Biografien & Erinnerungen
Herz schlägt Krieg - Ein Leben im Schatten der Weltkriege

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"Das zwanzigste Jahrhundert. Zwei Weltkriege erschüttern Europa. Hilde Niggetiet, 1910 geboren, erzäh"
Veröffentlicht am 05. Januar 2018, 62 Seiten
Kategorie Biografien & Erinnerungen
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Über den Autor:

Ich bin 1966 in Witten geboren. Nach Abitur und einer Ausbildung zum Kommunikationselektroniker arbeite ich inzwischen als Integrationsbeauftragter. Mit dem Schreiben habe ich als Sachbuchautor begonnen. "Germanischer Bärenhund-Portrait einer außergewöhnlichen Hunderasse" war mein erstes Buch. Es sollte ursprünglich auch mein einziges Sachbuch bleiben. Eine Hundeausstellung, ein Geburtstag und ein Versprechen machten meinen Vorsatz zunichte. ...
Das zwanzigste Jahrhundert. Zwei Weltkriege erschüttern Europa. Hilde Niggetiet, 1910 geboren, erzäh

Herz schlägt Krieg - Ein Leben im Schatten der Weltkriege

Textprobe

Die Katastrophe                                         Das Leben ging weiter, als wäre nichts geschehen. In diesem Jahr war das Weihnachtfest wieder besonders schön.      Erich sagte: „Sieh nur, Heini, wie die Augen von dem Kleinen strahlen. Mir wird direkt warm ums Herz.“               „Ja“, sagte Heini, „ihr verwöhnt ihn ja auch ganz schön.“ Vater war ein bisschen traurig. Seine Stimme klang heute ganz anders. Später haben wir oft gesagt, ob er etwas geahnt hat. Er war doch sonst immer der Verrückteste.      Silvester waren wir alle platt. Vater ging schon um neun Uhr ins

Bett. Als wir um zwölf mit ihm anstoßen wollten, sagte er: „Bitte, Kinder, lasst mich schlafen. Seid nicht böse.“ Ich küsste ihn: „Päpsken, nur einen ganz kleinen Schluck.“ Da trank er mir zuliebe.                               Mutter meinte: „Er wird doch nicht krank werden. Er trinkt doch sonst so gerne einen.“                              Alle im Haus prosteten sich zu. „Frau Hake, wo ist denn Ihr Mann? Er ist doch nicht krank?“                        „Nein, er fühlt sich nicht gut.“                      Neujahr war Vater wieder als Erster auf. Zuerst fütterte er seine Tauben. Er hatte eine Fußbank auf dem Taubenschlag, da saß er eine geschlagene Stunde und beobachtete

seine Lieblinge. Dann schälte er die Kartoffeln, holte Kohl rauf und stocherte den Herd, bis die Platte rot war. Es sollte doch schön warm sein. Mutter und wir schliefen sonntags gerne ein bisschen länger. „Na, ihr Schlafmützen, jetzt wird es aber Zeit, sonst können wir gleich zu Mittag essen.“    Da wurden wir flink. Ich fragte noch: „Du treulose Tomate hast uns schön sitzenlassen gestern Abend. Du weißt doch, ohne dich gibts keine Stimmung.“                        „Ach, Kind, ich war nicht in Form. Macht euch nichts daraus. Heute werde ich euch dafür verwöhnen. Oh Gott, nächste Woche wirst du schon zwanzig, Hilde. Das wird aber gefeiert. Dann bin ich

wieder obenauf. Wo sind die Jahre nur geblieben?“ Wir Jungen gingen am Abend tanzen. Da waren die beiden froh, dass sie mal alleine waren. Erich und Rudi kamen zeitig ins Bett.                                                  Mutter war immer froh, wenn die Feiertage wieder um waren und alles seinen Lauf ging. Jetzt waren wir schon sechs Personen, mit meinem Freund sieben. Aber er war ja nur am Samstag und Sonntag da. Die Wohnung war auch nicht allzu groß.                                                     Ich freute mich schon auf meinen Geburtstag. Da wurde ich so richtig verwöhnt. Morgens musste ich erst zur

Arbeit. Vater hatte Mittagsschicht, aber er war schon ganz früh aufgestanden und hatte das Frühstück für mich gemacht. Er war der Erste, der mir gratulierte. „Mein Mädel, zwanzig Jahre! Wie schnell doch die Zeit vergeht!“               „Oh, Paps, wie schade, dass du nicht mitfeiern kannst.“  „Das holen wir nach, mein Mädel. Aber zur Vorsicht esse ich jetzt schon ein Stück Kuchen, sonst kriege ich vielleicht keinen mehr mit.“                                     „Vater, da kennst du mich aber schlecht. Zuerst lege ich etwas für dich zurück.“                                   Wir haben noch eine ganze Zeit geredet. Dann sagte er laut, dass alle wach wurden: „Hilde hat

Geburtstag!“             Da sprangen sie auf ihrem Betten. Selbst unser kleiner Rudi krähte. Der Tag fing ja gut an. Ich wäre bald zu spät zur Arbeit gekommen, habe es noch so eben geschafft.      Mittags nach dem Essen konnte ich nach Hause gehen.       Das war ein Geburtstag! Erich spielte Mundharmonika. Wir haben getanzt und gejucht. Die Füße brannten uns.      Mutter war so lustig wie lange nicht mehr. Tante Anna schlug immer wieder die Hände über dem Kopf zusammen und sagte: „Lisbeth, du bist gar nicht wiederzuerkennen. Deinem Heinrich wird doch nichts passieren.“                    „Oh, Anna, mal bloß nicht

den Teufel an die Wand.“        Von da an war Mutters Stimmung hin. Es wurde Abendbrot gegessen und noch ein Gläschen getrunken. Dann verabschiedete sich der Besuch. Es war schon fast zehn. Mutter sagte: „Hilde, geh du auch ins Bett.“            „Ach, ich möchte warten, bis Vater kommt.“              „Nein, es wird zu spät für dich, mein Mädel, du musst morgen früh aus den Federn.“                                   „Dann gute Nacht.“ Ich gab ihr noch einen herzhaften Kuss: „Das war für die schönen Geschenke und für den schönen Tag.“

                                                      Plötzlich hörte ich einen furchtbaren Schrei. Zuerst dachte ich, ich träume. Aber da hörte ich Männerstimmen und dazwischen immer wieder Mutters Worte: „Das kann nicht sein!“                                                    Ich zog mir schnell einen Mantel über und lief in die Küche. Morgenröcke gab es ja nicht.                               Da sagte einer der Männer: „Frau Hake, beruhigen Sie sich doch, er ist doch nur eingeschlossen. Vielleicht können ihn seine Kumpels noch retten.“                               „Oh ja, so wird es sein. Hilde, hol schon meine Sachen, dann kann ich gleich bei ihm sein.“

                           Die Leute aus dem Haus liefen zusammen. Sie hatten das Schreien gehört. Sie versuchten, Mutter zu trösten.        Da kam Heini von der Zeche, er hatte auch Mittagsschicht. Sie sah gleich, was los war, da war sie auf einmal ruhig. Sie konnte es nicht glauben. Er war doch noch so jung: 44 Jahre. Sie hatte ihn noch mittags mit Rudi ein Stück begleitet.                                              Heini sagte: „Mutter, seine Kumpels hatten ihn schon fast frei, da kam die Kohle von neuem runter. Es gab keine Rettung. Vielleicht wenn ich dabei gewesen wäre, wäre mir noch was eingefallen. Sein bester Freund ist mit ihm umgekommen.

Er war noch ein paar Jahre jünger als Vater. Die Kumpels, die ihn befreien wollten, waren ganz erschöpft und klitschnass geschwitzt und wären beinahe noch mit verschüttet worden.“                                      „Oh Gott“, sagte Mutter, „nur das nicht.“              Mutter konnte es nicht fassen, dass Vater sie alleine gelassen hatte. Drei Tage lang hat sie nichts angerührt. Tante Anna hat ihr immer eine kräftige Brühe gemacht, davon trank sie nach vielem Bitten einen Schluck.        „Lisbeth“, sagte Tante Anna, „du musst dich zusammenreißen. Denk an die Kinder. Besonders an Erich, er braucht dich.“ Ich habe nie wieder so einen

traurigen Menschen gesehen. Sie war so weit weg mit ihren Gedanken, hat uns einfach nicht verstanden. Am Beerdigungstag mussten wir sie wie ein kleines Kind anziehen. Als wir nach draußen kamen, waren wir platt: Tausende von Menschen! Der Trauerzug wollte kein Ende nehmen. Selbst die Zeitungen waren voll, dass noch nie ein Arbeiter eine solche Beerdigung gehabt hätte. Ein paar von seinen Tauben begleiteten den Trauerzug. Der Korb war mit einem schwarzen Tuch bedeckt. Mutter ging hinter dem Sarg her, sie wollte nicht gefahren werden. Aber als alles vorbei war, brach sie auf dem Friedhof zusammen.                 Der

Taubenkorb wurde zum Schluss geöffnet. Es war unglaublich: Die Tiere hatten keine Angst und setzen sich um das Grab herum. Der Totengräber erzählte uns später, dass die Tauben noch nach drei Tagen über das Tag geflogen seien. Wir haben es manchmal nicht geglaubt, aber es wird schon so gewesen sein.                                           Jeden Abend ging Mutter zum Friedhof, danach wurde sie ruhiger. Wenn ich es eben schaffte, begleitet ich sie. Unser Stummel ging auch mit. Er hatte eine ganz wunderschöne Taube gemalt und sie Vater in den Sarg gelegt, ohne etwas zu sagen. Mutter freute sich darüber und sagte: „Mein Kleiner, du wirst mir keine

Sorgen machen.“                        Heini und ich gingen nach ein paar Monaten wieder unserem Vergnügen nach. Damit war Mutter auch einverstanden. Aber ein ganzes Jahr gingen wir jeden Sonntag zum Friedhof. Vaters Grab war wie ein Blumenmeer. Die anderen waren noch nicht verwelkt, dann waren schon wieder frische drauf. Schaffte es Mutter mal nicht, fuhr ich mit dem Fahrrad. Wir hatten ja selbst viele Blumen im Garten, da brauchten wir kein Geld dafür auszugeben.                                                                                         Mit der Zeit hatte Mutter sich mit dem Schicksal versöhnt. Tante Anna, auch Tante Mimmi standen

Mutter immer zur Seite. Auch Vaters Geschwister, besonders sein Bruder Ludwig und seine Frau, die tolle Emma. Er kümmerte sich um die Rente  und nahm Mutter alles ab, was eben möglich war.           Sie kannte sich ja in nichts aus. Onkel Ludwig umso besser. Tante Emma ließ keine Trauermine aufkommen. Wenn sie uns besuchten, war was los. Ich machte ja die schönsten Handarbeiten. Dafür hatte sie immer Verwendung. Sie hatten ein ganzes Haus und waren herrlich eingerichtet, das war für jede Handarbeit ein besonderer Platz. Darum gab ich auch immer gerne etwas ab.                                     Ich liebte das Schöne und freute mich, wenn ich sie

besuchen durfte. Onkel Ludwig hatte einen Narren an mir gefressen. Mutter hatte mich auch immer piekfein, und ich war immer guter Laune. Sie hatten drei Söhne, da war ich Hahn im Korb. Aber je älter wir wurden, umso seltener wurden die Besuche.

Auch Vaters Schwestern besuchten uns. Eine war netter als die andere. Sie hatten gerade Vater alle besonders lieb. Es ging nur immer um ihn. „Unser Heinrich, unser Heinrich.“  Sie konnten es nicht begreifen, dass gerade ihn, der niemandem etwas zuleide getan und nur Frohsinn und Freude verbreitet hatte, das Schicksal so hart traf.               Aber wie

es nun mal ist: Das Leben muss weitergehen. Die Arbeit ließ Mutter nicht viel Zeit zum Nachdenken. Sie war glücklich, dass sie sich um mich keine Sorgen zu machen brauchte.

Kinderlandverschickung

Mutter und Kind Landverschickung Edith und ihre Freundin Lotti kamen Ostern in die Schule. Davon wollten die beiden aber noch nichts hören. Ich dachte aber schon oft daran: Hoffentlich ist bis dahin der Krieg zu Ende. Es gab immer mehr Fliegeralarm. Die Mütter mit den Kindern sollten evakuiert werden, damit wenigstens sie in Sicherheit waren. Ich sträubte mich mit Händen und Füßen, ich wollte meine Lieben nicht alleine lassen, und Dötken war ja noch so klein. Kinderlandverschickung 1941

Es vergingen Monate. Wir hatten schon April. Alle sprachen mir gut zu: Du musst an die Kinder denken, wenn ihnen etwas passiert, würdest du es dir nie verzeihen. Und was so viele können, das kannst du doch auch. Ich hatte schon zum dritten Mal Bescheid gekriegt: In vier Wochen, am 12. Mai ging der Transport los. Ich dachte: Zwei Kinder, und unser Dötken ist noch so klein und zart und empfindlich, hoffentlich bekomme ich da auch Alete-Milch, sonst

sehe ich aber schwarz. „Wenn nicht“, sagte Erwin, „dann schicke ich dir welche.“ Meine Nachbarin hatte auch Bescheid, sie hieß Frau Möhl und hatte drei Kinder. Ihr Mann war schon ein paar Jahre im Krieg. Sie war eine sehr liebe und verträgliche Frau. Da entschloss ich mich dann mitzufahren. Mein Erwin und auch Mutter waren froh: „Dann seid ihr doch wenigstens nicht mehr in Gefahr.“ Jetzt wurde gepackt. Es sollte vorerst für ein halbes Jahr sein. Edith und Frau Möhls Kinder freuten sich schon wie die Könige, dass sie mit dem Zug fahren konnten. Aber ich war so aufgeregt, konnte nachts kaum noch schlafen. Was mir nicht alles im Kopf herumging!

Hoffentlich sind die Leute nett zu meinen Kindern. Aber dann war es endlich so weit. Der Bahnsteig in Dortmund war schwarz von Menschen. Alles Mütter mit ihren Kindern. Die Männer, die sich von ihren Lieben verabschieden wollten, konnte man zählen. Die meisten waren ja im Krieg. Unserem Papa wurden die Augen nass, ich hätte nie geglaubt, dass ihm der Abschied so schwerfiel. Er zeigte nicht oft seine Gefühle. Ich heulte auch einfach los. Und ich hatte mir doch so fest vorgenommen, stark zu bleiben. Am schlimmsten waren die Omis. Unsere war nicht mitgegangen. Sie sagte: „Hilde, was denkst du, was Edith für ein

Theater macht.“ Sie hatte Recht. Die Kinder heulten, als säßen sie am Spieß. Sie wollten gerne die Omas mitnehmen. Aber als der Zug sich in Bewegung setzte, wurden sie still. Alles drängelte sich an die Fenster und winkte mit den Taschentüchern, bis nichts mehr zu sehen war. Das hätte wohl niemand gedacht, dass der Abschied so schwerfallen würde. Dann gingen die Kinder auf ihre Plätze. Es gab ja zum Trost für jeden etwas zu Schluckern. Sie hatten ihren Kummer schnell vergessen. Bei uns Frauen war das anders. Wo werden wir wohl landen? Die Fahrt lenkte uns ein bisschen ab. Das Siebengebirge, der Drachenfels, dann die

Mosel mit ihren vielen Weinbergen. So eine schöne Fahrt hätten wir ohne Hitler nie machen können. Jetzt war es eine Stimmung! Jeder gab sein Bestes. Nun nahte schon die Eifel mit ihren Burgen. An jeder Station stiegen einige aus. Frau Möhl, Frau Drewitz und ich kamen in einen Kurort: Manderscheid. Wir wurden mit Pferd und Wagen abgeholt. Es ging über hohe Berge. Wir konnten nur immer wieder sagen: „Herrlich! Herrlich!“ Uns verschlug es fast die Sprache. Für einen Moment hatten wir alle unsere Sorgen vergessen. Aber dann kam das Fiasko: Wir kamen in ein Hotel. Keine Bade- und Waschgelegenheit für unser Dötken. Ich

war verzweifelt. Sonst waren die Leute sehr nett. Der Tisch war hübsch gedeckt. Es gab Spargel mit gekochtem Schinken. Ich hatte nie zuvor Spargel gegessen, auch Frau Möhl nicht. Wir haben nicht gegessen, wir haben auf Deutsch gefressen. Für diesen Tag hatte ich noch genug Alete-Milch für unser Dötken, aber es wurde immer weniger. An diesem Abend fielen wir müde ins Bett, selbst meine Edith-Maus. Am anderen Morgen stand schon unser Frühstück auf dem Tisch. Aber ich konnte nicht bleiben. Ich ging in die Apotheke und wollte für Dötken einkaufen. Alete-Milch gab es nicht. Die Frau fragte: „Warum sind Sie so verzweifelt?“

Ich sagte: „Die Leute sind so nett, aber es gibt keine Gelegenheit für mein Baby.“ „Passen Sie auf, ich gebe Ihnen eine Adresse von sehr, sehr netten Leuten, Familie Pias, Mosebergstraße 35. Sie sagen, dass ich Sie geschickt habe.“ „Oh Gott, ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.“ Ich rannte gleich los. Die Frau war mir gleich sympathisch. Sie waren sechs Personen, drei Töchter, ein Opa, Herr und Frau Pias. Sie wollten sich gerne das Geld mitnehmen, was die Regierung für uns bezahlte. Das war ja nicht wenig. Sie hatten einen kleinen Hof, alles pieksauber. Ich versprach ihnen, dass ich helfen

würde, wo ich könne. Die jüngste Tochter nahm einen Leiterwagen, um meine Koffer zu holen. Ich nahm meine beiden Schätzchen, verabschiedete mich von Frau Möhle und der Wirtin. Sie sah ein, dass hier kein Platz für ein Baby war. Frau Pias war eine herzensgute Frau. Die Familie hatte uns gleich ins Herz geschlossen. Bei uns war es genauso. Wir hatten ein schönes Zimmer, nur kein Kinderbettchen. Frau Pias holte einen Waschkorb, ein paar Kissen, die wurden frisch bezogen. Sie zeigte mir, wo ich meine Kinderwäsche waschen konnte. „Frau Niggetiet, Sie können sich hier bewegen wie zu Hause. Für Ihre Kinder

ist gesorgt.“ Ihre Töchter waren schon erwachsen. Sie waren ganz toll auf meine beiden Schätzchen. Edith war ein prächtiges Kind. Aber Döttken war so zart und wollte nicht essen. „Das kriegen wir schon hin. Wir haben Kühe, da können die Kinder so viel Milch trinken, wie sie mögen.“ „Ach, Frau Pias, leider geht das nicht, die Kleine darf nur Alete-Milch. Sie ist so sehr empfindlich. Ich schreibe noch heute Abend einen Brief, dass mein Mann die Milch schickt. Sie ist in Pulverform und wird in Wasser aufgelöst. Frau Pias, ich bin so glücklich, dass meine Kinder gut aufgehoben sind. Ich glaube, Sie werden es nicht bereuen. Ich

helfe Ihnen, wo ich kann. An Arbeit fehlt es ja nicht.“ „Das ist gut so. Da überwindet man die Trennung leichter.“ Hilde mit Edith und Dötken Des Morgens war der Frühstückstisch gedeckt. Es gab ein wenig Butter, Klatschkäse, selbstgemachtes Brot. Meine Edith war nicht begeistert, das kannte sie nicht. Frau Pias merkte es gleich und holte noch ein kleines Schälchen mit Marmelade. Das schmeckte dem Stummel schon besser. Ich badete Döttken und gab ihr das Fläschchen. Da meinte Frau Pias: „Jetzt können Sie erst mal Ihre Bekannten besuchen.“

„Oh nein, das hat Zeit bis heute Nachmittag. Jetzt helfe ich erst mal. Sie wollten doch aufs Feld. Da mache ich die Hausarbeit.“ „Aber Frau Niggetiet, das können wir doch nicht verlangen.“ „Ich mache es aber gerne.“ Anna ging mit. Herr Pias musste alles Getreide mit der Sense schneiden. Anna, Johanna und Frau Pias machten Garben daraus und stellten sie auf. So trocknete alles schneller. Dann musste noch das Gras geschnitten werden und hinterher ein paarmal gewendet. Ich habe manchmal dabei geholfen, ich kannte das ja von zu Hause, wenn Heini Gras geschnitten hatte für die Ziege und die Kaninchen.

Es kam einem alles wieder zupass. Die brauchten im Winter ja auch Heu. Je öfter man es wendete, umso schneller konnte es eingefahren werden. Familie Pias war ganz erstaunt, was ich so alles schaffte. Für mich war das das Schönste, dass wir immer am gedeckten Tisch sitzen konnten. Frau Pias kochte nicht schlecht. Vor dem Essen wurde immer das Vaterunser gebetet. Das sprach meistens der Großvater. Es war Herr Pias‘ Vater. Er wurde überhaupt nicht mitgerechnet. Seine Glieder waren steif vom Arbeiten, und er konnte sich nur auf zwei Stöcken bewegen. Darum mochten sie ihn wohl nicht. Das tat mir schrecklich leid und ich versucht, ihm

das Leben ein bisschen schön zu machen. Döttken saß jetzt schon im Wagen. Am Nachmittag, wenn alle fertig waren, trafen wir drei Frauen uns. Gott, haben die Kinder da herumgetobt. Es war ja alles nur Wald, alte Burgen und überall kleine Tempelchen mit Tischen und Bänken. Da konnten wir unsere Briefe schreiben. Ich machte noch manches schöne Gedicht. Ich war so gefangen von der schönen Natur, sie zu beschreiben bräuchte ich zu lange Zeit. Aber von zwei besonders schönen Stellen möchte ich noch erzählen. Wir waren schon ein paar Wochen da. „Oh!“, rief ich, „Seht nur die herrlichen Tannen! Kerzengerade und so hoch, als berührten

sie den Himmel.“ Die Kinder rannten immer voraus: „Mutti! Mutti!“, rief Edith, „Sieh nur, Blumen im Wasser.“ „Mein Kind, das sind Seerosen.“ Um den See herum alles kleine Nischen mit Bänken. Meine Bekannten waren sonst kein bisschen romantisch, aber dieser Anblick hat sie doch gefesselt. Frau Drewes sagte: „Hilde, hoffentlich hast du dein Büchlein dabei. Das hier wird wohl dein schönstes Gedicht.“ Sie hatte Recht. Es war das Schönste, was ich je geschrieben habe. Leider sind sie nicht mehr da. Die Kinder hatten, ohne dass wir es gesehen hatten, ein paar Seerosen abgerissen. Wir

haben geschimpft. Aber die Kleinen wussten doch nicht, dass das verboten war. Jeder durfte eine behalten, aber dass es nur niemand sieht. Frau Drewes meinte: „Seht nur das Döttken, wie gerade es sitzt. Und mein Kleiner ist schon ein halbes Jahr älter und liegt immer nur auf dem Rücken.“ „Ach, mach dir doch keine Sorgen, er ist nur zu dick und zu schwer.“ Dann war sie beruhigt. Es wurde schon langsam dunkel. „Kinder, es wird Zeit.“ Sie konnten einfach kein Ende finden. Waren die glücklich. Hatten längst den Fliegeralarm vergessen. Sie konnten toben bergauf, bergab, durch die alten Burgen flitzen, barfuß durch die

kleinen Bäche waten. Und die gesunde Luft. Selbst wir Frauen haben oft an nichts und niemanden mehr gedacht. Die beiden haben mich immer beneidet, dass mein Erwin nicht in den Krieg brauchte. Frau Möhle hatte schon sechs Wochen keine Nachricht von ihrem Mann. Das machte uns alle oft traurig. Aber wir ließen uns nichts anmerken und versuchten, ihr Mut zu machen. Sie war ein lustiger Typ und nahm es nicht so ernst. Ich bekam jeden zweiten Tag Post und schrieb jeden Abend einen langen Brief mit einem kleinen Verschen dabei. Frau Pias stand schon in der Haustür und fragte: „Frau Niggetiet, wir haben uns heute

schon Sorgen gemacht.“ Frau Möhle meinte: „Unserer Wirtin ist egal, wann wir nach Hause kommen. Um uns macht sich keiner Gedanken.“ Ich antwortete: „Da seid ihr aber auch selber ein bisschen schuld. Ihr müsst den Leuten auch mal ein bisschen bei der Arbeit helfen. Das wirkt Wunder. Versucht es doch mal. Die haben es auch nicht leicht: Jeden Tag fremde Menschen um sich.“ „Hör mal, dafür werden sie ja gut bezahlt.“ „Ich würde es trotzdem mal versuchen.“ „Hilde, vielleicht hast du Recht.“ Frau Pias grinste sich eins ins Fäustchen. Ich sagte: „Heute war es besonders schön.“

„Dann lesen Sie uns Ihr Gedicht vor.“ Das machte ich dann. „Oh Gott, wie schön“, sagte Änne. „Können Sie mir nicht mal eines machen für unbekannte Soldaten in meinen Briefen?“ „Sicher, Änneken. Wenn ich nur das Richtige treffe.“ Wir verstanden uns alle prima. Herr Pias fragte oft: „Wie steht es Ihnen denn ums Herz, Hildchen?“ Nur Johanna war ein kleines Biest. Elisabeth, die Älteste war in Neuenahr. Sie war Serviererin, verdiente viel Geld und konnte ihre Familie ein bisschen unterstützen. Der kleine Hof brachte nicht allzu viel ein, es reichte gerade für

Essen und Kleidung. Sie machten ihre Kleider alle selbst. Wenn ich es ihnen dann noch ein bisschen bestickte, waren sie begeistert, wie hübsch das gleich aussah. Meine Edith, Döttken und auch ich trugen nur gehandarbeitete Sachen. Manchmal hatten die Kinder nur Kleidchen aus Nessel und ganz bestickt. Da schaute uns so mancher nach. Die Schlüpferchen und Söckchen strickte ich aus Baumwolle. Nur Nähen lag mir nicht. Es war zu dumm. Aber wer kann schon alles. Abends musste ich immer mit meiner Edith ins Bett. Das verstanden die Leute nicht. Ich war aber froh, wenn ich ein bisschen für mich allein war, da konnte

ich in aller Ruhe an meine Lieben daheim denken. Es war ja zu Hause noch viel, viel schlimmer mit den Alarmen geworden. „Sieh nur, Mutti, wie süß unser Döttken aussieht. Wie ein Engelchen. Sie hat schon richtig dicke Bäckchen gekriegt.“, schrieb ich Mutter. Die Flieger mit ihren Bomben flogen abends über uns hinweg, dann beteten wir, dass der liebe Gott unsere Lieben beschützen möge. Wie viele Tote wir zu Hause durch Bombenangriffe hatten, wusste niemand. Unser Papa schrieb zwar immer, wir brauchten uns keine Sorgen zu machen und ich sollte ja mit den Kindern aushalten. Auch Mutter und die Jungen schrieben es immer und

immer wieder: „Es ist das Beste für dich und unsere Lieblinge. Sicher, wir haben schon manchmal ein bisschen Heimweh. Das unterdrücken wir aber schnell wieder. Die Vernunft muss siegen.“ Erich ging es auch ein bisschen besser. Papa aß in der Fabrik in der Kantine. Er musste ja zwölf Stunden arbeiten, manchmal auch noch mehr. Aber trotzdem half er Mutter noch im Garten. Sie schaffte nicht alles alleine. Aber sie hatten wenigstens reichlich zu essen, Gemüse, Beeren, Kartoffeln und Eier. Nur kein Obst und keine gute Butter. Ich ging oft über Land, schacherte ein bisschen zusammen und schickte es nach Hause. Aber allzu viel hatten die

Menschen hier ja auch nicht. Nur Obst, das wuchs an den Straßen. Die Bäume hingen so voll, dass wir nur zuzugreifen brauchten. Das ging mir alles durch den Kopf. Ich war abends todmüde und schlief bald ein. Morgens wachte ich durch Döttkens Kreischen auf. Sie wollte schon erzählen. Aber ich verstand nichts. Dann holte ich sie erst mal zu uns ins Bett. Haben wir drei geschmust! Edith war immer außer sich vor Freude und wurde ein bisschen laut. Dann stand ich auf und zog mich an. „So, Edith, jetzt schnell, sonst gibt es nichts mehr zu essen.“ Dann wurde sie flink. Döttken badete ich immer nach dem Frühstück, dann bekam

sie einen Zwieback mit Alete-Milch. Unser Papa hatte reichlich geschickt. Pias gingen gleich aufs Feld, ich machte wie immer den Haushalt. Das war ein ganz schönes Stück Arbeit. Nur ihr Schlafzimmer machten sie selbst. Ich tat es gern. Der Großvater war glücklich, wenn er alleine mit uns war. Er sagte einmal zu mir: „Frau Niggetiet, das Döttken werden Sie nicht behalten. Sie ist ein kleiner Engel und gehört dem Himmel.“ „Aber Opa, sagen Sie so was nicht wieder! Sie haben mich vielleicht erschreckt.“ „Oh, das wollte ich nicht.“ „Schon gut, ich weiß, dass Sie es nicht böse gemeint haben.“ Ich habe noch

schnell die Wäsche gewaschen, jedes Teil wurde auf ein Brett gelegt und mit einer Bürste geschrubbt. Dann habe ich die Wäsche nach draußen gehängt. Wir hatten unten im Schuppen Leinen gespannt. Die Wäsche war blütenweiß. Opa meinte: „Frau Niggetiet, lassen Sie sich nur nicht ausnutzen. Ich finde, meine Familie hält das alles schon für selbstverständlich.“ „Ach, Opa, Sie meinen es gut mit mir, aber ich tue es gern.“ „Oh, Kind, verrate mich ja nicht.“ „Wie könnte ich? Dazu habe ich Sie viel zu lieb?“ Er war wirklich ein armer alter Mann. Ich versuchte, ihm das Leben leichter zu machen. Dafür war er so

dankbar. Edith und auch Döttken hingen sehr an ihm. Herrn Pias ging es oft gegen den Strich, wenn seine Familie ihn wie ein Stück Dreck behandelten. Aber er hatte aufgegeben, denn gegen drei kam er nicht an. Sonst hatte die Familie ein herzliches Verhältnis zueinander. Nachmittags trafen wir uns meistens. Meine Bekannten holten mich dann bei Pias ab. Dann ging das Geschnatter los. Frau Pias rief: „Edith, du hast die Butterbrote vergessen.“ Sie hatte auch ein paar Äpfel und eine Flasche Milch eingepackt. Änne steckte alles unten in den Wagen und spielte noch mit Döttken. „So, jetzt haut aber ab, sonst lohnt es sich nicht mehr.“

Frau Pias rief noch: „Vielen, vielen Dank, Frau Niggetiet, ich habe mich so gefreut, dass Sie die Wäsche gewaschen haben, da kann ich mich mal eine Stunde hinlegen. Laufen Sie nicht mehr so weit, Sie haben so viel geschafft.“ „Ich bin ja noch jung. Wir werfen uns irgendwo ins Gras.“ „Viel, viel Spaß, bis heute Abend.“ Das haben wir gemacht. Die Kinder rannten schon voraus. Am Hügel machten sie Halt. Ich nahm Döttken aus dem Wagen, legte sie neben uns auf eine Decke. Aber sie rutschte immer wieder runter. Das ging fast eine ganze Stunde lang. Frau Drewes war traurig, der kleine Mann lag, wie er lag, obwohl er doch ein

halbes Jahr älter war. Frau Möhle sagte: „Die Ruhe hat er bestimmt von dir geerbt.“ Frau Drewes antwortete: „Dich trete ich gleich irgendwohin.“ „Langsam“, sagte ich, „ihr wollt euch doch nicht streiten.“ „Ach, Hilde, ist doch alles nur Spaß.“ Döttken war müde. Ich legte sie in den Wagen. Die Großen tollten immer wieder den Abhang herunter. „Wer es von euch dreien am schnellsten schafft.“ Edith rief: „Meine Mutti" natürlich.“ „Sei dir da nur nicht so sicher, du kleiner Fratz.“ Die Kinder kugelten sich vor Lachen. Frau Möhle war fast so breit, wie sie lang war. Ihre Kinder schrien: „Mutti, du rollst

bestimmt wie ein Fass.“ Es muss ein Bild zum Schießen gewesen sein, als wir so nebeneinandergelegen haben. Ich sagte: „Eins, zwei, drei!“ Da kullerten wir mit einem Tempo runter bis in die Wiese. Vor Lachen kamen wir nicht mehr hoch. Ich frage: „Wer war denn nun die Erste?“ Niemand wusste es. Also das Ganze noch einmal, aber jetzt gut aufgepasst, wer zuerst ins Ziel kommt. Christel und Edith stellten sich unten hin, Hans Hildebrandt blieb oben stehen, damit wir nicht schummelten. Jetzt zählte der Junge ab. Ich gab mir einen Schubs, aber Frau Möhle rollte tatsächlich wie ein Fass und war als Erstes unten. Wir haben

uns fast die Hose nassgemacht. Wir hatten noch nie so gelacht. „Kinder, jetzt wird es aber Zeit, nach Hause zu gehen.“ Als ich in den Wagen schaute, traf mich fast der Schlag: „Kommt schnell und seht euch das an. Dieses Schweinchen hat ihr Häufchen gemacht und alles verschmiert.“ Das Gesichtchen war nicht mehr zu erkennen. Die anderen wollten sich halb totlachen. Ich wischte das Gröbste ab. „Was wird Frau Pias sagen?“ Ich rannte so schnell ich konnte nach Hause. „Frau Niggetiet, Sie sind ja ganz abgekämpft, was ist geschehen?“ „Schauen Sie nur in den Wagen.“ Sie platzte gleich los vor Lachen und

Änne und Herr Pias mit. „Frau Niggetiet, ich helfe Ihnen schnell. Der Schaden ist gleich behoben.“ „Wir hatten so viel Spaß, da habe ich gleich gesagt, das gibt noch was heute Abend.“ „So, ich denke, die Kleine schläft.“ Frau Pias übernahm den Wagen. Ich badete Döttken. „Sehen Sie, Frau Niggetiet, jetzt konnte ich auch mal etwas für Sie tun.“ „Das stimmt doch nicht. Sie sorgen dafür, dass wir uns an jeder Mahlzeit sattessen können. Das erfordert viel Arbeit und Sorge. Es sind ja immerhin drei Menschen. Es ist das Schönste für mich, immer am gedeckten Tisch. Sie

kochen so leckere Sachen. Das Brot zu backen macht so viel Arbeit. Das Buttern dauert eine ganze Stunde. Ihr Garten ist ein Schmuckstück. Ihre Blumenkisten. Sie haben die schönsten Blumen in der ganzen Rosenbergstraße. Alles muss gehegt und gepflegt werden. Und von alldem zehre ich mit.“ „Frau Niggetiet, so ein schönes Lob habe ich in meinem Leben noch nie bekommen. Ich weiß, was wir Frauen schaffen, ist eine Selbstverständlichkeit.“ „Frau Pias, jetzt muss ich die Kinder ins Bett bringen. Vielleicht komme ich noch für eine Stunde runter, wenn Edith schnell einschläft. Morgen ist Sonntag, da können wir ja alle ein bisschen länger liegenbleiben.“

Ich hatte Glück, Edith schlief gleich ein, da konnten wir noch ein bisschen erzählen. Änne backte noch schnell einen Streuselkuchen. In den Spätnachrichten hörten wir, dass man auf das Ruhrgebiet einen furchtbaren Bombenangriff gemacht hatte. Wir waren erschüttert. „Ich habe es doch gesagt, dass heute Abend noch etwas Schreckliches passiert.“ Frau Pias versuchte mich zu beruhigen: „Aber Frau Niggetiet, das Ruhrgebiet ist groß. Ihr Mann und Ihre Angehörigen wohnen doch abseits, da werfen die ihre Bomben nicht ab. Die wollen doch nur die Fabriken treffen.“ Aber

meine gute Laune war hin. Habe ich an diesem Abend gebetet. Ich konnte einfach nicht einschlafen. Mein Erwin hatte sich sofort hingesetzt und einen langen Brief geschrieben. Er wusste, was ich mir für Sorgen machte. Auch Erich schrieb wenigstens jede Woche ein- bis zweimal, damit wir ja kein Heimweh kriegten. Als ich am Montag die Briefe in Empfang nahm, war ich beruhigt und erzählte es gleich meinen Bekannten. Frau Möhle hörte nichts von ihrem Mann. Frau Drewes Mann war nicht an der Front. Sie bekam öfter Post. Er hatte seinen Sohn aber auch noch nicht gesehen.

Die Kinder merkten ja nichts vom Krieg, und das war gut so. Wir verlebten eine herrliche Zeit, waren immer für die Kleinen da. Ich hatte mich schon prima erholt. Edith hatte dicke roten Backen. Auch unser Döttken blühte ein bisschen auf. Ich dachte längst nicht mehr daran, was Großvater gesagt hatte. Sie stand schon auf ihren zarten Beinchen. „Bald läuft sie daher“, meinte Frau Pias. „Daran glaube ich nicht.“ Jetzt waren wir schon zwei Monate hier. Die Zeit ging so schnell rum. Der Sonntag war immer am schönsten. Haben sich die Frauen gepflegt. Änne polierte stundenlang ihre Fingernägel. Ich war

sprachlos. Wenn sie dann alle zusammen zur Kirche gingen, sah man ihnen nicht an, dass sie eine Bauernfamilie waren. Sie erweckten den Eindruck, als stammten sie aus den feinsten Kreisen. Nachmittags schrieb Änne, obwohl sie einen festen Freund hatte, an unbekannte Soldaten. Da musste ich wieder diktieren. Was bekam sie für Liebe und dankbare Briefe zurück. Änne meinte dann: „Das geht alles auf Ihr Konto, Frau Niggetiet.“ „Änneke, es war deine Idee.“ „Aber am meisten freuen sie sich über Ihre Verse. Ich weiß nicht, wie Sie so was schaffen.“ „Weißt du, Änne, die herrliche Gegend inspiriert mich, und ich kann mich so

richtig in die Lage der armen Jungens versetzen. Immer den Tod vor Augen. Aber unsere Leute daheim sind auch arm dran, sie haben keine Verteidigungsgelegenheit, müssen warten, bis man ihnen die Bomben auf die Häuser wirft. Ihr könnt es euch gar nicht vorstellen. Oft verbrennen sie in ihren Luftschutzkellern, wollten sich durch die Kellerfenster retten und schmorten durch den Phosphor an den Eisenstäben fest. Kinder, es ist grauenhaft. Nach dem Angriff auf Wuppertal-Elberfeld wollten sich die Menschen in die Wupper retten, aber sie kamen nicht so weit, schmorten auf den Asphaltstraßen fest und verbrannten. Wir

konnten von uns aus den Angriff beobachten. Wir haben alle geheult wie die kleinen Kinder. Oh Gott, ich will nicht mehr daran denken. Wir können doch nichts ändern. Hoffentlich nimmt das bald ein Ende. Darum bin ich auch so dankbar, dass ich mit meinen Schätzchen bei Ihnen sein darf.“ Frau Pias sagte: „Das ist doch selbstverständlich. Es könnte genauso gut umgekehrt sein. Aber jetzt trinken wir erst mal Kaffee und essen Kuchen.“ Sonntags blieben wir meistens mit Familie Pias zusammen, dann war es so gemütlich. Die anderen Tage sahen wir uns fast nur bei den Mahlzeiten. Abends ging ich früh mit den Kindern ins

Bett. Ich war dann auch geschafft. Die Kinder konnten einen ganz schön strapazieren. Es waren ja sieben Rabauken, da war oft was los. Im Herbst kam Edith in die Schule. Papa schickte einen Tornister, Tafel und Griffel. Omi hatte sogar einen Riegel Schokolade organisiert. Hat sich die Kleine gefreut! Christl und die Jungen hatten schon ein Jahr hinter sich. Jetzt waren sie zu dritt. Die ersten zwei Tage ging ich mit. Edith war eine fleißige Schülerin. Ich brauchte nicht zu helfen. Die Jungen waren nicht so aufmerksam. Wenn es mal regnete, durften meine Bekannten mich besuchen. Wir saßen

dann in der großen Diele zusammen und erzählten. Ich handarbeitete oft. Wenn ich nur ein paar bunte Blümchen in die Blusen stickte, sahen sie nicht mehr so steif aus und Familie Pias war glücklich. Alles natürlich nach eigener Phantasie. Ein Muster hatte ich ja nicht. In den Briefen von zu Hause meinte ich, dass sie Heimweh hatten, besonders unser Papa. Aber wir mussten aushalten. Für uns war es ja auch nicht ganz so schwer, hatten wir doch die Kinder bei uns. Heute hatte Frau Pias uns einen Tipp für einen Ausflug gegeben. Es war ein weiter, weiter Weg immer durch den Wald. Endlich waren wir am Ziel, es war ein

großer See mitten im Wald, auf diesem ein wunderschönes Café. Wir saßen direkt über dem Wasser, haben uns Kuchen und zu trinken bestellt. Die Kinder wollten Eis. Dann rannten sie um den See herum. Wir hatten Angst, dass sie ins Wasser fielen, und machten uns auf den Heimweg. Aber da passierte es: Von meinem Kinderwagen hatte sich ein Rad gelöst und rollte den ganzen Berg runter. Die Frauen rannten hinterher. Ich habe mich gekrümmt vor Lachen. Dann die Kinder. Ich musste den Wagen auf drei Rädern weiterschieben. Endlich kamen sie wieder zurück, natürlich ganz aus der Puste. „Hilde, das schaffen wir schon.“

Aber immer wenn wir dachten, das Rad säße fest, hatte es sich schon wieder selbständig gemacht. Doch die beiden waren auf Draht. „Mensch, Hilde, noch mal den Berg rauf und runter schaffen wir nicht. Ein Kilo haben wir bestimmt abgenommen.“ Da kam ein junger Mann und fragte: „Was ist denn mit Ihrem Wagen los?“ Ich antwortete: „Das Rad hat sich selbständig gemacht.“ Er meinte: „Das werden wir gleich haben.“ Waren wir Frauen glücklich. Ich wollte ihm ein paar Mark für Zigaretten geben. „Oh nein, kein Geld. Wenn, dann laden Sie mich zu einer Tasse Kaffee ein.“ Das war natürlich was für Frau Möhle,

sie sagte gleich zu. Döttken sah uns so treu mit ihren großen blauen Augen an, als wollte sie sich über uns lustig machen. „Mensch, Kinder, das war wieder ein Tag.“ Selbst Großvater amüsierte sich, als ich es zum besten gab. Herr Pias meinte: „Hildchen, an dir ist wirklich ein Komiker verlorengegangen. Immer in Stimmung und guter Laune, was auch geschieht.“ Ich dachte: Wie es da drinnen aussieht, geht niemanden etwas an. Ich hatte auch meine Sorgen. Wie schnell konnte zu Hause etwas passieren.

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Hörbuch

Über den Autor

kleinerbaer
Ich bin 1966 in Witten geboren. Nach Abitur und einer Ausbildung zum Kommunikationselektroniker arbeite ich inzwischen als Integrationsbeauftragter.
Mit dem Schreiben habe ich als Sachbuchautor begonnen. "Germanischer Bärenhund-Portrait einer außergewöhnlichen Hunderasse" war mein erstes Buch. Es sollte ursprünglich auch mein einziges Sachbuch bleiben. Eine Hundeausstellung, ein Geburtstag und ein Versprechen machten meinen Vorsatz zunichte. Ich schrieb ein zweites Hundebuch: "Pyrenäenberghunde- Aus den Pyrenäen in den Ruhrpott".
Um meine Schreibstil zu verbessern, absolvierte ich einen mehrjährigen Lehrgang in der Schule des Schreibens.
Aus den Aufzeichnungen meiner Großmutter sind die Bücher "Im Schatten von Schlägel und Eisen" und "Herz schlägt Krieg" entstanden.
Mit dem Roman "Gefährten der Hoffnung-Eriks Suche" bin ich bei meinem eigentlichen Genre, der Fantasy angekommen. Die Fortsetzung "Gefährten der Hoffnung-Giada" ist in Arbeit.
Ich lese gerne Bücher und betreibe seit über dreißig Jahren Kampfsport.

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Kommentare
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Lynny Eine bewegende, erschütternde Geschichte, die wirklich sehr lesenswert ist, vielen Dank.
LG,
Lynny
Vor langer Zeit - Antworten
RachelWonder Man sollt diese Geschichten nie vergessen! Danke fürs Aufschreiben!
Vor langer Zeit - Antworten
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