Zimmer 314
»Guten Tag, mein Herr. Wie kann ich ihnen helfen?«
Der Portier betrachtet Karl mit der professionellen und ein wenig herablassenden Freundlichkeit, wie sie oft bei Menschen zu finden ist, die sich hinter einer Theke verschanzen können.
Karl schaute erleichtert in das ihm gänzlich unbekannte Gesicht.
»Ich hätte gerne ein Zimmer. Ein besonderes Zimmer. Vor Jahren hatte ich für ein paar Tage Zimmer 314 in diesem Hotel. Das hätte ich gerne wieder.«
»Ja, Zimmer 314. Tatsächlich ein besonderes Zimmer. Ein Eckzimmer mit traumhaftem Ausblick über Fluss und Altstadt. Geschmackvoll eingerichtet, aber das sind ja alle unsere Zimmer. Sie haben Glück, es ist noch frei.«
Karl war bemüht, sich die Zufriedenheit, die diese Antwort in ihm auslöste, nicht anmerken zu lassen. Wie lange hatte er auf diesen Moment warten müssen? In wie vielen Nächten hatte er sich diesen Moment vorgestellt? Er war am Ziel seiner Reise angelangt. Und er war beinahe ein wenig enttäuscht darüber, wie selbstverständlich alles ablief.
»Gut, dann nehme ich es.« Er antwortete dem Portier und ballte dabei seine Hände in seinen Hosentaschen. Konnte das wirklich so mühelos sein?
Während der Portier sich umdrehte, um den Zimmerschlüssel vom Haken zu nehmen, warf er einen Blick durch die leere Hotelhalle. Er war sich sicher, dass ihm niemand gefolgt war.
»Wie lange werden sie bleiben?« Gleichgültig schob ihm der Portier Anmeldeformular und Stift über die Theke.
»Zwei bis drei Tage, je nachdem« antwortete Karl, während er das Formular mit einem Namen ausfüllte, der nicht zu banal und dennoch unauffällig war. Ein Mayer würde nicht gehen. Niemand, der nicht so hieße, würde sich mit diesem absurd simplen Namen in einem Hotel anmelden. Sich unter seinem richtigen Namen anzumelden erschien Karl zu gefährlich. Sicher, die Sache war ausgestanden. Er hatte seine Strafe abgesessen. Dennoch. Man konnte nie wissen.
»Hier bitte, der Schlüssel. Benötigen sie Hilfe mit dem Gepäck?«
»Nein danke. Es ist noch am Bahnhof.
Ich werde es später holen.« Karl nahm den Schlüssel von der Theke und ließ ihn in die Hosentasche gleiten.
Er schloss die Augen, während er auf den Lift wartete. Bilder tauchten auf. Er und Tessa, lachend aus dem Lift stürmend, durch die Hotelhalle laufend und im Touristengewühl verschwindend. Er, vor der Wand des Zimmers kniend und den Schmuck in einem Hohlraum versteckend. Er, in Handschellen aus dem Hotel geleitet, in einem Meer aus Blaulicht verschwindend, das die Nacht erhellte.
Karl dreht den Schlüssel und Zimmer 314
öffnete sich. Trotzdem die schweren Vorhänge zugezogen waren und wenig Licht in den Raum ließen, erkannte er sofort, dass der Raum unverändert war. Als ob er sich sieben lange Jahre in einem Dornröschenschlaf befunden hätte.
Es hätte alles so schön werden können. Tessa und er, sie waren jung gewesen. Und voller Liebe. Sie hatten Pläne gehabt. Keine verrückten, unerfüllbaren Pläne. Erfüllbare Vorstellungen vom Leben sind es gewesen. Eine Familie gründen. Ein Haus kaufen. Kinder groß ziehen.
Und doch kam alles anders.Handschellen klickten. Weiss der Teufel wie sie auf
dieses Hotelzimmer gekommen sind. Endlose Verhöre mit immer den selben Fragen. Wer waren die Komplizen? Wo war die Beute?
Und immer dieselben Antworten. Tessa? Nein, sie wusste nichts davon. Sie war keine Komplizin. Beute? Auf der Flucht verloren. Da war nichts mehr zu holen. Insgeheim wunderte er sich, dass er damit durchgekommen war. Irgendwann haben sie akzeptiert, dass sie keine anderen Antworten bekommen würden, ihn zu sieben Jahren verurteilt und in eine Zelle gesteckt.
Es hätte ihm nichts ausgemacht. Die
sieben Jahre wären der Preis für ein Leben mit Tessa gewesen. Ein geringer Preis, wie er meinte. Bis dieser Brief kam, nach drei Jahren im Gefängnis, der seine Welt zerstörte. Tessa war tot. Aufgefressen von einem Tumor in rasender Geschwindigkeit. Begraben, bevor er die Zeilen in den Händen hielt. Er saß da, auf dem Hocker in seiner Zelle. Der Brief war ihm aus der Hand geglitten und er wunderte sich, dass er atmete und lebte, während Tessa in der feuchten Erde lag.
Sein Leben war bedeutungslos geworden. Sie hätten ihn noch dreißig Jahre einsperren können. Er hätte es
achselzuckend hingenommen. Aber sie taten es nicht. Pünktlich nach sieben Jahren wurde er auf die Straße gesetzt.
Als er das Wenige, das es noch zu erledigen gab, getan hatte, setzte er sich in den Zug und fuhr hierher, wo sich die Kreise schließen sollten.
Und nun stand er hier in Zimmer 314. Er schob den Sekretär von der Wand und kniete nieder. Sachte fuhr er mit den Fingerspitzen über die Tapete und musste lächeln, als er die Naht zwischen zwei der Papierbahnen ertastete. Damals hatte er sich alle Mühe gegeben, das Papier unbeschädigt zu lösen. Heute war er
weniger zurückhaltend und riss das Papier mit einem Ruck von der Wand. Er wusste, dass der Ziegel dahinter nur oberflächlich verklebt war und entfernte ihn rasch. Dahinter öffnete sich ein Hohlraum, in den er hinein griff und einen Beutel aus schwarzen Samt herausholte.
Er schüttete den Inhalt auf das Bett und obwohl das Licht gedämpft durch die schweren Vorhänge drang, glitzerte und glänzte der erbeutete Schmuck wie am ersten Tag und versprach Reichtum.
Karl gab den Schmuck zurück in den Beutel, steckte ihn in die Manteltasche,
verließ das Zimmer und sperrte sorgfältiger hinter sich ab. Ohne auf den Lift zu warten nahm er die Treppe, durchquerte die Hotelhalle und trat auf die Straße.
Das Licht blendete und der Straßenlärm war an dieser frequentierten Straße nahezu unerträglich. Er ging er rasch in Richtung Stadtzentrum davon. Karl erinnerte sich an einen Bettler der dort, am Beginn der Fußgängerzone, gesessen hatte. Er ging neben dem alten Mann in die Hocke, griff in die Manteltasche, holte den Beutel heraus und drückte ihn dem Alten in die Hand.
»Vielleicht bringt er ihnen ja mehr Glück«.
Karl wartete keine Antwort ab, stand auf und ging zurück ins Hotel. Er nickte dem Portier zu, der von seine Loge herüber sah, als er das Hotel betrat und nahm diesmal den Lift.
Zimmer 314 empfing ihn mit durch die Vorhänge gedämpften Licht, einen verrückten Sekretär und einem kleinen Loch in der Wand. Er hätte das Möbel wieder zurückschieben können. Wozu?
Minuten später hielt der Portier inne bei der Durchsicht der Gästelisten. War das
wirklich ein Schuss, den er gerade gehört hatte?