Kommt ein...
Gedankenverloren starre ich durch das Fenster vor mir, wie so oft in letzter Zeit. Wie lange ist es eigentlich schon her? Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren seit diesem Tag. Jedes Morgenrot ist ein Hohn für meine Gedanken. Sie sind absolut farblos. Wenn es gute Tage sind, sind sie höchstens mal grau statt schwarz. So hatte ich mir mein Leben nicht vorgestellt. In meiner Fantasie küssten wir uns auch beim Tanz durch die dunkelsten Schatten. Was bleibt davon bloß übrig? Nicht viel, denke ich. Nur eine einsame dunkle Seele, die von der Sonne ausgelacht wird, während sie unsichtbar zwischen Menschenmassen sitzt.
Das Glas spiegelt ungefiltert die melancholische Stimmung wider. Keine Ahnung wie viele scheiß Flaschen Wein ich bereits an den zahllosen Abenden geleert habe. Ohne Sinn und Verstand, denn der Verlust bleibt trotzdem und auch der Schlaf lässt sich so nicht finden. Stattdessen tigert man mit Herzrasen durchs dunkle Haus und überlässt der Schwärze die Macht. Scheiß gemeinsamer Traum mit dem Haus im Grünen, dass ich nicht lache. Alles nur auf Sand gebaut und ich schaue regungslos den Sandkörnern beim Rieseln zu. Ein unaufhörliches Rauschen erzeugt dieses Schauspiel. Dieses Geräusch verfolgt mich, ja sogar hier dröhnt es durch das Gemurmel der Menschen. Und ich? Ich starre immer noch
vor mich hin. Hänge den Gedanken an verlorene Zeiten nach. Genauso verloren fühle ich mich auch. Selbst meine Freunde wissen nicht, wo ich geblieben bin. Wie auch? Habe ich doch selbst keinen blassen Schimmer. Ich warte wohl auf das Vöglein, das geflogen kommt.
Oh man, eindeutig zu viele Kinderlieder gehört in der letzten Zeit. Aber das Radio kann ich derzeit einfach nicht ertragen. Jedes Mal katapultieren mich aus dem Hinterhalt gewisse Lieder zurück in mein Loch. Aber was erwarte ich schon von dem Vogel? Was bitte soll auf dem bescheuerten Zettel stehen? Für meine Liebste wohl kaum. Denn die bin ich ja für niemanden. Nein, ich bin die unscheinbare Person, die hier zwischen all
den übertrieben fröhlichen Menschen sitzt und Löcher in die Luft starrt.
Plötzlich knallt es direkt vor meiner Nase. Mein Herz rast wie wild, während wie in Zeitlupe ein Vogel die Scheibe hinunter rutscht. Im Schnabel hat er ein kleines Stück Papier. Nur ein einziges Wort ist zu erkennen: Lebe!
© M. Rethorn 06. Januar 2018