Das Schwälbchen
Man hat im Leben manchmal derart wunderbare Erlebnisse, daß man sie nie mehr vergißt. So erging es mir vor einigen Jahren. Man zählte das Jahr 1997. Meine Frau und ich sowie ein befreundetes Pärchen hatten uns entschieden, einen gemeinsamen Urlaub in Spanien zu verbringen. Wir buchten im Monat Mai für 3 Wochen ein Ferienhaus in Miami Playa, einem Ort an der Costa Dorada, etwa 35 km südwestlich von Tarragona zwischen dem schönen Fischerort Cambrils und dem beschaulichen Hospitalet de l‘Infant. Als wir uns dort einquartiert
hatten, ergab es sich so, daß ich immer derjenige war, der morgens das frische Stangenweißbrot zum Frühstück holen mußte. Da die Bäckerei nicht gleich um die Ecke lag, sondern etwa 1-2 km entfernt war, nahm ich zur Erfüllung meiner Aufgabe den Wagen. So fuhr ich eines Tages mit dem frisch duftenden Weißbrot neben mir in Richtung Ferienhaus. Plötzlich sah ich auf der Straße ein kleines dunkles „Etwas“ liegen und dicht davor einen großen Hund. Ich kann heute gar nicht mehr sagen, was es für eine Hunderasse war, jedenfalls erschien er mir im Verhältnis zu dem dunklen „Etwas“ riesig. Da mein Siebter Sinn mir sagte, daß ich gleich
Zeuge einer Tiertragödie werden würde, bremste ich mit einem Ruck, sprang aus dem Auto und stürzte mich auf den Hund, der schon unmittelbar vor dem mir bislang unbekannten kleinen Tierlein stand. Durch meine Aktion erschreckt, wendete der Hund sich ab und suchte eiligst das Weite. Nun konzentrierte ich mich auf das kleine Wesen, das regungslos vor mir lag. Es war eine kleine Schwalbe, die mich mit ihren kleinen, runden, schwarzen Äugelchen anschaute. Wie es schien, war sie unversehrt. Ich nahm sie vorsichtig in die Hand und fühlte, wie das kleine Herz pochte. Was mußte das winzige Vögelchen wohl für eine Angst
haben. Ich legte das Schwälbchen auf den Beifahrersitz und fuhr die restliche Strecke bis zu unserem Ferienhaus. Warum ist der Vogel vor dem Hund nicht weggeflogen, und was soll ich nun mit ihm machen? Meine Gedanken beschäftigten sich ausschließlich mit dem geretteten kleinen Wesen, und ich war stolz darauf, die Tiertragödie verhindert zu haben. Zuhause angekommen hörten sich die anderen meinen Bericht an. Mein Freund meinte, daß Jungschwalben, die das Nest erstmals verlassen hätten, nie auf dem Boden landen dürften, da sie von dort aus nicht mehr wegfliegen könnten. Sie könnten immer nur von einem höher
gelegenen Ort starten. Ob das wirklich so ist, wußte ich nicht, aber mir war bekannt, daß ausgeflogene Jungschwalben zunächst in der Nähe des Nestes verbleiben und von den Eltern noch bis zu einer Woche gefüttert werden. Dann müßten doch eigentlich die Eltern all das, was ihrem Jungen passiert war, mitbekommen haben, dachte ich und blickte instinktiv nach oben. Und tatsächlich, aufgeregt und ruhelos umkreiste ein Schwalbenpärchen unser Ferienhaus. Ihr Zwitschern schien auch das Jungschwälbchen zu hören, denn das bisher eher ruhige Verhalten wich einer zunehmenden Lebhaftigkeit. Ich setzte den Piepmatz
auf die Umrandungsmauer des Grundstücks, entfernte mich ein wenig und sah dann, wie das Elternpaar immer wieder im Tiefflug die Mauer an der Stelle überflog, wo ihr Junges war. Sie schienen es zu locken und zum Fliegen animieren zu wollen. Doch es verging etwa eine halbe Stunde, ohne daß sich ein Erfolg einstellte. „Du mußt nochmal eingreifen,“ dachte ich und holte mir den Vogel, der sich ohne weiteres wieder in die Hand nehmen ließ. Diesmal bestieg ich einen viereckigen offenen Turm, der sich auf dem Grundstück befand. Dort legte ich das Schwälbchen auf die Schutzmauer und entfernte mich wieder. Das vorherige
Spiel wiederholte sich. Ständig kreisten die Eltern um ihr Junges, doch diesmal mit Erfolg. Erfreut sahen wir, wie mit einem Mal das Schwälbchen mit den Flügeln schlug und seinen Eltern in die Lüfte folgte.
Es vergingen einige Stunden. Wir hatten an den Vorfall schon gar nicht mehr gedacht. Ich war mittlerweile schon wieder beim Bäcker gewesen und habe „bollos rellenados con vainilla“ geholt, das sind Kreppeln mit einer leckeren Füllung von Vanillepudding. Wir hatten gerade im Freien neben dem Swimmingpool den Tisch gedeckt und schlürften den ersten Schluck Kaffee, als ein lautes Zwitschern unsere
Aufmerksamkeit erregte. Wir blickten hoch und sahen drei Schwalben auf dem Rand unseres Ferienhauses sitzen. Die mittlere kleine Schwalbe war eingerahmt von zwei größeren Schwalben und mir war sofort klar, daß es sich um das Pärchen mit seinem Jungen von heute morgen handelte. Sie sahen zu uns runter und zwitscherten in einem fort, als wollten sie uns was erzählen. Viele werden geneigt sein zu glauben, daß es sich um einem Zufall und um irgendwelche Schwalben handelte. Ich lasse mich aber nicht davon abbringen, daß unsere Schwalben von heute morgen dort saßen, um uns zu sagen, wie dankbar sie dafür sind, daß
wir Menschen durch unser Eingreifen ihr Familienglück gerettet haben.