Der Schwiegersohn kommt von Matthias März
Simone Berger war aufgeregt. Heute würde sie ihren zukünftigen Schwiegersohn kennen lernen. Es wurde aber auch höchste Zeit. Ihre Tochter Mia war schließlich auch nicht mehr die Jüngste. Mit ihren siebzig Jahren stand diese zwar wie üblich noch voll im Berufsleben, aber sie betrachtete die besten Jahre ihres Lebens schon seit geraumer Zeit von der falschen Seite.
Mia hatte zwar schon einige Freunde gehabt, aber der „Richtige“ war nie
dabei, immer hatte Simone daran etwas auszusetzen. Als Fridolin Simones seliger Mann noch lebte, war dieser zwar oft anderer Meinung, insbesondere, als Mia diesen Erfinder vorstellte, aber Simone war nun einmal die Frau im Hause.
Simone ging zum Nahrungsgenerator, sagte klar und deutlich: „Erdbeerkuchen mit Sahne“ und Sekunden später erschien das Gewünschte auf dem Produktionsfeld, samt Porzellanteller. Den Kaffee hingegen bereitete Simone auf herkömmliche Art und Weise zu, denn bei Heißgetränken hatte ihr veraltetes Modell in letzter Zeit doch
erhebliche Probleme. Das war ein teurer Spaß, ein Pfund Bohnenkaffee wurde derzeit mit einhundertfünfzig Uno gehandelt. Einen solchen Luxus konnte sie sich mit ihrer schmalen Rente von dreitausend Uno nicht oft leisten.
Mia hatte sich für fünfzehn Uhr angekündigt, da blieb nicht mehr viel Zeit. Simone ging erneut zum Nahrungsgenerator und befahl: „Katzenfutter mit Mäusegeschmack“, nahm danach das Schälchen in die Hand und stellte es auf den Boden. Minka, die Androiden-Katze, kam sofort angesaust, strich Simone um die Beine, schnurrte kurz, und stürzte sich dann ihrer
Programmierung folgend gierig auf das Futter. Das haben die wirklich hervorragend hinbekommen, dachte Simone. Das Tierchen war täuschend echt, bis auf dem kleinen Ausschaltknopf hinter dem rechten Ohr. Noch nie hatte Simone diesen benutzen müssen, das war bei Katzen im Allgemeinen auch nicht nötig.
Ein Klingelton ertönte. Simone begab sich zum Ort-zu-Ort-Transporter in ihrem Ankunftszimmer. Sekunden später lösten sich die silbrigen Sterne auf und Mia und ein junger, blonder, großgewachsener Mann, der höchstens fünfundvierzig Jahre alt sein mochte, erschienen. Der
Mann hatte einen großen Blumenstrauß in der Hand und strahlte. Irgendwie kam er Simone bekannt vor, aber mit ihren einhundertfünf Jahren war sie leider schon etwas vergesslich geworden.
„Hallo Mutti, da sind wir. Und das hier ist Manuel, mein neuer Freund“, sagte Mia und fiel ihrer leicht ergrauten Mutter um den Hals. Manuel ging auf Simone zu und übergab die Blumen. „Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, Frau Berger“, sprach er mit einer angenehmen, sonoren Stimme. „Ja, ich bin auch froh, dass ich Sie endlich sehe. Aber kommen Sie doch in die gute Stube“, antwortete Simone leicht verwirrt.
Die drei begaben sich in das Wohnzimmer. Simone hatte dem Anlass gebührend die Wechseltapete auf einen romantischen Sonnenuntergang am Meer eingestellt und klassische Musik von den Beatles eingelegt, die Mia so liebte. „I want to hold your hand“ ertönte und Simones Tochter strahlte. „Das hast du ganz toll gemacht, Mutti“, flüsterte sie ihrer Mutter zu. Alle setzten sich auf das Sofa aus Sepanton, jenem Kunststoff der seit nunmehr siebzig Jahre in der Bekleidungs- und Heimtextilindustrie bevorzugt eingesetzt wurde.
Simone goss allen Kaffee ein, wobei sie deutlich betonte, dass dieser echt sei und
nicht dieses künstliche Zeug aus dem Nahrungsgenerator. Danach schnitt sie den Kuchen an und gab jedem ein großes Stück. Minka kam hinein und sprang unverzüglich auf Manuels Schoß, deutlich bettelnd.
„Geben Sie ihr bloß nichts von der Sahne, davon geht sie kaputt!“, warnte Simone. „Ach, ist sie...?“, fragte der Schwiegersohn in Spe. „Ja, sie ist künstlich. Haben Sie damit ein Problem?“, antwortete Simone. Der Angesprochene schüttelte den Kopf und sagte: „Nein, durchaus nicht. Ich selbst bin...“ Weiter kam er nicht, denn Mia trat ihm auf die Füße und flüsterte ihm
zu: „Jetzt nicht, Schatz!“
„Was machen Sie dann beruflich, junger Mann?“, fragte Simone neugierig. „Ich bin in der Elektronikbranche“, erklärte Manuel. Wieder kam es Simone vor, als ob sie sein Gesicht erst kürzlich gesehen hatte. Wo war das nur?, dachte sie verzweifelt. Um das Gespräch etwas in Schwung zu bringen, hakte Simone nach: „Das ist zwar eine alte Branche, aber immer noch ertragreich. Ich weiß noch, dass meine Großmutter im Jahre 1982 ihren ersten Computer kaufte. Wer hätte gedacht, dass heutzutage jeder Mensch einen Chip eingepflanzt hat, der das Trillardenfache an Rechenkapazität
hat!“
„Es sind Septillionen, Mutter. Eine Eins mit zweiundvierzig Nullen“, verbesserte Mia und ergänzte: „Heutzutage nehmen uns die Maschinen nehmen alles ab. Das ist doch wunderbar. Auch du, Mutter, hast deine Katze, deinen Nahrungsgenerator, deinen Ort-zu-Ort-Transporter, deinen 4D-Projektor. Ach, übrigens, gleich beginnt die Übertragung der 125-Jahr-Feier der deutschen Einheit. Das sollten wir doch unbedingt gucken.“
Die Decke öffnete sich, es surrte kurz und danach erschien mitten im Raum das Brandenburger Tor. Ein Mann trat an das
Rednerpult, er ähnelte Manuel wie ein Ei dem anderen, nur das dieser brünett und nicht blond war. Jetzt wusste Simone wieder, an wen Mias Freund sie erinnerte. Der Bundeskanzler war offenbar ein naher Verwandter Manuels. „Ist das Ihr Bruder?“, wollte Simone wissen.
Dieser räusperte sich. Er sagte: „In gewisser Weise stimmt das, Frau Berger. Wir sind aus der gleichen Baureihe.“ Demonstrativ drehte er ihr sein rechtes Ohr zu. Deutlich konnte Simone einen Ausschaltknopf erkennen, einen ebensolchen wie Minka ihn hatte. „Sie sind ein Android!“, rief Simone entsetzt
und ließ ihre Kaffeetasse fallen. Wenige Sekunden später näherte sich der Putzroboter, beseitigte die Scherben und reinigte den Fleck auf dem Fußboden aus Styanit.
„Das darf doch wohl nicht wahr sein, Mia! Du treibst es mit einer Maschine. Das ist abartig und widerwärtig“, echauffierte sich Simone und haute empörte auf die Tischplatte. Die übrig gebliebenen Kaffeetassen zitterten, Minka sprang vor Schreck von Manuels Schoß und rannte aus dem Zimmer. „Mutter, Mischehen sind seit 2106 erlaubt und außerdem ist deine Katze auch künstlich“, erklärte Mia. „Aber das
kann man doch gar nicht vergleichen, Mia. Tiere durch Androiden zu ersetzen ist etwas ganz anderes. Und wenn diese Roboter Müll entsorgen oder Feuer löschen, akzeptiere ich das auch noch. Aber so etwas als Schwiegersohn das geht gar nicht. Und jetzt geht bitte“, sagte Simone mit Nachdruck.
„Ich bin kein Roboter! Ich bin ein Android!“, rief ihr Manuel noch zu. Er und Mia begaben sich unverzüglich zum Ort-zu-Ort-Transporter und verschwanden gleich darauf. Simone fasste sich ans Herz, schwankte und kippte um. Binnen Sekunden wurde Alarm ausgelöst. Schon zwei Minuten
später näherte sich die Notarzt-Drohne vom Ort-zu-Ort-Transporter und verbrachte die alte Dame in das nahe gelegene Krankenhaus.
„Wo bin ich?“, fragte Simone, als sie erwachte. Sie erkannte einen jungen Mann, der sich über sie beugte, er sah aus wie Manuel oder wie der Bundeskanzler, aber er hatte rote Haare. „Sie hatten einen Herzinfarkt, Frau Berger. Aber sie haben überlebt. Ich bin Doktor Baumann“, antwortete der Mann, offensichtlich weder ihr Schwiegersohn in Spe noch der Regierungschef. Aber wohl aus der gleichen Baureihe, zumindest ein Android, denn Simone
konnte seinen Ausschaltknopf am rechten Ohr erkennen.
Simone tippte sich kurz auf die Stirn, sagte „Mia“ und der eingepflanzte Computerchip stellte sogleich eine 4D-Interkom-Verbindung mit ihrer Tochter her. Es wurde ein langes Gespräch.
So baute Simone ihre Vorurteile ab und gab ihre Zustimmung zur Vermählung ihrer Tochter mit dem Androiden. Er war nun doch der perfekte Schwiegersohn.