Hier ist er wieder, Euer Jonathan. Ich habe Euch erzählt, wie meine Schwester Silvestra in einer Silvesternacht geboren wurde. Silvestra war ein aufgewecktes kleines Mädchen, das bei allen Leuten beliebt war. Bereits mit 4 Jahren dachte sie über Dinge nach, die andere Leute erst viel später oder auch überhaupt nicht interessierten. So ging sie eines Tages in die Küche, wo Ihre Mutter gerade das Abendessen vorbereitete, setzte sich auf einen Stuhl, legte den Kopf ein wenig zurück und schaute die Mutter eindringlich an. „Du hast doch etwas auf dem Herzen,
Silvestra,“ reagierte die Mutter und lächelte. „Ach weißt Du Mutti,“ sagte Silvestra, „Ich habe gerade überlegt, wo ich herkomme. Habt Ihr mich als Baby auf der Straße gefunden oder bin ich etwa vom Himmel gefallen? Ich möchte gerne wissen, wie ich zu Euch gekommen bin.“ Da Silvestra noch so klein war und die Mutter ein aufklärendes Gespräch für verfrüht hielt, setzte sie sich auch auf einen Stuhl und ergriff liebevoll die Hand ihrer kleinen Tochter. „Weißt Du, Silvestra, die kleinen Kinder werden schon als Babys von dem Klapperstorch gebracht. Wenn eine Frau sich Kinder wünscht, legt sie einen Zuckerwürfel
vor das Fenster, damit der Klapperstorch weiß, daß sie sich nach einem kleinen Baby sehnt. Bevor der Kinderwunsch aber erfüllt wird, kommt der Klapperstorch ins Schlafzimmer geflogen und beißt der Frau ins Bein. Bei einem Biss ins rechte Bein bringt er einen Jungen, beim Biss ins linke Bein bringt er ein Mädchen. So seid auch ihr, Du und Jonathan, zu uns gekommen und ich bin Mutter und Papi ist Vater geworden.“ Silvestra schluckte ein paar mal, denn ihr erschien die Prozedur ziemlich ungewöhnlich, doch zweifelte sie keinen Augenblick an den Worten ihrer Mutter. Sie zog ihre Hand aus der ihrer Mutter, stand auf und sagte leise:“
dann mußtest Du ja wegen Jonathan und mir Schmerzen erleiden, das tut mir aber Leid.“ „Das muß Dir aber nicht Leid tun, Silvestra,“ sagte die Mutter, „denn ihr habt erst Papi und mich zu einer richtigen und glücklichen Familie gemacht.“ Nachdenklich verließ Silvestra die Küche und ging in ihr kleines Mädchenzimmer. Sie schaute zum Fenster hinaus auf den Schornstein einer alten stillgelegten Fabrik. Dort hatte ein Storchenpärchen ein Nest gebaut, in dem auch 3 Jungstörche saßen, die jüngst geschlüpft waren. Jetzt weiß ich auch, dachte Sivestra, weswegen die Störche so lange Schnäbel haben. Denn sie müssen sich bestimmt
selbst ins eigene Bein beißen, damit sie kleine Störche bekommen. Während Silvestra so sinierte, kam ihr plötzlich ein Einfall. Sie wollte schon immer ein Puppenmädchen haben. Wenn sie einen Zuckerwürfel auf die Fensterbank legen würde, könnten die Störche ihren Wunsch erkennen. Doch wie sollten sie wissen, daß es ein Puppenmädchen sein sollte. Silvestra überlegte und überlegte und dann kam ihr der Einfall. Sie müßte den Zuckerwürfel rosa anstreichen, denn das dürfte auch den Störchen bekannt sein, daß die Farbe rosa den Mädchen und die Farbe blau den Jungen vorbehalten ist. Silvestra zögerte nicht lange. Sie nahm ihren Kinderstuhl, ging
in die Küche und stellte ihn vor den Schrank, wo sich die Zuckerwürfel befanden. Die Mutter war nicht mehr in der Küche, so mußte sie versuchen allein an den Zucker zu kommen. Indem sie sich auf die Zehenspitzen stellte und sich weit in das Schrankinnere reckte, gelang es ihr schließlich, einen Zuckerwürfel zu greifen. Wieder in ihrem Zimmer holte sie einen Buntstift mit der Farbe rosa aus ihrem Schrank. Schnell hatte der Zuckerwürfel die gewünschte Farbe angenommen und wurde auf das äußere Fensterbrett gelegt. Nun hatte sie alle Vorbereitungen abgeschlossen, um Mutter eines Puppenmädchens zu
werden. Doch als Silvestra abends vor Aufregung zitternd im Bett lag, war sie darauf bedacht, daß das linke Bein nicht von der Federdecke bedeckt war, denn sie wollte dem Storch nicht die Arbeit erschweren und auch sicher gehen, daß er in das für ein Puppenmädchen richtige Bein beißt. Hoffentlich tut es nicht zu arg weh, dachte sie. Dann kam ihr der Gedanke, daß die Wunde auch bluten könnte. Silvestra krabbelte nochmals aus dem Bett und ging ins elterliche Badezimmer. Hier befand sich der gut gefüllte Medizinschrank. Mit einem noch verschlossenen Plastikbeutel voll Watte, drei langen Streifen Heftpflaster und einer Schere
beladen, kehrte sie wieder in ihr Zimmer zurück, deponierte die Sachen auf ihr kleines Nachttischchen und legte sich wieder ins Bett, wobei sie wieder darauf achtete, daß das linke Bein frei blieb. Voller Angst und Bangen vermischt mit Neugierde und Erwartung lag sie da mehrere Stunden wach. Plötzlich meinte sie das Flattern von Flügeln und ein Klappern zu hören. Die Angst übermannte sie und sie dachte, ob es nicht besser wäre, auf ein Puppenbaby zu verzichten. Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett und schlug das Fenster zu. Du bist doch ein ziemlicher Feigling, ging es ihr durch den Kopf. Mami hat die Prozedur doch
auch ertragen. Silvestra öffnete das Fenster erneut und legte sich wieder ins Bett. Doch es passierte in der Nacht nichts. Auch die nächsten 14 Tage war von einem beißenden Storch nichts zu sehen oder zu hören. Sie mußte ihren Plan wohl ändern, um Puppenmami zu werden, aber was sollte sie machen? Da fiel es ihr wie eine Erlösung ein. Nicht weit von ihrem Haus gab es einen Krämerladen, wo man nahezu alles kaufen konnte. Vor dem Laden waren immer mehrere mit Gas gefüllte Ballons angebunden. Wenn sie das Zuckerstückchen an einem Ballon befestigen würde, könnte sie ihn direkt unter dem Storchennest loslassen. Sie
müßte nur einen Zettel mit ihrer Adresse beifügen. Am nächsten morgen holte Silvestra ein paar Münzen aus ihrem Sparschwein, nahm den Zuckerwürfel und begab sich zu dem Krämerladen. Der Krämerladen gehörte einem alten Mann, den alle Onkel Moritz nannten. Er kannte Silvestra, da ihre Eltern öfters bei ihm einkauften. Ihm erzählte Silvestra die ganze Geschichte, und daß sie nunmehr das Zuckerstückchen zu den Störchen bringen müßte. Wenngleich Onkel Moritz sich kaum vor Lachen halten konnte, sagte er mit todernstem Gesicht:“Das ist eine sehr gute Idee, Silvestra, ich schenke Dir den Ballon
und wenn Du dann Puppenmutter bist kannst Du mich ja mal mit Deinem Puppenmädchen besuchen kommen.“ Er schrieb noch die Adresse von Silvestra auf ein Stück Papier, befestigte den Zuckerwürfel mit einem Bindfaden an den mit Gas gefüllten Ballon und gab ihn dem Mädchen. Als Silvestra gegangen war blinzelte Onkel Moritz seiner Frau zu und sagte: „Liebe Frau, wir haben in unserem Leben keine Kinder bekommen. Wie wäre es, wenn wir jetzt Schicksal spielen und die kleine Silvestra zu einer Puppenmutter machen?“ So machten sie es auch. Sie suchten das schönste Puppenmädchen in ihrem Lager aus und fügten einen Zettel
hinzu worauf geschrieben stand: „Liebe Silvestra, wir haben Deinen Zuckerwürfel bekommen und bringen Dir diese Puppe, damit Du sie als Puppenmami hegen und pflegen kannst. Da Du noch so klein bist, verzichten wir darauf, in Dein Bein zu beißen. Wir wünschen Dir und Deinem Puppenmädchen alles Gute. Dein Storchenpärchen von nebenan Onkel Moritz und Frau setzten die Puppe noch nach Mitternacht auf die Fensterbank von Silvestras Zimmer, was nicht allzu schwer war, da es sich um eine Erdgeschoßwohnung handelte. Silvestra hatte sich wie jeden abend mit
unbedecktem linken Bein ins Bett gelegt. Der Tag war für sie so aufregend gewesen, daß sie auch bald einschlief. Als sie am nächsten morgen erwachte, fiel ihr Blick sogleich auf die Fensterbank, wo die Puppe saß und durch die Scheibe blickte. Silvestra schaute zunächst auf ihr unverletztes Bein, dann sprang sie auf, lief zum Fenster und nahm ihr Puppenmädchen in den Arm. Sie hegte und pflegte es während ihrer ganzen Kindheit, so wie es auf dem Zettel vermerkt war. Heute ist Silvestra verheiratet und hat ein lebendiges Mädchen von nunmehr 4 Jahren, das jetzt mit dem Puppenmädchen spielt, das der
Klapperstorch gebracht hat.