Nackt
Langsam gleitet das letzte Kleidungsstück zu Boden. Ich folge ihm mit meinem Blick, wage nicht aufzusehen. Ich kann deine Blicke hinter mir spüren. Wie sie über meinen nackten Körper gleiten, jede Einzelheit aufsaugen. Ich weiß genau, dass ich mich betrachten soll. Mich ansehen, mich komplett entblößen. Denn nackt ist nicht gleich nackt.
So hebe ich also meinen Blick in den Spiegel. Betrachte meine Füße, die Beine hinauf, die glatt rasierte
Scham, den kleinen Bauch, der mein Wunder eine ganz Zeit beherbergte. Weiter hinauf zu meinen kleinen, festen Brüsten mit ihren kecken, kleinen Nippeln. Ich mag diesen Anblick. Der Blick wandert über meine Arme, zu meinen Händen mit den langen, schlanken Fingern. Um dann über den Hals zu meinem Gesicht zu wandern. Die Lippen verziehen sich zu einem Grinsen dabei. Die Augen funkeln mich fröhlich, mit einem Anflug von Traurigkeit, an. Das Grün passt zu mir, denke ich. Eigentlich bin ich doch ganz hübsch.
Trotzdem fühle ich mich oft unwohl
und unsicher. Wer bin ich? All die ganzen Jahre war ich eine Partnerin, Ehefrau, Mutter, Arbeitnehmerin. Aber wer bin ich ohne das alles? Was macht mich aus? Ich weiß es derzeit nicht. Ich bin so hilflos, funktioniere nur. Das Leben geht weiter... Aber wie?
Eines Tages, wenn der ganze Kram verarbeitet ist werde ich es wissen. Dann steige ich aus der Asche wie ein Phönix.
Bis dahin genieße ich deine Gegenwart. Das Gefühl der Wärme und des Verstehens was ich bei dir habe. Du blickst tief in meine Seele, bist meine Stütze, ohne mich zu
etwas zu drängen. Bei dir bin ich einfach ich. Mit allen Höhen und Tiefen. Ich blicke wieder in den Spiegel, sehe deinen wissenden Blick. Die Wärme darin strömt durch mein Innerstes. Wärmt die kühle Seele.
Ich sehe wie du mich berührst, wie deine Hände meinen Körper berühren. Ich werde zu Wachs in ihnen. Langsam drehe ich mich zu dir herum, senke demütig den Blick. Ich weiß was ich gerade möchte. Dir das kostbarste schenken was ich besitze, mein Vertrauen. Ich sinke auf die Knie, gebe mich dir hin. Möchtest du dieses Geschenk
annehmen? Denn gerade zählt ausschließlich die Gegenwart. Alles weitere wird sich fügen. Ich vertraue dir und ich vertraue mir.
12. Januar 2018
(c) M.Rethorn