Narben der Vergangenheit von Matthias März
Simone war aufgeregt. Heute war ihr großer Tag. Sie würde heiraten. Noch vor einem Jahr hätte sie das nicht für möglich gehalten, da sie die besten Jahres ihres Lebens schon seit geraumer Zeit von der falschen Seite ansah. Aber dann hatte sie in ihrem Golfclub Robert kennen gelernt. Er sah blendend aus, war hochgewachsen und sehr vermögend. Dabei arbeitete er nicht einmal, er war ein Privatier. Es störte Simone auch nicht, dass Robert bereits dreimal verwitwet war. Das hatte er ihr schon recht früh gesagt und betont, dass „alles
mit rechten Dingen zuging“.
Neidvoll hatte Claudia, Simones beste Freundin, diesbezüglich Bedenken geäußert, doch konnte sie damit nicht überzeugen. „Er heiratet mich jedenfalls nicht wegen meines Geldes, Claudia. Robert ist viel reicher als ich. Er hat ein Penthouse am Potsdamer Platz in Berlin, eine Ferienwohnung in Saint-Tropez und die große Villa hier an der Elbchaussee. Und schau: diese Perlenkette hat er mir gestern geschenkt!“
Die Hochzeit wurde mit großem Aufwand im Hotel „Vier Jahreszeiten“ gefeiert, die Hamburger Prominenz gab sich ein Stelldichein. Politiker, Schauspieler, Sänger und Kaufmannsleute jeder, der in
der Hansestadt wohlhabend oder berühmt war, war erschienen. Das Fünf-Gang-Hochzeitsmenü war vom Feinsten und mundete allen ausgezeichnet.
Am nächsten Tag flogen die beiden Flitterwöchner über Frankfurt nach San Francisco, das hatte sich Simone gewünscht. „Ich werde dich immer lieben, dein Leben lang“, flüsterte ihr Robert ins Ohr, als sie auf der Golden Gate Bridge standen und auf die erleuchtete Stadt blickten. Was er wirklich damit meinte, erschloss sich Simone nicht. Ein paar Jahre muss die Frucht reifen, bis ich sie pflücken kann, dachte er. Es würde wieder alles klappen, davon war er überzeugt.
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Fünf Jahre später. „Tut mir leid, Robert. Ich konnte nichts mehr tun. Simone ist friedlich eingeschlafen. Vermutlich ein Herzinfarkt“, sagte Doktor Albert Feddersen, sein langjähriger Leibarzt und guter Freund. Er hustete. Vermutlich wird es das letzte Mal sein, dass du deine Pflicht tust, dachte Robert. Es war nicht so, dass Robert gedachte, seine spezielle Art der Einkommensmehrung aufzugeben, aber für Albert würde wohl auch bald ein Totenschein ausgestellt werden. Im Falle von Simone bekam Robert diesen problemlos wie immer. Schon morgen würde er beim Standesamt die Sterbeurkunde beantragen, um diese
anschließend bei der Lebensversicherung einzureichen. Das gewohnte Procedere ging seinen Gang. Dessen ungeachtet erwartete Robert ein beträchtliches Erbe.
Das Testament von Simone brachte dann eine große Überraschung für ihn: zwar ging - wie erhofft und vermutet - ihr gesamtes Vermögen an Robert, aber sie hatte unerwarteterweise ihren Körper der Forschung zur Verfügung gestellt. Das hatten Bettina, Petra und Gabriele, ihre drei Vorgängerinnen, nicht getan. Händeringend versuchte Robert, das zu verhindern. Doch vergeblich auch sein Anwalt konnten die Verfügung nicht aufheben.
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„So, meine Damen und Herren, hier haben wir die Leiche einer Sechzigjährigen, sie wurde uns heute neu eingeliefert. Wir werden sie obduzieren. Keine Angst, meine Kunden laufen nicht weg und sie beißen auch nicht“, verkündete Professor Gehrmann, der Pathologe. Die meisten der Studenten, die sich mit ihm um den Obduktionstisch herum versammelt hatten, waren ebenso blass wie die tote Frau. Lediglich die junge, dunkelhaarige Frau mit der Nickelbrille wirkte entspannt und sogar interessiert. „Svenja Lehmann“ stand an ihrem Namensschild. Sie stellte viele Fragen und hakte stets nach. „Meine
Damen und Herren, nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihre Mitkommilitonin. So stelle ich mir das vor“, lobte Gehrmann Svenja. Freudestrahlend antwortete sie: „Herr Professor, vielen Dank. Aber sagen: was haben die bläulich-schwarzen Verfärbungen da an den Handgelenken zu bedeuten? Das sieht irgendwie seltsam aus.“
Der Professor räusperte sich. Die junge Frau hatte Recht. Das war in der Tat ungewöhnlich.
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Hauptkommissar Köhler fuhr pflichtgemäß zur Universitätsklinik Eppendorf. Ein Professor Gehrmann hatte eine merkwürdige Entdeckung gemacht.
Möglicherweise lag ein Verbrechen vor. Köhler sah normalerweise nie Pathologie-Räumlichkeiten von innen, ihm ärgerte es (wie fast alle seine Kollegen), dass in den meisten Fernsehkrimis Rechtsmediziner als Pathologen bezeichnet werden. Letztere hatten es so gut wie nie mit Verbrechensaufklärung zu tun. Doch, nachdem was der Professor am Telefon erzählt lag hier wohl eine Ausnahme vor.
Das Gelände der Klinik war riesig und unübersichtlich. Köhler brauchte fast fünfzehn Minuten, bis er durch die endlosen Korridore an seinem Ziel angelangt war. „Hauptkommissar Köhler, Kripo Hamburg“, stellte er sich vor. Es
roch unangenehm nach dem Mittel, mit dem sie die Leichen konservierten. Der Professor bemerkte das Nasenrümpfen seines Gegenübers sehr wohl und erklärte: „Wissen Sie, Herr Hauptkommissar, ich rieche das schon gar nicht mehr. Ich kann hier sogar meine Mettbrötchen essen. Man gewöhnt sich an alles, sogar an Beulenpest, sage ich immer.“ Ein goldiger Humor, dachte Köhler. Missmutig folgte er dem Mann in dem weißen Kittel in den Saal, wo die Leichen lagen. „Sehen Sie sich das an!“, forderte Gehrmann ihn auf und hob das Tuch von Simones Körper. Es war wahrlich kein schöner Anblick. Der Körper war an mehreren Stellen
aufgeschnitten, einige Organe lagen in kleinen, silberfarbenen Schüsseln auf dem Tisch daneben. „Eine Studentin von mir hat das bemerkt, hier die Handgelenke. Was sagen Sie dazu?“
„Nun, ich habe von Medizin keine Ahnung. Aber so etwas habe ich schon einmal gesehen, es ist allerdings schon viele Jahre her. Die Male sehen nach Verletzungen bei Starkstromzufuhr aus.“
„Sehr gut, dass Sie das erkannt haben. So ist es nämlich. Das stand natürlich nicht im Totenschein. Der Kollege, der den ausgestellt hat, hatte Herzstillstand diagnostiziert. Natürlich ist das eine Folge der Stromzuführung, aber nicht die Todesursache an sich…“
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Vorsichtig führte der Kommissar weitere Ermittlungen durch. Er entdeckte, dass der Mann der Toten, Robert Dietrich, bereits zuvor dreimal verwitwet war. Alle seine vier Ehefrauen waren plötzlich und unerwartet gestorben und er hatte jedes Mal viel geerbt und hohe Lebensversicherungen für die Gattinnen abkassiert. Was für ein Mordmotiv! Im Umfeld der Verstorbenen wurde eine Claudia Meyer ausfindig gemacht, sie war die beste Freundin von Simone Dietrich. Die Zeugin machte eine interessante Aussage: Frau Dietrich hatte ihr berichtet, dass der Ehemann eine tolle Erfindung gemacht hatte: ein
Alkohol-Testgerät.
Es erfolgte eine Hausdurchsuchung. Der Tatverdächtige hatte offensichtlich alle Spuren beseitigt: die ominöse Maschine war nicht auffindbar und der Computer hatte eine nahezu leere Festplatte. Doch die Experten von der Kriminaltechnik konnten die Daten des PCs wieder hervorholen. Es wurden Konstruktionszeichnungen eines Gerätes entdeckt. Eine Nachbau der Maschine brachte dann die Wendung: das vorgebliche Alkohol-Testgerät war in Wirklichkeit eine perfide Tötungsmaschine mittels Starkstrom. Dietrich war überführt. Zunächst stritt er alles ab, gab dann aber nach einem
zermürbenden Verhör zu, alle vier Frauen getötet zu haben.
Das zuständige Amtsgericht verurteilte Robert Dietrich zu viermal lebenslang wegen Mordes aus Heimtücke und Geldgier. Der Fall machte bundesweit Schlagzeilen.
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Vier Jahre später verstarb Robert Dietrich in der Haft ironischerweise an Herzversagen.
Nach einer wahren Geschichte, die sich vor einigen Jahrzehnten in einer anderen norddeutschen Großstadt zutrug.