SCHREIBPARTY 66
Inspiriert vom Titel des Kinderliedes
Kommt ein Vogel geflogen
https://www.youtube.com/watch?v=z9ynTEZ5rSo
und folgenden 12 Vorgabeworten
Glas, Leben, Spiegel, Schnabel,
Liebste, Zettel, Freund, Morgenrot,
Schatten, Tanz, küsst, Wein
Buchcover: Handelsübliche Karte
Text : Martina Wiemers
Öffne den per Luftpost an mich geschickten Brief von Rosa, meiner Stiefmutter, schaue mir das Hochzeitsfoto von ihr und Bernhard kurz an und lese den Text auf dem beigelegten Zettel:
Meine liebste Tochter,
bin so glücklich. Bernhard ist wundervoll. Tanze und genieße mit ihm die Liebe.
PS.
Zur Testamenteröffnung wird mich mein Finanzberater vertreten.
Als Haupterbin neide ich dir keinesfalls Deinen Pflichtteil. Die kleine Farm in Afrika ist zwar etwas heruntergekommen, doch im Schatten der Palmen lässt es sich sicher sehr gut leben.
Doppelter Hohn und Spott. Bernhard war mein Freund. Sie hat ihn mir ausgespannt, damals auf der von ihr für mich organisierten Geburtstagsparty nach Vaters Tod. Er war betrunken als sie ihn auf den Mund küsste, bei Morgenrot verführte, schwanger wurde, ihn zur Heirat nötigte und ihm den Posten des Geschäftsführers in Vaters Firma versprach.
Ich stehe vor dem Spiegel und merke wie blanke Wut in mir aufsteigt. Die „Liebste Tochter“, das kann und will ich ihr nicht verzeihen.
Ich nehme eine Spritze mit ganz dünner
Nadel, ziehe Rizin ein, steche damit vorsichtig durch den Korken der letzten Rotweinflasche aus dem Jahr 1945, sehe zu wie sich die Flüssigkeiten vermischen und fahre mit dem Fingernagel über das winzige Einstichloch.
Den hölzernen Vogel mit dem bunten Schnabel aus Glas,Geburtstagsgeschenk von Bernhard, wickle ich vorsichtig in Seidenpapier, lege ihn oben auf die Flasche ins Paket und schreibe auf Büttenpapier mit Schönschrift folgende Zeilen an meine Stiefmutter:
Liebste Rosa,
Glückwunsch. Erspare dir und mir das persönliche Zusammentreffen. Habe viel
zu tun. Als Zeichen der Versöhnung schicke ich per Luftpost "Dem Brautpaar" die letzte Flasche Wein aus dem persönlichen Bestand meines Vaters. Du weißt ja, was sie Wert ist. Er hat sie mir zur Volljährigkeit geschenkt. Wir wollten auf meiner Hochzeit mit dem Bräutigam und dir auf unser neues Leben anstoßen. Das hat sich ja nun erübrigt. Habe keine Verwendung mehr dafür.
PS
Lege ein Foto von mir zur Erinnerung bei.
Zum Testamenteröffnung werde ich auf jeden Fall anwesend sein. Kann warten.
½ Jahr später .-.-.-.-.-.-.-.
Der Postbote klingelt an der Tür und überreicht mir einen Brief von der Notar- und Rechtsanwaltkanzlei Schmalbach in München. Ich öffne ihn und lese mit leicht zittrigen Händen:
Nach dem plötzlichen Ableben von Rosa und Bernhard Seibicke
erwarten wir Sie
am 30.April 2018, 14:00 Uhr
in unserer Notar- und Rechtsanwaltskanzlei München
zur Testamentseröffnung.
Bitte bringen sie zur Identifikation ihren Personalausweis mit.
Ich lege den Brief ins Schubfach des
Schrankes neben die Spritze mit der winzigen Kanüle, öffne das Fläschchen mit Rizin, rieche, lächle, gieße den Inhalt in die Toilette und spüle zur Vorsicht nach.