Hier bin ich wieder, Euer Jonathan. Ich habe lange nichts von mir hören lassen. Viel ist in der Zwischenzeit geschehen. Ich habe geheiratet ( hierzu kommt demnächst eine eigene Geschichte ) und einen Sohn bekommen. Mein Sohn Salomon ist inzwischen 4 Jahre alt und hält einen immer auf Trapp. Voriges Jahr kurz vor Weihnachten saß er an seinem Kindertisch, hatte einen Buntstift in der Hand und malte. „Was malst Du denn da Salomon“ fragte ich ihn. Er sah mich mit seinen schwarzen Augen an und sagte: „Weißt Du, Papi, da ich dem Weihnachtsmann noch nicht
schreiben kann, aber dennoch ein Geschenk haben möchte, muß ich meinen Wunsch eben malen. Ich lege meine Zeichnung nachher auf das äußere Fensterbrett.“ Ich schaute auf das Blatt Papier und sah eine Vielzahl von Strichen und Kurven. Wenngleich ich das Gekritzel intensiv betrachtete, konnte ich nicht erkennen, was die Zeichnung darstellen sollte. Um Salomon aber nicht zu enttäuschen sagte ich: „Oh, mein Schatz, da hast Du aber eine schöne Eisenbahn gemalt.“ „Aber Papi,“ sagte Salomon vorwurfsvoll, „das ist doch keine Eisenbahn sondern ein Elefant.“ „Aber klar,“ antwortete ich, „wenn man genau hinguckt, kann man
ihn deutlich erkennen.“ Allerdings war ich über den Wunsch meines Sohnes in keiner Weise erfreut. Ich mußte versuchen, ihm diesen Wunsch wieder auszureden. Abends, als Salomon sich ins Bett gelegt hatte, ging ich wie jeden Abend zu ihm, um eine Gutenachtgeschichte zu erzählen. „Es war einmal ein Mann,“ fing ich an, „der ging mit seinen zwei Kindern in den Zoo, um sich einen Elefanten anzusehen. Sie hatten Glück, denn im Elefantengehege stand ihnen ein großer Elefantenbulle gegenüber. Sie waren von dem Urwaldriesen nur durch ein Eisengitter getrennt. Plötzlich erhob der Elefant den Rüssel und spritzte Vater
und Kinder pitschenass, so daß sie wieder nach Hause gehen mußten, um sich trockene Kleidung anzuziehen. „Das war aber nicht lieb von dem Elefanten,“ murmelte Salomon, zog die Bettdecke bis zur Nase und freute sich, daß er trocken und behaglich in seinem Bett lag. Am nächsten Tag saß Salomon wieder vor seinem kleinen Kindertisch und malte. „Was malst Du denn heute,“ fragte ich. „Ach Papi, ich hab mir überlegt, daß so ein Elefant doch nicht das richtige Weihnachtsgeschenk ist. Ich glaube, daß ich mich über das, was ich jetzt gemalt habe, mehr freue.“ Ich schaute Salomon über die Schulter, konnte dem Gekritzel aber wiederum
nicht entnehmen, was es sein sollte. Trotzdem sagte ich „ach, was hast Du für ein wunderschönes Auto gemalt.“ „Aber Papi,“ entfuhr es Salomon, „das ist doch kein Auto sondern eine Kuh.“ Wenngleich die Zeichnung nicht meiner Vorstellung von einer Kuh entsprach lenkte ich ein und sagte: „Mein lieber Junge, wenn man ein zweitesmal hinschaut, kann man die Kuh genau erkennen.“ Doch auch diesmal war ich über den Wunsch meines Kindes bestürzt. Wo sollte ich eine Kuh herbekommen und wie sollte ich sie beherbergen? Abends setzte ich mich wieder zu Salomon ans Bett. „Heute erzähle ich Dir eine Geschichte von der
Kuh Daisy,“ sagte ich. „Daisy war eine Kuh wie alle anderen auch. Sie stand den ganzen Tag auf der Weide und fraß, und abends im Stall wurde sie gemolken, um den Menschen Milch zu geben. Eines Tages bekam Daisy ein Kälbchen. Doch wenn das Kälbchen Milch trinken wollte ließ Daisy es nicht an ihr Euter, so daß das Kälbchen von den Menschen großgezogen werden mußte.“ „Das ist aber eine böse Kuh,“ flüsterte Salomon, wischte sich eine Träne aus dem Gesicht und schlief ein. Am nächsten Tag saß er wieder an seinem Tischchen und malte. Als er mich sah sagte er:“Weißt Du, Papi, der Weihnachtsmann soll mir keine Kuh
bringen, denn vielleicht ist diese genauso böse wie Daisy. Ich male hier einen neuen Wunsch.“ Ich schaute auf das Blatt Papier. Diesmal sah alles viel übersichtlicher aus. Salomon hatte nur eine nahezu gerade Linie gezeichnet. In dem Glauben diesmal seinen Wunsch erkannt zu haben, sagte ich, „das ist ja schön Salomon, daß Du Dir jetzt doch eine Eisenbahn wünschst.“ „Aber nein Papi, Du kannst meine Zeichnungen aber wirklich nicht erkennen, das ist doch ganz deutlich eine Schlange.“ Nun hatte ich ja schon Erfahrung darin, wie man unerfreuliche Geschenke wieder verhindern konnte. So erzählte ich Salomon abends die Geschichte von
Cleopatra, die von einer Schlange gebissen wurde und starb. Auch diesmal verzichtete Salomon auf die Schlange als Geschenk und machte sich wieder an eine neue Zeichnung. Diesmal wollte ich mir keine Blöße geben und die Zeichnung richtig deuten. Doch diese Vielzahl von Strichen gab mir hierzu keine Chance. Daher fragte ich ganz bescheiden: „Sag mal, Salomon, das, was Du gemalt hast sieht ja sehr schön aus. Was soll das denn darstellen?“ „Das ist eine Gans, Papi. Ich glaube, eine Gans ist ein schönes Geschenk für mich. Ich habe gehört, daß eine Gans wachsamer ist als ein Hund und wenn ich mit einer Gans an der Leine
spazierengehe werden mich meine Freunde beneiden.“ Abends setzte ich mich wieder zu Salomon ans Bett. „Es war einmal,“ fing ich an, „eine schneeweiße Gans. Sie hieß Gustav und lebte glücklich und zufrieden auf einem großen Bauernhof. Doch eines Tages, es war kurz vor Weihnachten, als der Bauer zu seiner Frau sagte:“Ich gehe jetzt in den Stall und hole Gustav. Er hat sich die Jahre über bei uns fett gefressen. Nun möchte ich, daß er braun und knusprig an den Feiertagen bei uns auf dem Tisch liegt.“ Salomon grauste es bei dem Gedanken, wie das glückliche Leben einer Gans so plötzlich enden kann. Am nächsten Tag saß Salomon
schon sehr früh an seinem Tischchen. Seine neue Zeichnung war schon fertig. „Hast Du wieder etwas anderes gemalt?“ fragte ich. „Ja, Papi, stöhnte Salomon, „es ist schon schwer auf dieser Welt sich etwas zu wünschen. Eine Gans will ich nicht mehr, denn die ist ihres Lebens nicht sicher und bevor Du wieder vergeblich versuchst meine Zeichnung zu erkennen, sage ich es Dir. Es ist ein Meerschweinchen.“ Noch am selben Tag marschierte ich in die Zoohandlung und kaufte ein Meerschweinchen nebst Käfig. Heiligabend saß Salomon glücklich und mit glänzenden Augen vor dem kleinen, niedlichen Tier. Es war sein schönstes
Geschenk. Doch plötzlich kam er mit einem nachdenklichen Ausdruck im Gesicht zu mir und flüsterte mir ins Ohr: „Du, Papi, der Weihnachtsmann muß wohl ein sehr kluger Mann sein. Er wußte ja, daß ich keinen Elefanten, keine Kuh, keine Schlange, keine Gans sondern ein Meerschweinchen wollte.