Wie im Märchen
Beitrag zur Schreibparty 66
Text inspiriert durch "Mitternachtsball" – Juliane Werding
Vorgabewörter:
Glas
Leben
Spiegel
Schnabel
Liebste
Zettel
Freund
Morgenrot
Schatten
Tanz
küsst
Wein
Wie im Märchen
Ich hatte ein kurzes, aber schönes Leben. Es endete leider zu früh, aber wer bin ich schon zu entscheiden, wann die Zeit zu gehen gekommen ist? Als ich merkte, dass es keinen Ausweg mehr gibt, hob ich mein Glas mit Wein, nahm einen großen Schluck und küsste die Stirn meines Mörders. Sie war kalt wie Eis.
Das Lämpchen am Armaturenbrett blinkte rot. Noch bevor ich mir überlegen konnte, was jetzt am besten zu tun sei, verröchelte der Motor seinen letzten Lebensfunken und das Auto rollte langsam aus.
Jegliche Wiederbelebungsversuche mittels
energischer Zündschlüsselgewaltakte blieben erfolglos. Ich steckte fest. Draußen breitete sich die Nacht langsam über dem Wald aus und ich saß mitten auf einer einsamen Landstraße in meinem alten VW-Käfer und hatte keinen Akku mehr.
Mein Freund würde sich vielleicht irgendwann fragen, wo ich stecke und sich auf die Suche machen. Anderseits könnte es auch Tage dauern, bis er sich Gedanken macht. Wir hatten uns gerade auf eine Beziehungspause geeinigt, genauer gesagt, hatte er mich vor vollendete Tatsachen gestellt, indem ich eines Tages einen Zettel auf meinem Schreibtisch fand. Auf dem Zettel stand kurz und deutlich: „Liebste, ich brauche eine Pause. Melde mich, wenn ich reden will.“ So war er, dieses
gefühlskalte, manipulative Drecksschwein, doch ich fiel immer wieder auf ihn herein. Ich konnte nicht anders. Hollywoodfilme und Liebesromane hatten ein zu schönes Bild von Liebe in meinen Kopf eingepflanzt und als Resultat dieser Geschichten stand eine Trauerweide auf einem weiten, kahlen Feld und wartete, bis sie jemand achtete und ihr Selbstwertgefühl mit Komplimenten und Zuneigung begoss.
Die Schatten der Bäume wurden immer größer und schlichen im Sinkflug der Sonne langsam über die einsame Straße. Bald würde es kälter werden und irgendwann nachts, wäre es so kalt, dass ich aus dem Auto steigen müsste, um mich warm zu halten. Also entschied ich mich lieber gleich auszusteigen
und nach Hilfe zu suchen.
Ich ging die Straße entlang und hoffte in absehbarer Zeit ein Dorf oder wenigstens ein Notfalltelefon zu finden und tatsächlich leuchtete nach etwa einer halben Stunde Fußmarsch ein kleines Licht, nicht weit der Straße, auf einer Waldlichtung. Als ich näher kam, sah ich Autos, die vor dem Haus geparkt standen. Von drinnen hörte ich laute Musik und ausgelassene Stimmen, die sangen und sich unterhielten. Ich war sehr froh über dieses fast schon unverschämte Glück. Mitten im Wald ein großes Haus mit vielen Menschen, von denen sicherlich einer mir helfen würde.
Ich klingelte. Die Tür ging auf und ein adrett gekleideter älterer Mann trat in Erscheinung.
Ein prachtvoller, grauer Schnauzer dominierte sein Gesicht, das freundlich doch starr in meine Richtung blickte. Der Mann war blind.
„Gnädige Frau, Sie wünschen?“, begrüßte er mich freundlich.
Woher wusste er, dass ich eine Frau war? Ein unheimliches Lächeln legte sich auf seine dünnen, trockenen Lippen. „Keine Angst, ich habe Ihr Parfum gerochen“, beantwortet er meine ungestellte Frage. „Übrigens ein sehr schöner Duft. Ist es Lavendel?“
„Ja“, sagte ich verlegen. „Sie können wohl Gedanken lesen.“
„Nein, ich sehe nur sehr gut, was man nicht mit den Augen sehen kann.“
Nachdem ich ihm erklärt hatte, dass mein Auto liegen geblieben war und ich Hilfe
brauchte, nickte er ruhig und sagte: „Das ist kein Problem. Wir können Ihnen morgen sofort einen Abschleppwagen rufen.“ Ich äußerte den Wunsch um sofortige Hilfe, den er aber ablehnte: „Das geht leider nicht. Heute werde Sie keinen Abschlepper mehr erreichen können. Wir leben auf dem Land und es ist Samstag. Die Leute feiern und trinken oder sitzen mit ihren Familien vor dem Fernseher. Kommen Sie einfach herein und feiern Sie mit uns. Wir haben eine kleine Party.“
Ich trat ins Haus. Durch einen Spiegel im Flur konnte ich einen Blick ins Wohnzimmer werfen. Das Erste, was ich sah, war ein Mann, der in einen großen, schwarzen Umhang gehüllt war und eine Maske trug. Die Maske war mit goldenen Spiralmustern verziert und
hatte einen dünnen langen, leicht nach unten gebogenen Schnabel, der mich sofort an einen Kolibri denken ließ. Der Mann unterhielt sich mit einer Frau, die ebenfalls eine Maske und ein elegantes Abendkleid trug. Just in dem Moment, in dem ich das maskierte Paar erblickte, wandte er seinen Kopf in Richtung des Spiegels und sah mich an. Es schien fast, als ob er meinen Blick auf sich gespürt hatte.
Instinktiv wich ich zur Seite, um seinen Augen zu entkommen und sah nun mich selbst im Spiegel. Ich sah müde und abgekämpft aus. Dunkle Augenringe untermalten meine Augen und mein Haar war zerzaust. Hektische versuchte ich es, ein wenig in Ordnung zu bringen.
„Das Bad ist den Flur entlang links“, sagte der
blinde Portier, als ob er genaue gesehen hätte, was ich gerade vor dem Spiegel tat. Ich stockte kurz und schaute ihn verblüfft an. Woher wusste er …
„Sie wollen sich bestimmt frisch machen“, beantwortete er wieder meine gedachte Frage, worauf hin ich bejahte und ins Bad ging.
Als ich wieder zurückkam, hielt mir der Blinde eine Maske hin und erklärte, dass heute ein Maskenball stattfände und jeder Gast eine Maske zu tragen habe. Meine Maske war smaragdgrün. Die Ränder waren mit feinen Fransen geschmückt, die etwas aufgebauscht den Zweigen und Blättern einer Weide glichen.
Ich zog die Maske auf und schritt ins
Tanzgetummel. Die Musik war laut und ausgelassen. Die Gäste tanzten wild durcheinander; Männer mit Männern, Frauen mit Frauen, auch Gruppen aus drei oder vier Tänzern vergnügten sich zum Rhythmus der Musik.
Ich verlor mich im Taumel und vergaß überhaupt, wo ich war. Nach einem Drink von der Bar verwandelte sich mein Frust in Ekstase. All die negative Energie strömte, die mein kaputtes Auto und meine kaputte Beziehung mir beschert hatten, strömte im Schweiß der körperlichen Eskalation aus mir heraus. Schamlos lasziv beschrieben meine Hüften in kreisenden Bewegungen anrüchige Geschichten und es dauerte nicht lange, bis sich der erste Balzgefährte mir näherte. Ich
spielte einen Augenblick mit dem Gedanken, ihn näher an mich heranzulassen, aber sofort befahl mir meine Intuition, ihn von mir zu stoßen. Ich genoss die Enttäuschung in seiner Körpersprache. Seine Augen schauten mich vorwurfsvoll hinter der Maske an. Ich lachte ihn spöttisch an und drehte mich weiter, weiter, immer weiter, zum nächsten Abenteuer, zur nächsten verliebten Mitternachtsmotte, die an der Hitze meiner Reize verbrennen würde. Doch irgendwann wurde ich müde. Ich setzte mich auf eine Couch unweit der Tanzfläche und atmete durch. Ein Mann setzte sich zu mir. Sein schwarzer Umhang legte sich um die Couchlehne und streifte meinen Körper. Ich sah ihn an und erkannte den Kolibrischnabel
seiner Maske wieder. Seine Stimme kam mir sehr bekannt vor: „Na, genug getanzt?“ – „Ja, kenne ich dich?“ – „Noch nicht, aber das können wir ändern. Ich bin Jeff.“ – „Ich bin Adina.“ – „Hallo, Adina.“
Wir plauderten ein wenig und entschieden uns kurz darauf vor die Tür zu gehen. Das Morgenrot breitete sich langsam über dem Wald aus. Vögel sangen den nahenden Tag herbei. Es war genau wie in all diesen Liebesgeschichten und Liebesfilmen, die ich immer wieder begierig las und schaute, die eine perfekte Parallelwelt beschrieben, in der die Frauen immer begehrenswert und umworben waren. Ihr Traumprinz war stark und schön und liebte nur sie. Nach ein paar Schwierigkeiten und Missverständnissen,
fanden sie am Ende immer zu einander und es gab ein Happy End. Wie unglaubwürdig und konstruiert das war. Eine perfide Marketingstrategie, die einsame und vom Leben enttäuschte Hausfrauen in Traumwelten entführten, nur um sie dann immer wieder in den Alltag zu entlassen, wo sie einsam oder bestenfalls von eher enttäuschenden männlichen Exemplaren in ihrem Liebesleben begleitet wurden. Doch heute schien sich die Wirklichkeit für mich zu einem Märchen zu entwickeln. Der Mann neben mir war schön und intelligent. Er konnte gut reden und zeigte aufrichtiges Interesse an mir. Fast wäre ich auf seine Masche reingefallen. Ich war doch nicht in einem Märchen.
Ich entschuldigte mich und sagte, dass mein Auto noch mitten auf der Straße steht und ich möglichst schnell nach Hause kommen wolle.
„Das trifft sich ja gut. Ich habe den einzigen Abschleppdienst im Umkreis von 200 Meilen. Ob du willst oder nicht, heute kommst nicht drumherum, mit mir nach Hause zu fahren.“
Er lachte mich schelmisch an und zog die Maske ab. Ein makelloses Modelgesicht strahlte mich an. Sein markantes Kinn umspielte ein leichter Dreitagebart. Die ozeanblauen Augen wurden von kräftigen Brauen und schwungvollen Wimpern betont.
Ich schluckte.
Ich nickte.
Ich fuhr mit.