Der Wecker klingelte. Keine Verzögerung. Er stand auf, genoss seinen eigenen Anblick eine Sekunde zu lang im Spiegel seines Schlafzimmers. Er lächelt sein perfektes Lächeln. Ein weiterer Tag, an dem Silas Cartwell die Menschen um sich herum nicht nur überraschen würde sondern fesseln. Die akkurate Krawatte, edelste Seide liegt bereit – gewaschen und gebügelt. Das Dienstmädchen, welches er letzte Woche erst angestellt hatte, schien einen guten Job zu machen. Selbstsicher schlüpfte er in den maßgefertigten Anzug, der sich an seinen trainierten Arme anschmiegte, wie eine zweite Haut. Er machte sich keine
Sorgen, das Fenster vom Badezimmer zu öffnen, nachdem er geduscht hatte, das Mädchen würde er nur zu gerne übernehmen. Schließlich sollte sie eine weitaus besondere Bezahlung bekommen, als ihre Vorgänger. Die hübschen grünen Äuglein waren Silas Cartwell direkt aufgefallen, sodass er sich rasch entschlossen hatte, ihr eine seiner „Sonderbehandlungen“ zu kommen zu lassen. Er schmunzelte bittersüß in sich hinein. Noch rasch die Haare optimiert, dann schloss er geschmeidig die Haustür hinter sich. Wissend, das ihn heute ein äußerst wichtiges Meeting erwartete, mahnte er sich fast zu hast, als er die letzten Stufen zur Tür nahm. Wobei er
dabei nunmal zu differenzieren pflegte. Bedeutsam war dieses Meeting nicht für ihn, doch je nach dem, wie ausging, könnten eine Menge Leute ihren Job verlieren und Silas beschloss, sich das schlechte Gewissen nicht zumuten zu können. Nicht zu ahnen, was die Presse desweiteren von ihm annehmen könnte. Nichtsdestotrotz galt seine Position nicht in Gefahr, schließlich war er der Perfektion in den Jahren seit der erfolgreichen Beendung seines Studiums näher gekommen, als er sich je zu hoffen gewagt hatte. In Gedanken schwelgend über sein Erfolg bemerkte er die ersten Regentropfen nicht, die zunächst auf die Pflastersteine unter ihm tröpfelten. Hier
schenkte er der jungen Dame von neben an einen strahlenden Blick mit seinen hellen, blauen Augen, dort grüßte er den vermögenden Firmenchef der führenden Bank. Die Straße begann sich unter ihm in Schlieren aufzulösen, während der Regen stärker wurde. Vorbereitet öffnete Silas Cartwood seinen Regenschirm, welcher zur Schlichtheit seines restlichen Kleiderarrangements passte. Weit war es nicht mehr bis zu seinem Firmenwagen, der geschützt vor den Albernheiten der Natur in einer Tiefgarage stand. Silas überquerte einen Zebrastreifen; die bunten Lichter der Autos spiegelten sich schwammig in den Pfützen auf der Straße
und ließen den jungen Mann blinzeln. Eilig scheint er es trotz seiner gewichtig pünktlichen Ankunft nicht zu haben. Er zögert, als er einen Jungen sieht, dreizehn Jahre alt vielleicht, der am Rande einer Gasse steht, den Regen nur abwehrend mithilfe eines großen Pappkartons. Er zögert nicht, weil der Junge arm aus sieht, zittert und vielleicht sein Tagen nichts zu essen hatte. Es trifft ihn nicht, dass dieser Junge seine spärlichen Einkünfte nicht durch den Verkauf der Zeitungen, die er unterm Arm hält vergrößern kann. Die Situation des Jungen, der beinahe noch ein Kind ist, berührt den Mann nicht. Dennoch bleibt er stehen. Silas Cartwood hält
inne. Die Gestalt des Jungen, seine Unbeholfenheit und die einnehmenden braunen Augen erinnern ihn an seinen kleinen Cousin und das, obwohl mindestens ein paar Jahre Altersunterschied zwischen ihnen liegen. Unauffällig versucht er seine Schritte zu entschleunigen. Er räuspert sich. Die großen Augen des Jungen weiten sich, als er den offensichtlich reichen Mann vor ihm stehen sieht. Verunsichert macht einen Schritt rückwärts, Silas dagegen geht auf ihn zu. „Wie viel willst du für eine Zeitung?“ Dem Klang der Worte aus seinem Mund, kann er selbst kaum glauben. Wie gesteuert fühlt er sich, die Hand mit
einem Dollar fünfzig in die Richtung des Jungen gestreckt. Dieser scheint kurz vor Angst zu beben. Der junge Mann ist erschrocken über diese Geste. Selten wünschte er sich, das sich jemand vor ihm fürchtete, allerdings stellte sich Furcht in seinem Metier manchmal als nützliches Mittel heraus, um die Leute zu Entscheidungen zu bewegen. Diesmal war er jedoch schockiert. Dieser Junge, er sollte keine Angst vor ihm haben, nein, er glich Luis, dem Sohn seiner Schwester, fiel zu sehr. Unfähig, völlig aus seiner perfekten Rolle zu fallen, kniete er sich ungelenk auf die Höhe des Jungen. Dieser reichte ihm verstohlenen Blickes die Zeitung. Selten in seinem
Leben hatte Silas sich dermaßen falsch gefühlt. Mitgefühl und Trauer überkam ihn und zum ersten Mal seit Jahren gewisse Selbstzweifel. „Dankeschön.“, wisperte der Junge. Sein Stimme klang brüchig und dünn. Nocheinmal warf Silas Cartwood, ein Mann von Welt mit nicht einmal dreißig Jahren, ihm einen Seitenblick zu. Er schluckte, dann schüttelte er betroffen den Kopf, schaute auf seine Uhr und schlug die Zeitung auf, nachdem er sich einige Meter von der Gasse entfernt hatte. „13.09.2015“, prangte es in dicken Lettern auf der Titelseite. Irritiert warf der Geschäftsmann einen Blick zurück
auf seine Uhr. „Falsch, falsch.“, ratterte es durch seinen Kopf. Der dreizehnte August, dieser Tag war erst übermorgen. Abfällig blätterte er durch den Rest des Schmierblattes. Mit zuckenden Schultern, wollte er sie in den nächsten Mülleimer schicken, hielt erneut inne und holte tief Luft. Hastig begab er sich unter das nächstgelegene Vordach und verstaute den Schirm. Regen strömte in Bindfäden vom grauen Himmel. Die blauen Augen sprangen durch die Zeilen. „Der siebenjährige Luis Cartwood wurde vor zwei Tagen in einen Verkehrsunfall verwickelt. Schwer verletzt wurde er am Morgen ins Krankenhaus eingeliefert.
Der Unfallort ist die 7. Ecke Maincoon Street. Nähere Infos auf Seite 8.“ Adrenalin raste durch seine Adern. Mit zittrigen Händen blätterte er zur genannten Seite. „Der Unfall geschah vermutlich im Zeitraum des Berufsverkehrs. Der Regen machte die Straßen rutschig, sodass Michelle Cartwood (35), Mutter des nun verstorbenen Jungen, keine Möglichkeit hatte zu bremsen.“ Mit einem erneuten Blick auf seine Schweitzer Uhr überschlug er im Kopf, wie lange seine Schwester normalerweise brauchte, um den Jungen zur Schule zu fahren. Sie sprachen nicht häufig miteinander, allerdings führte dieser
Umstand dazu, das sie häufig zu spät zu ihren seltenen Treffen, der Familie wegen, kam und stets eine Ausrede hatte. Er kniff die Augen zusammen. Die Selbstsicherheit war von ihm abgefallen. 7:23. Die Uhr tickte unaufhörlich weiter. Der Junge musste um 7:40 in der Schule sein. Die siebente Ecke der Maincoon Street, sie würde also hier vorbeifahren. Cartwood runzelte die Stirm, öffnete den Schirm wieder und stellte sich an den Fahrbahnrand. Trotz der wenigen Zeit, die er mit Luis verbracht hatte war ihm der Junge ans Herz gewachsen, sah er doch der gemeinsamen Mutter von ihm und Michelle ähnlicher, als sie beide zusammen. Die nussfarbenen Augen,
gepaart mit dem hellblonden Haaren erinnerte ihn schmerzlich an seine Kindheit ohne seinen Vater. Auch Luis wuchs ohne ihn auf. Natürlich war Silas bewusst, das seine Schwester es als Alleinerziehende es wohl nicht leicht haben würden, doch sie liebte ihren Sohn über alles und hatte ihn nie nach Hilfe gefragt, seitdem er mit seiner Karriere begonnen hatte. Hilflos schüttelte er den Kopf. Der perfekte Tag war gebrochen, zum Meeting würde er heillos zu spät kommen. War es die Chance wert, das die unseriöse Zeitung eines mittellosen Jungen, die Wahrheit in sich trug. Jegliche Logik widersprach ihm und seine Überzeugung kämpfte verbissen
gegen ihn. Ehe er es sich weiter überlegen konnte, sah er ein vertrautes Kennzeichen. Silas Cartwood, Manager, betrat ein paar Schritte die Fahrbahn, nicht zu weit, nur um auf sich aufmerksam zu machen und winkte seine Schwester, die ihn mit überraschten Blick zurückwinkte, zu, anzuhalten. Abrupt hörte er hinter sich ein Krachen, als der Junge, dessen Zeitung er immer noch in der rechten Hand fest umschlossen hielt, in einer Mülltonne kramte. Wie in Zeitlupe glitt dem Jungen, mit den Augen von Luis, die Tonne aus der Hand, die daraufhin die abschüssige Straße hinunter zu rollen
begann. Silas, den Blick auf seinen geliebten Cousin gerichtet, fing dessen Blick auf und der kleine Junge lachte. Der Augenblick, der schien, eine Ewigkeit zu dauern, brach, als der junge, vermeintlich perfekte Mann von der Wucht der Mülltonne niedergerissen wurde. Für einen weiteren Augenblick, der die letzte Sekunde im Leben Silas‘ darstellen sollte, erinnerte er sich an die schönen Zeiten, die er gemeinsam mit der Familie verbracht hatte, bis er sich abgewandt hatte. Der Regen hatte die Fahrbahn durchnässt. Flüsse bildeten sich und liefen plätschernd in die Abflüsse, während Cafébesitzer auch die letzten
Stühle und Tische hinein holten.
Seine Schwester Michelle vermochte nicht mehr zu bremsen und schrie, beim Aufprall.
* *
„13.09.2015
Der 27-jährige Silas Cartwood verlor am gestrigen Tage, nach einem 24-stündigen Koma sein Leben. Der Unfallort ist die 6. Ecke der Maincoon Street.“