlich gab es im Hoh nur einen staatlichen Campingplatz.
Nachdem der Motor abgestellt war, umfing oder besser empfing uns der Wald. Ein einmaliges, fast nicht zu beschreibendes Gefühl erfasste uns. Dieser leicht modrige und dennoch frische Geruch des Regenwaldes, die eigenartige Stille, die eigentlich gar nicht still war, da man die Geräusche der Natur und des nahen Flusses hörte, die gefühlte Weite
und das eigenartige Empfinden, an keinem anderen Platz der Erde so sicher zu sein, wie dort, all das hüllte uns in wenigen Minuten ein. Ehrfurchtsvoll schwiegen wir und drehten uns staunend im Kreis. Durch die anhaltende Nässe, waren die meisten Bäume, die dort bis 95 Meter hoch werden, mit einem Moosgeflecht bewachsen, was sie wie Märchenwaldbäume aussehen ließ. Auch auf dem Boden wuchs dieses Moos, durchflochten von riesigem Farn. Es fühlte sich wie ein Traum an und wir hätten uns in dem Moment sicher nicht gewundert, wenn uns Kobolde auf die Füße getreten wären. Kobolde kamen nicht und wir trafen auch nicht die Waschbären, Schwarzbären, Pumas und Maultierhirsche, die dort auf natürliche Weise
leben.
Wir wurden eins mit der Natur dort im Wald, respektierten alles Leben und wurden offensichtlich ebenso respektiert. Einmal am Tag bereiteten wir unsere Mahlzeit am offenen Feuer zu, was nicht jedes Mal einfach war, da der Regenwald seinem Namen Ehre machte. Obwohl es teilweise heftig goss, fanden wir immer einen trockenen Platz unter den gewaltigen Bäumen.
Um unseren Wasservorrat zu schonen, badeten wir täglich im kalten Fluss und weil wir den Generator nicht anschalten wollten, verbrachten wir die Abende am Feuer und mit Kerzen. Tagsüber liefen wir durch den Wald, sogen unzählige Eindrücke in uns auf, am Abend lauschten wir den Geräuschen des
Waldes und nachts schliefen wir so gut, wie nie zuvor.
Ewig hätten wir dort bleiben wollen …
Unvermittelt wurde ich zurück geholt. So wie der Aufenthalt dort in unserem Wald endete, so wurde auch mein Traum beendet.
Die Familie kam zurück. Jeder war glücklich und zufrieden, also war ich es auch.
Wenn da nicht diese Sehnsucht wäre …
© Memory (Feb. 2018)