Kurzgeschichte
Das Mädchen an der Bahnsteigkante

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"Niemand sieht sie. Dabei ist es ganz offensichtlich, was sie vorhat."
Veröffentlicht am 20. Dezember 2017, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Niemand sieht sie. Dabei ist es ganz offensichtlich, was sie vorhat.

Das Mädchen an der Bahnsteigkante

Titel

Sie steht sehr nah an der Bahnsteigkante. Bereit zu springen, sobald der Zug einfährt. Niemand scheint es zu bemerken. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Ich stehe unschlüssig da und frage mich, was ich tun soll. Noch fünf Minuten, dann kommt der Zug. Noch immer scheint niemand zu bemerken, wie nah sie an der Bahnsteigkante steht. Dabei ist es doch so eindeutig. Sie ist die Einzige, die über der Linie steht, anstatt dahinter. Und so dünn, wie ihre Beine aussehen, reicht der Fahrtwind des einfahrenden Zuges aus, um sie bis ans Ende des Bahnhofs fliegen

zu lassen. Warum sieht keiner das Mädchen? Oder will niemand sie sehen? Verlässt sich jeder auf den anderen? Noch vier Minuten, bis der Zug einfährt. Soll ich sie retten? Mein Gewissen meldet sich. Es sagt mir, das sie Gründe hat, sich selbst umzubringen. Gleichzeitig sagt es mir; rette sie. So ist es immer. Am Ende bin ich genau so schlau, wie vorher und tue das Falsche. Deshalb stehe ich hier und warte auf den Zug. Über zwei Stunden Fahrt liegen wieder einmal vor mir. Und das nur, um eine ganze Stunde mit meinen Kindern verbringen zu können. Zweimal im Monat darf ich sie besuchen. Jeweils für eine Stunde. Insgesamt fahre ich knapp

drei Stunden hin und genauso lang brauche ich für die Rückfahrt. Vorausgesetzt, Bus und Bahn fahren pünktlich. Schon mehrfach war es vorgekommen, das der Zug Verspätung hatte oder ganz ausfiel. Entweder war irgendwo Baustelle, oder jemand hatte sich vor den Zug geworfen. Wenn ich sie springen lasse, hält das den ganzen Verkehr auf. Sie wird glücklich sein, weil sie diese grausame Welt endlich verlassen hat. Wir anderen kommen nicht vom Fleck. Also doch retten. Dann habe ich die Fahrkarte nicht umsonst geholt und ich kann meine Kinder sehen. Nur wie stelle ich es an? Wenn ich sie einfach anspreche, laufe ich

Gefahr, das sie sich vor mir erschreckt und von der Bahnsteigkante fällt. Soll ich das Risiko eingehen? Überall sind Kameras. Aber niemand erscheint, um das Mädchen von der Bahnsteigkante wegzuziehen. Es kommt auch keiner, um dem Raucher neben mir zu sagen, das hier Rauchverbot herrscht. Mir wäre es lieber, wenn jemand was sagen würde, da mich der Gestank stört. Es lenkt mich von dem Mädchen und meinen Gedanken ab. Wir sind im Untergrund. Im sogenannten Citytunnel. Der Bahnsteig ist voller Menschen. Wenn die alle mit meinem Zug fahren wollen, darf ich die ganze Zeit stehen. Falls ich überhaupt Platz

finden werde. Einige wenige haben Fahrräder dabei. Ich bin mal gespannt. Soll ich sie springen lassen? Noch eine Minute. Mich interessiert ihre Geschichte. Warum will sie ihr Leben vorzeitig beenden? Bis jetzt scheint immer noch keiner bemerkt zu haben, was das Mädchen vorhat. Also liegt es an mir. Wenn ich sie springen lasse, lege ich den Zugverkehr lahm und ich kann nicht zu meinen Kindern fahren. Andererseits stehen hier so viele Menschen, die anscheinend mit dem Selben Zug fahren wollen, das es fraglich ist, ob ich überhaupt mitfahren kann. Die sehen alle nicht so aus, als würden sie freiwillig auf den nächsten Zug warten wollen.

Verständlich, da man nie weiß, ob oder ob nicht alles fahrplanmäßig läuft. Die Durchsage. In wenigen Sekunden kann ich die Lichter des Zuges sehen. Jetzt muss ich mich entscheiden. So oder so bin ich der Arsch. Wenn ich sie rette, rammeln alle an mir vorbei und besetzen jeden Sitz- so wie Stehplatz und ich kann zurück nach Hause fahren. Lass ich sie springen… Die Zuglichter. Sie macht sich bereit. Drei; zwei; eins und Sprung. In allerletzter Sekunde konnte ich sie von der Bahnsteigkante ziehen und am Springen hindern. Mein Gewissen ist rein. Niemand schien bemerkt zu haben, was

eben war. Ungeduldig drängeln sie sich durch die Türen und versperren den Aussteigenden den Weg. Es wird geflucht und geschimpft. Ich ziehe mich mit dem Mädchen zurück. Weit zurück. Halte sie fest. Sie drückt ihr Gesicht in meinen Hals und weint. Deinetwegen kann ich meine Kinder nicht sehen, denke ich, aber sage es nicht laut. Ich halte sie einfach nur fest. Gebe ihr Halt. Es ist mir egal, wie lange wir in dem zugigen Citytunnel stehen werden. Sie soll sich ausweinen. Spüren, das ich für sie da bin. Unter meinen Fingern spüre ich ihre Knochen. Wann hatte sie wohl das letzte mal etwas gegessen? Wieso hatte ich

wieder angefangen zu essen? Ich hatte so schön abgenommen und niemand hatte es gesehen. Dabei war es so eindeutig gewesen, das ich abgemagert war. Vierzig Kilogramm bei ein Meter siebzig. Man war ich stolz auf mich gewesen. Doch dann fing ich wieder an zu essen und die Kilos kamen schneller zurück, als mir lieb war. „Wieso hast du mich gerettet?“ „Warum badest du nicht mit einem Fön? Du hättest den ganzen Zugverkehr lahmgelegt, wenn ich dich nicht davon abgehalten hätte.“ Anstatt irgendwas zu sagen, sieht sie mich einfach nur an. Ich schaue in ihre verweinten Augen und fühle mich

hilflos. Wir sind ganz allein, in diesem Citytunnel. „Komm, wir gehen zu mir. Ich habe eine schöne große Badewanne und verschiedene elektrische Geräte, mit denen du baden kannst.“, sage ich zu ihr und nehme ihre Hand. Unschlüssig steht sie da. Jetzt folgt sie mir; hält meine Hand.

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