Als die Farben während des Großen Ereignisses verschwunden waren, hatte sich auch der Weg, den sich Grashüpfer entlang mühte, in einen grauen, ausdruckslosen Pfad verwandelt. In der Sommerzeit bohrten sich nun staubige Unkrautstengel durch die Ritze des ausgedienten Asphalts, während herbstliche Niederschläge die zahlreichen Schlaglöcher mit matten, blubbernden Pfützen füllten, die zu umgehen großes Geschick erforderte. Der Winter jedoch war am Schlimmsten, denn unter der Schneeschicht verlor der Weg
auch seine letzten Merkmale und wurde zum eisigen, kaum wahrnehmbaren Trampelpfad, Weiss auf Weiss, sichtbar nur durch Drecks- und Matschspuren hunderter Schuhe von Passanten. Grashüpfer war das Knirschen des neugefallenen Schnees beim Gehen unangenehm; deshalb scharrte sie mit den Füßen und schlitterte so über die darunter liegende Eiskruste. Sie fror. Die Ohren ihrer Pelzmütze waren unter dem Kinn zusammengebunden und der Kragen der dicken Wolljacke hochgeklappt, doch der scharfe eisige Wind schaffte es trotzdem immer wieder, den Weg zur Haut auf ihrem Nacken und Rücken zu
bahnen. Es war noch sehr früh am Morgen, zur Zeit der perfekten Dunkelheit, und das kalte Licht der kristallenen Sterne über Grashüpfers Kopf vermochte die Schwärze der Nacht genausowenig zu vertreiben wie das unregelmäßige Muster der bleich erleuchteten Hochhausfenster, die lose in der Luft um sie herum zu hängen schienen. Die Umgebung wirkte klein und starr wie die Landschaft einer Schneekugel, und Grashüpfer stellte sich einen großen Hammer vor, der diese trostlose Kugel mit einem Schlag in einer klirrenden Splitterwolke aufgehen lies. Grashüpfer hatte natürlich einen
richtigen Namen, doch jeder nannte sie nur noch so - Grashüpfer. Man bekam in der Schule früher oder später einen Spitznamen, und es war sinnlos, sich dagegen zu wehren. Ob man wollte oder nicht, der Spitzname blieb haften, und Grashüpfer fand, es könnte sie schlimmer erwischt haben. Ein findiger Einklässler könnte zum Beispiel auf die Idee kommen, ihre etwas abstehenden Ohren genauer unter die Lupe zu nehmen und sie auf Segelboot oder Elefant taufen. Oder man konzentrierte sich auf ihre rotblonden Haare, die so widerspenstig waren, dass sie bei Tageslicht einen Heiligenschein um ihren Kopf herum erstrahlen ließen. Feuerball wäre als
Spitzname wirklich schlimm gewesen. Zum Glück einigte man sich aufgrund ihrer Schlaksigkeit einfach auf Grashüpfer, und so wurde sie seit der ersten Klasse genannt. Vage Konturen des niedrigen Schulgebäudes zeichneten sich in der Dunkelheit vor ihr ab - grauer Ziegelstein, schwarz gähnendes Eingangstor, das zum Innenhof führte, und zwei Reihen von Fenstern, von denen nur jedes Dritte in trübes, flackerndes Licht gehüllt war. Die Stadt sparte Strom. Das Ungeheuer war von hier aus nicht zu sehen, doch Grashüpfer bekam jetzt schon einen Knoten im Magen - wie
immer, wenn sie an das Biest dachte. Seit neun Jahren ging sie fast jeden Tag an ihm vorbei und immer noch fühlte sie sich in der Nähe des Ungeheuers ein Bisschen wie die kleine Erstklässlerin, die damals vor Angst weinend unter seinem drohenden Blick aus der Schule gerannt war. Instinktiv drehte sie sich um, um nachzusehen, ob Ricardo noch hinter ihr war. Natürlich war er es. Mit ausgebreiteten Armen stampfte er neben dem Pfad durch die Schneewehen, zehn Schritte hinter ihr, zufriedener, sorgloser Ausdruck auf seinem vor Kälte geröteten, rundlichen Gesicht. Schnee
glitzerte auf der knallroten Mütze und in den Falten der grellen zitronenfarbigen Kapuzenjacke - entweder war der Tollpatsch gefallen oder er hatte absichtlich im Schnee rumgewälzt. Ricardo merkte ihren Blick und winkte ihr zu. Grashüpfer schüttelte den Kopf angesichts seiner Unordentlichkeit, winkte aber zurück. Sie kannte den Jungen seit sie denken konnte. Er war nicht der Beliebteste in der Schule, denn Freundschaften schliessen war nicht gerade seine große Stärke, aber das machte Ricardo nichts aus. Einzelgänger von Natur aus, mied er grosse Gruppen und hielt sich fern von Veranstaltungen
und Feiern. Stattdessen lief er für gewöhnlich tagträumerisch durch die Gegend, spielte im Sommer mit Schmetterlingen und streunenden Hunden und bastelte im Winter Schneemänner und Festungen. Grashüpfer, die seine einzige richtige Freundin war, mochte den quirligen Jungen. Irgendwie brachte er etwas Farbe und Abwechslung in die triste Umgebung. Wenn es ihr mal wieder schlecht ging und sie den Sinn des Ganzen aus den Augen verlor, munterte Ricardo sie mit seiner Sorglosigkeit und Heiterkeit stets auf. Und er konnte zuhören wie kein Anderer. Manchmal hatte Grashüpfer das Gefühl, Ricardo wäre der einzige Mensch auf der Welt,
der sie verstehen würde. Sie wusste ihre besondere Beziehung zu schätzen. Bei diesem Gedanken runzelte sie die Stirn und korrigierte sich im Stillen. Beziehung klang falsch. Es war keine. Zumindest war es nicht DIESE Art von Beziehung. Ricardo war ein guter Freund aber nichts an ihm sprach sie romantisch an. Warum musste sie überhaupt an so etwas denken und sich vor sich selbst rechtfertigen? Wenn Sprinter das wüsste, würde er sie sicherlich auslachen. Sie seufzte. Sprinter sprach sie romantisch total an. Sie erreichten das Tor und betraten durch
die kurze, unbeleuchtete Passage den Innenhof. Er war fast menschenleer. Nur vereinzelt eilten meist jüngere Schüler an ihnen vorbei in die rettende Wärme der Eingangshalle. Die erste Stunde war im Winter selten besucht. Nach dem Großen Ereignis hielt sich so gut wie Keiner an Regeln und Zeitpläne. Außer dem Drachen, natürlich. Grashüpfer zwang sich, den Blick auf das Ungeheuer zu richten, das in der Mitte des Schulhofs auf seinem Podest thronte. Der Drache ragte über dem Hofplatz, hoch aufgerichtet auf seinen Hinterpfoten, die ausgebreiteten Schwingen schwarz wie die Segeln eines
Geisterschiffs. Der augenlose Blick des Biests richtete sich auf den Hofeingang, als könnte es kaum erwarten, Eindringlinge mit seinen messerlangen Zähnen zu zerfleischen. Unter dem schuppigen schwarzen Körper des Drachens wand sich in Schmerzen eine riesige Schlange; eine der massiven Pfoten hielt die Schlange fest, während die Spitze eines weißen Schwertes, das der Drache mit seinen Klauen umklammerte, sie in der Mitte ihres Körpers an den Boden nagelte. Das Ungeheuer bot einen furchteinflößenden Anblick, doch Grashüpfer wusste, dass ihr Unbehagen
unbegründet war. Erstens handelte es sich bei dem Drachen um eine Statue, und zweitens stand der große Wurm ja eigentlich für das Gute in der Welt. Zumindest hatten ihre Vorfahren so gedacht als sie lange vor dem Großen Ereignis Ebenbilder der Kreatur in diesem und allen anderen Schulhöfen und sonstigen öffentlichen Plätzen des Landes aufgestellt hatten. Aber nachdem die Farben verschwunden waren, folgten ihnen auch Überzeugungen. Mittlerweile konnte niemand mehr sagen, wofür der Drache tatsächlich stand, denn auch das Schwarz und das Weiß vermischten sich heutzutage zu einem nichtssagenden matschigen
Grau. “Ich habe Sport in der Ersten", sagte Ricardo, der sie nun eingeholt hatte. "Ich hoffe, wir fahren wieder Ski.” Grashüpfer verstand nicht, wie man sich bei der Kälte aufs Skifahren freuen konnte, aber so war Ricardo nun mal. Er würde vermutlich auch einer gebrochenen Rippe etwas positives abgewinnen können. “Du Glückspilz!”, sagte sie scherzhaft. “Ich habe die ersten Beiden Waldländisch. Wenn die Soldatin fertig mit uns ist, wird die Sonne schon aufgegangen sein...” Sie stockte auf
einmal als sie aus dem Augenwinkel eine Gestalt durch die dunkle Passage herein gehen sah und spürte plötzlich wie Panik in ihr aufstieg. Sprinter! Was sollte sie nur tun!? Normalerweise war Sprinter von der Schar seiner Kumpels umgeben, so dass Grashüpfer seine Aufmerksamkeit nicht zu fürchten brauchte, aber jetzt ging er alleine richtung Schuleingang, und sein Weg führte ihn direkt auf sie zu. Ein Treffen war unausweichlich; er würde sie höchstwahrscheinlich sogar ansprechen. Und da stand sie mit der unter dem Kinn zusammengebundenen Ohrenmütze und den dicken Fäustlingen auf den Händen.
Warum musste sie nur vor dem blöden Drachen anhalten!? In dem Foyer der Schule hätte sie ein wesentlich besseres Bild abgegeben, rote Haare hin oder her. Aber jetzt war es zu spät. Sie drehte sich schnell zu Ricardo, mit der Absicht, ein zwangloses Gespräch mit ihm vorzutäuschen, doch der Junge spielte das Spiel nicht mit. Er warf einen kurzen Blick auf herannahenden Sprinter, rollte resigniert mit den Augen und machte sich auf den Weg zur Turnhalle. Grashüpfer verfluchte ihn im Stillen. Jetzt war sie auf sich allein gestellt. Sprinter kam auf sie zu, Hände in den
Taschen seines kurzen Mantels, und hielt zwei Schritte vor ihr an. Seine oben zusammengebundene Mütze trug er jovial auf einer Kopfseite, so dass eins seiner Ohren dem Frost ausgesetzt war. Vom Zigarettenstümmel zwischen seinen Zähnen stieg Rauch auf, der sich in der eisigen Luft mit seinem Atemdampf vermischte. Wenn es überhaupt Regeln gab, die immer noch in dieser Schule galten, dann war es der Rauchverbot, doch Sprinter fürchtete sich offensichtlich weder vor Kälte noch vor irgendwelchen Lehrern, die ihn qualmen sehen könnten. Er lächelte leicht als er sie erkannte, und Grashüpfer ertappte sich dabei, dass sie ihn direkt
anstarrte. "Hey, Grashüpfer!", grüßte er sie. - "Wie geht's denn so?" Er zeigte mit dem Finger seiner bloßen Hand auf die Statue. - "Machst du ein kleines Schwätzchen mit dem alten Drago?" "Ich... Ja, er wollte wissen, ob es sicher wäre, den Trainer zu verspeisen." Sie wurde rot, aber der Witz zündete. Sprinter lachte auf, dass ihm fast die Kippe aus dem Mund fiel. Der Sportlehrer, den alle nur Trainer nannten, wäre mit seinen 150 Kilogramm als Drachenspeise gut geeignet, wäre da nicht der hohe Alkoholgehalt in seinem
Blut, von dem Drago wohl eine Vergiftung holen würde. "Du bist mir aber eine Komikerin", sagte Sprinter fröhlich und gab ihr kumpelhaft einen Klaps auf die Schulter. Dann wurde sein Gesicht plötzlich wieder ernst - er spuckte die Kippe aus, zertrat sie im Schnee und schaute sich um. "Was machst du hier zur Ersten?", traute sich Grashüpfer zu fragen, die sich jetzt ein kleines Bisschen selbstsicherer fühlte. "Doch Lust auf Waldländisch bekommen? Die Soldatin vermisst dich
schon." "Nein, ich gehe nicht hin." Sprinter wirkte jetzt konzentriert, sein Blick wanderte umher. "Die Waldländer und ihre Sprache können mich mal. Ich treffe nur ein Paar Jungs hier." "Na dann viel Spaß dabei", sagte sie, doch Sprinter schien sie nicht mehr zu beachten. Grashüpfer drehte sich um und ging richtung Schuleingang. Obwohl der Frost immer noch um sich biss, brannten ihre Ohren.
Armitage81 Vielen Dank, Lynny, Fortsetzung folgt ;) |