Unkaputtbar
Ich kannte da mal jemanden… Von dem erfuhr ich eine Geschichte, welche mich doch grundlegend mein Leben überdenken ließ. Es ist kein Scheiß und hat sich wirklich so zugetragen, sagt er! Aber lest selbst:
„Ich habe fertig mit meinem Leben!“
„Warum?“
„Ich kann es nicht mehr ertragen wie das Schicksal um mich einen großen Bogen zu machen scheint!“
„Wie soll ich das verstehen?“
„Es ist nur schwer zu verstehen. Ich glaube mein Leben verlief bis heute anders als man es für normal halten
würde! Es gleitet an mir vorüber, als… als wäre ich nur ein Statist… aber dabei sollte ich doch eigentlich der Hauptdarsteller in diesem Schauspiel sein!“
„Verstehe ich das richtig? Sie stehen quasi neben sich?“
„Man kann es so beschreiben!“
„Wie soll ich mir das vorstellen? Sie erleben ihr eigenes Leben von der Seite aus betrachtet?“
„Nein! Ganz so ist es nicht! Ich lebe mein Leben durchaus! Aber es ist… Es ist der Lauf der Zeit, des Schicksals, welches bei mir scheinbar seinen geraden Verlauf unterbricht und einen Bogen
schlägt.“
„Sie geben zu, dass ich das nur schwer begreifen kann.“
„Ja! Wie auch? Ihr Leben verlief ja auch bisher in geraden Linien… Alles scheint logisch erklärbar! Sie wurden geboren, wuchsen relativ geborgen auf, erlernten ihren Beruf, gründeten Ihre Familie und wurden ein achtlicher Journalist. Das eine oder andere mal erfuhren Sie den einen oder anderen Rückschlag, vielleicht eine Krankheit, einen beruflichen Mißerfolg oder gar einen Unfall. Hab ich recht?“
„Ja! Das mag durchaus sein! Jeder hat mit seinem Schicksal zu kämpfen!“
„Ja!… So sollte es
sein!“
„Aber?“
„Halten Sie es für möglich, dass ein Leben auch anders verlaufen kann, unabhängig von Zeit und Schicksal?“
„Unabhängig von Zeit und Schicksal? Aber das würde ein Leben ohne Zeit, ohne Anfang ohne Ende, bedeuten! Frei von Schicksal würde ein Leben ohne Erfahrung und ohne Emotion bedeuten, wie Liebe, Freude, Trauer, Wut oder Kummer! Aber ein solches Leben ist nur schwer vorstellbar! Angenommen Sie stürzen von einem Baum und brechen sich ein Bein oder so. Sie erleben einen Schock, haben sehr große Schmerzen. Das wären die Emotionen! Fortan würden
Sie vielleicht nie wieder auf einen Baum klettern oder einen hohen Turm besteigen! Das wäre das daraus resultierende Schicksal! Das Leben lebt von diesem Schicksal!“
„Sie haben recht! Aber was wäre, wenn es auch anders ginge?“
„Anders?“
„Ja! Anders! Sehen Sie, ich bin heute 47 Jahre alt. Ich war noch nie ernsthaft erkrankt! Hier mal eine Grippe, in meinen Kindertagen den Mums und die Röteln… Das war es schon. Sogar den Kampf gegen einen resistenten Virenstamm der Masern habe ich in ein paar Tagen überwunden. Noch nie habe ich mir auch nur einen Knochen
gebrochen, bestenfalls erlitt ich mal eine harmlose Verstauchung oder Verrenkung… bis heute!“
„Dann würde ich mal sagen, dass Sie vom Glück verfolgt werden!“
„Ha! Glück! Wenn es nur das wäre!“
„Sie meinen, dass Sie nicht nur riesiges Glück hatten und alles geplant war, dass Ihr Leben bisher geplant war? Das ist doch sehr unwahrscheinlich! Zu viele Komponenten des sozialen und gesellschaftlichen Lebens würden doch eine Planung unmöglich machen!“
„Nicht mein ganzes Leben, Herr … ! Aber wann immer es darauf ankam, wenn mein Leben bedroht sein könnte, kam ich mit dem Leben davon! Besser noch! Ich
blieb unversehrt! Es war bis heute immer so!“
„Aber das kann doch gar nicht sein? Wie soll das gehen? Glauben Sie wirklich, dass es da oben jemanden gibt, der die sprichwörtlichen Strippen zieht?“
„Sie sprechen von Gott??? Das weiß ich nicht! Ich weiß auch nicht wie das gehen soll! Aber die Anzahl der Zufälle sprechen für sich! Ich hätte schon mehrfach tot sein müssen!“
„Moment! Sie wollen jetzt nicht behaupten, dass Sie unsterblich sind!“
„Um Gottes Willen nein!!! Ich bin heute 47 Jahre alt und werde nach wie vor älter! Bei dem Zigarettenkonsum den ich habe, kann ich glücklich sein, wenn ich
das 80. Lebensjahr noch erreiche! Aber es scheint etwas zu geben, dass es unter allen Umständen verhindern möchte, dass ich einen vorzeitigen Tod erleide, dass ich mein natürliches Lebensende erreiche! Möchten Sie Beispiele?“
„Hören Sie! Das wird mir zu absurd! Ich glaube Sie brauchen dringend Hilfe! Ich denke wir beenden das Gespräch jetzt!“
„Verdammt! Ich habe Sie ins Vertrauen gezogen, wollte mich offenbaren“
Ich schalte den Rekorder ab und stehe auf um zur Wohnungstür zu gehen.
„Ich kenne da ein paar gute Adressen, die ich ihnen gerne geben kann.“
Ich habe die Wohnungstür fast erreicht.
„Warten
Sie!“
Ich dreh mich um und schaue mein Gegenüber ungläubig an.
„Letzten Freitag krachte ich auf der Autobahn mit 160 Sachen in eine Unfallstelle! Ich habe nicht einen Kratzer davon getragen…!“
„Das kann Zufall gewesen sein!“
Ich dreh mich wieder um.
„Es geht noch weiter!“
Ich wende mich ihm wieder zu, mehr aus Mitleid als aus Glauben.
„Ich stieg aus dem Autowrack ohne einen Kratzer. Jedoch mein Beifahrer ist schwer verletzt.
Es begann schon in meiner Kindheit, doch dessen wurde ich mir erst nach dem
letzten Ereignis bewusst.“
Ich setze mich wieder in den bequemen braunen Sessel und schalte die Recorder App auf meinem Handy ein.
„Erzählen Sie!“, begann ich in dem Gedanken dem armen Kerl etwas Last von der Seele zu nehmen. Zuhören kann man ja immer, was auch immer für ein Stuss am Ende herauskommt. So lange er sein Seelenheil bekommt ist doch alles gut!
„Es begann schon in meinem frühesten Kindesalter“, begann dieser komische Mann. „Da wurde ich das erste und das einzige mal in meinem Leben in ein Krankenhaus eingeliefert, obwohl mir doch eigentlich nichts weh tat. Erst nach
einigen Jahren erklärte man mir, dass man an mir eine Leistenhoden OP vorgenommen hat. Dies schien auch zu stimmen, habe ich doch die entsprechenden Narben! Wenige Jahre später stürzte ich in eine tiefe Jauchegrube auf dem Bauernhof meines Großvaters. Ich hätte ertrinken müssen. Doch irgendwie kam ich heraus. Ein oder zwei Jahre später ging ich in meinem kindlichen Leichtsinn auf einen zugefrorenen Teich. Ich brach ein und konnte mich irgendwie allein retten. Wenige Jahre später, in der Scheune meines Großvaters stürzte ich aus wenigstens vier oder fünf Metern in die Tiefe. Bis auf eine kleine Schnittwunde
an meiner linken Wade blieb ich unverletzt. Anfang der Achtziger! Wir machen an einem kleinen See einen Campingurlaub. Auf der anderen Seeseite explodiert ein Waffendepot der Sowjets. Überall schlagen Granaten ein! Ich bleibe unverletzt! Anfang der Neunziger! Habe mein erstes Auto, einen Trabi, und krache volle Kanne gegen eine Birke. Der Trabi hat sich um den Baum gewickelt. Ich hatte nicht einen Kratzer! Mitte der Neunziger! Ich bin bei einem Wasserbauunternehmen beschäftigt und helfe beim Verladen von Tonnenschweren sogenannten Pfahlpaketen. Diese Pfahlpakete sind durch massive Winkelstähle stabilisiert. Beim verladen
gerät eines der Pakete aus dem Gleichgewicht und stürzt auf mich hernieder. Der hervorstehende Winkelstahl verfehlte mich um Haaresbreite. Ich habe nicht einen Kratzer davon getragen. Ende der Neunziger habe ich bei Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn einen Reifenplatzer. Irgendwie konnte ich mich retten und blieb völlig unversehrt. Und als letztes dieser Horrorcrash auf der Autobahn. Beide Autos haben Totalschaden und sind ausgebrannt. Mein Kollege ist schwer verletzt. Aber ich habe nicht eine Schürfwunde, nur ein wenig Kopfkino!“
Er schweigt einen Moment und schaut
verzweifelt, den Kopf in seinen Händen vergraben, zu Boden. Dann schaut er mit Tränen in den Augen auf.
„Alles nur Glück und Zufall? Was denken Sie? Was glauben Sie? Haben Sie eine Antwort?“
Meine Gedanken sind konfus. Ich weiß nicht was ich sagen soll.
„Das ist alles sehr tragisch! Nehmen sie Hilfe in Anspruch um das Trauma zu überwinden! Ich… ich muss jetzt los!“
„Danke, dass Sie mich angehört haben!“
So oft ich mir die Aufnahmen auch anhöre… Ich finde keine zufriedenstellende Antwort.
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