Horkruxe oder 7 Leben
"Was passiert wohl nach dem Tod?", hört man die Leute immer wieder an allen Ecken fragen. Der eine glaubt an Wiedergeburt, der andere an Himmel und Hölle.
Ich glaube an zwei Dinge: die ewige Stille und an ... die Organspende.
Wie!? Sie verstehen nicht worauf ich hinaus möchte?
Nehmen wir einfach mal folgendes Szenario in Betracht: ich habe mit 34 Jahren einen schweren Unfall und liege im Koma; die Chancen, dass ich wieder aufwache, liegen bei wenigen Prozent.
Die meisten würden hier wohl sagen: 'Naja, also eine kleine Chance ist doch da, warten wir also ab!', dabei weiß doch niemand so wirklich, was ein Mensch im Koma erlebt, fühlt, erkennt, versteht oder gerne ausdrücken würde. Wäre es nicht möglich, dass der Mensch im Koma alles mitbekommt, nur leider keine Kontrolle über seinen Körper mehr hat und sich daher nicht mehr verständigen kann? Vielleicht hat der Mensch höllische Schmerzen, oder hört non-stop ein lautes Schreien in seinem Kopf.
Es ist eine Ethik-Entscheidung, vielleicht eine Frage der Moral oder des Menschenverstands. Für mich persönlich
ist die Sache klar! Ich möchte, sobald es sehr unwahrscheinlich wird, dass ich je wieder aufwache, Horkruxe erschaffen. Ich möchte die verschiedensten Teile meines Körpers an die unterschiedlichsten Menschen vergeben und so viele neue Leben erhalten, anstatt nur eins...
Mein erster Horkrux wäre meine rechte Niere, die einer jungen Kindergärtnerin in Frankreich das Leben erleichtern würde. Mit der Frau würde ich erleben, wie hunderte von Kindern aufwachsen, zu zählen lernen und herausfinden in welcher Reihenfolge die Wochentage kommen. Ich würde dabei sein, wenn sie
lachten, fielen oder sangen, wie sie sich freuten oder weinten.
Ich wäre auch dabei, als herausgefunden wurde, dass der kleine Pierre von seinen Eltern misshandelt wurde und ich würde dazu beitragen, dass sich sein Leben verbesserte, selbst wenn das bedeutete, dass er nicht mehr bei seinen Eltern sondern bei Marie und Joseph ein neues Zuhause fand...
Mein zweiter Horkrux wäre meine Leber. Einem 45 Jahre altem Mann würde sie nach langer Krankheit und Therapie eine zweite Chance geben. Diese zweite Chance könnte ihm ermöglichen, seine Kinder aufwachsen zu sehen und ihnen zu helfen, wenn sie ihre
Physik-Hausaufgaben nicht alleine lösen konnten, er könnte ihnen ihre Klassenfahrt ans Meer bezahlen, die seine Frau alleine nie hätte ermöglichen können. Obwohl sie, aufgrund seiner früheren Fehler, getrennt lebten, hatte er sehr viel Kontakt zu seiner Familie. Durch die neue Leber würde er bei der Diplomverleihung seiner Tochter dabei sein und seinem Sohn würde er unter die Arme greifen, als er eine neue Ausbildung begann und ich stände ihm bei all diesen Dingen unterstützend zur Seite.
Mein dritter Horkrux wäre das neue Bein eines Teenagers aus Syrien, die ihr eigenes Bein bei einem
Anschlag verloren hatte. Sie konnte nun wieder laufen und wurde nicht mehr überall angeschaut als sei sie eine Außerirdische. Jetzt konnte sie, mit mir zusammen, ihren Traumjob lernen, den sie ohne das Bein und ohne ihre Aufnahme in Europa nicht hätte machen können. Wir stiegen Treppen, sprangen über Hindernisse und überholten alle, die je an ihr gezweifelt hatten. Gemeinsam kämpften wir auf der Straße gegen Ausgrenzung , Extremismus und Krieg und waren dabei so erfüllt wie nie zuvor.
Mein vierter Horkrux wäre meine Milz, die einer Brasilianerin nach einer Milzruptur das Leben rettete. Mit ihr
streifte ich durch Fortaleza und arbeitete für die verschiedensten Leute um am Abend den Kindern ein Essen auf den Tisch zu setzen. Mal arbeiteten wir als Hausmädchen für die Besitzer einer Privatschule, ein anderes Mal als Putzfrau in einem Museum oder als Köchin für einen Firmenbesitzer. Das Leben war anstrengend, aber zumindest hatten die Kinder abends etwas zu essen und konnten zur Schule gehen. Das würde uns zum lächeln bringen.
Mein fünfter Horkrux wären die neuen Augen eines jungen Mannes in Angola. Sie ermöglichten ihm die Welt um ihn herum klar zu erkennen und zu sehen, wer denn da gerade auf ihn zukam. Mit
ihm würde ich die Welt Afrikas entdecken. Ich würde neue Tänze lernen, neue Lieder singen und eine neue Sprache sprechen. Mit dem jungen Mann würde ich Bücher entdecken, wir würden Geschichten lesen und vorlesen. Mit ihm gemeinsam würde ich mich um seine jüngsten Geschwister kümmern und seine Mutter entlasten, die sich jahrelang um alles gekümmert hatte, da er ja nichts sehen konnte.
Mein sechster Horkrux wäre meine Lunge. Sie würde einer 50-jährigen Polin ermöglichen ihren Traum von der Everest-Besteigung zu erfüllen. Gemeinsam würden wir uns Berge hinaufkämpfen und die verschiedenste
Flora und Fauna beobachten. Zusammen kämen wir außer Puste, machten Pausen und gingen voller Energie weiter unseres Weges. Wir würden abrutschen und wieder aufstehen und uns in gar keinem Fall unterkriegen lassen. Wir würden kämpfen und schließlich den Gipfel erreichen.
Mein siebter Horkrux wäre mein Herz, welches das mir am nächsten gelegene Organ war und es würde mir ermöglichen noch eine stärkere Bindung zum Empfänger aufzubauen. Dieser Empfänger wäre eine junge Mutter, die trotz Risiko gerade ein Kind zur Welt gebracht hatte. Unser Herz würde ihr ermöglichen viel Zeit mit der kleinen
Nelly verbringen zu können und sich ganz und gar um sie zu kümmern, anstatt selbst immer wieder aufs Neue im Krankenbett zu liegen. Wir würden gemeinsam das Kind aufwachsen sehen, wir würden es mit ganzer Kraft lieben und es in dem unterstützen was es tat. Wir würden für es da sein, wenn es eine schwere Zeit hatte und Hilfe brauchte. Gleichzeitig würden wir es uns selbst auch gut gehen lassen, vielleicht einfach mal einen ganzen Tag lang im Garten liegen und die Natur beobachten. Die Vögel würden zwitschern, die Wolken vorüberziehen und die Blätter rascheln.
7 Horkruxe, 7 Leben gerettet, 7 mal geholfen, 7 mal geschenkt, 7 mal Neues gelernt und 7 mal den Horizont erweitert.
Diesen Horizont würde ich noch weiter erweitern! Alles das, was von meinem Körper nicht mehr gebraucht werden könnte, würde ich einäschern und dann in der Welt verstreuen lassen, so wie ich es mir gewünscht habe. Ich würde als Staubkorn in die Luft gehoben werden und aleatorisch, so spontan wie nie, an einen Ort gewirbelt werden, der mir neu oder altbekannt war. Ich würde die Welt aus einer anderen Perspektive sehen und endlos neues erkunden, immer wieder
Geheimnisse lüften und Spalten in Hängen finden. Ich würde ständig neue Leute, Tiere, Pflanzen und Steine treffen. Jeden Tagg, jede Stunde, jede Minute, ja, jede Sekunde etwas Neues entdecken und die Welt endlich wertschätzen lernen... so wie sie ist... tief in ihr drin...