Kurzgeschichte
Horkruxe - oder 7 Leben

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"Horkruxe - oder 7 Leben"
Veröffentlicht am 12. Dezember 2017, 14 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: glorcza - Fotolia.com
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Nele Namfoh ist eine mysteriöse Gestalt, die aus den Abgründen einer weit verwinkelten Bibliothek erstanden ist und nur durch Glück den Ausgang in das verworrene, aber zumindest reale, Leben fand. Durch ihr Interesse am Weltgeschehen und an der Kunst ganz im Allgemeinen wird sie regelmäßig zum Schreiben kürzerer Geschichten angeregt. Neben der Literatur hat auch die Musik einen großen Stellenwert im Leben der Autorin. So spielt sie Gitarre und ...
Horkruxe - oder 7 Leben

Horkruxe - oder 7 Leben

Horkruxe oder 7 Leben


"Was passiert wohl nach dem Tod?", hört man die Leute immer wieder an allen Ecken fragen. Der eine glaubt an Wiedergeburt, der andere an Himmel und Hölle.  

Ich glaube an zwei Dinge: die ewige Stille und an ... die Organspende.

Wie!? Sie verstehen nicht worauf ich hinaus möchte?  

Nehmen wir einfach mal folgendes Szenario in Betracht: ich habe mit 34 Jahren einen schweren Unfall und liege im Koma; die Chancen, dass ich wieder aufwache, liegen bei wenigen Prozent.

 Die meisten würden hier wohl sagen: 'Naja, also eine kleine Chance ist doch da, warten wir also  ab!', dabei weiß doch niemand so wirklich, was ein Mensch im Koma erlebt, fühlt, erkennt, versteht oder gerne ausdrücken würde. Wäre es nicht möglich, dass der Mensch im Koma alles mitbekommt, nur leider keine Kontrolle über seinen Körper mehr hat und sich daher nicht mehr verständigen kann? Vielleicht hat der Mensch höllische Schmerzen, oder hört non-stop ein lautes Schreien in seinem Kopf.  

Es ist eine Ethik-Entscheidung, vielleicht eine Frage der Moral oder des Menschenverstands. Für mich persönlich

ist die Sache klar! Ich möchte, sobald es sehr unwahrscheinlich wird, dass ich je  wieder aufwache, Horkruxe erschaffen. Ich möchte die verschiedensten Teile meines Körpers an die unterschiedlichsten Menschen vergeben und so viele neue Leben erhalten, anstatt nur eins...


Mein erster Horkrux wäre meine rechte Niere, die einer jungen Kindergärtnerin in Frankreich das Leben erleichtern würde. Mit der Frau würde ich erleben, wie hunderte von Kindern aufwachsen, zu zählen lernen und herausfinden in welcher Reihenfolge die Wochentage kommen. Ich würde dabei  sein, wenn sie

lachten, fielen oder sangen, wie sie sich freuten oder weinten.

Ich wäre auch dabei, als herausgefunden wurde, dass der kleine Pierre von seinen Eltern misshandelt wurde und ich würde dazu beitragen, dass sich sein Leben verbesserte, selbst wenn das bedeutete, dass er nicht mehr bei seinen Eltern sondern bei Marie und Joseph ein neues Zuhause fand...

Mein zweiter Horkrux wäre meine Leber. Einem 45 Jahre altem Mann würde sie nach langer  Krankheit und Therapie eine zweite Chance geben. Diese zweite Chance könnte ihm ermöglichen, seine Kinder aufwachsen zu sehen und ihnen zu helfen, wenn sie ihre

Physik-Hausaufgaben nicht alleine lösen konnten, er könnte ihnen ihre Klassenfahrt ans Meer bezahlen, die seine Frau alleine nie hätte ermöglichen können. Obwohl sie, aufgrund seiner früheren Fehler, getrennt lebten, hatte er sehr viel Kontakt zu seiner Familie. Durch die neue Leber würde er bei der  Diplomverleihung seiner Tochter dabei sein und seinem Sohn würde er unter die Arme greifen, als er eine neue Ausbildung begann und ich stände ihm bei all diesen Dingen unterstützend zur Seite.

Mein dritter Horkrux wäre das neue Bein eines Teenagers aus Syrien, die ihr eigenes Bein bei einem

Anschlag verloren hatte. Sie konnte nun wieder laufen und wurde nicht mehr überall angeschaut als sei sie eine Außerirdische. Jetzt konnte sie, mit mir zusammen, ihren Traumjob lernen, den sie ohne das Bein und ohne ihre Aufnahme in Europa nicht hätte machen können. Wir stiegen Treppen, sprangen über Hindernisse und überholten alle, die je an ihr gezweifelt hatten. Gemeinsam  kämpften wir auf der Straße  gegen Ausgrenzung , Extremismus und Krieg  und waren dabei so erfüllt wie nie zuvor.  

Mein vierter Horkrux wäre meine Milz, die einer Brasilianerin nach einer Milzruptur das Leben  rettete. Mit ihr

streifte ich durch Fortaleza und arbeitete für die verschiedensten Leute um am Abend den Kindern ein Essen auf den Tisch zu setzen. Mal arbeiteten wir als Hausmädchen für die Besitzer einer Privatschule, ein anderes Mal als Putzfrau in einem Museum oder als Köchin für einen Firmenbesitzer. Das Leben war anstrengend, aber zumindest hatten die Kinder abends etwas zu essen und konnten zur Schule gehen. Das würde uns zum lächeln bringen.  

Mein fünfter Horkrux wären die neuen Augen eines jungen Mannes in Angola. Sie ermöglichten ihm die Welt um ihn herum klar zu erkennen und zu sehen, wer denn da  gerade auf ihn zukam. Mit

 ihm würde ich die Welt Afrikas entdecken. Ich würde neue Tänze lernen, neue Lieder singen und eine neue Sprache sprechen. Mit dem jungen Mann würde ich Bücher entdecken, wir würden  Geschichten lesen und vorlesen. Mit ihm gemeinsam würde ich mich um seine jüngsten Geschwister kümmern und seine Mutter entlasten, die sich jahrelang um alles gekümmert hatte, da er ja nichts sehen konnte.  

Mein sechster Horkrux wäre meine Lunge. Sie würde einer 50-jährigen Polin ermöglichen ihren Traum von der Everest-Besteigung zu erfüllen. Gemeinsam würden wir uns Berge hinaufkämpfen  und die verschiedenste

Flora und Fauna beobachten. Zusammen kämen wir außer Puste, machten Pausen und gingen voller Energie weiter unseres Weges. Wir würden abrutschen und wieder aufstehen und uns in gar keinem Fall unterkriegen lassen. Wir würden kämpfen und schließlich den  Gipfel erreichen.  

Mein siebter Horkrux wäre mein Herz, welches das mir am nächsten gelegene Organ war und es würde mir ermöglichen noch eine stärkere Bindung zum Empfänger aufzubauen. Dieser Empfänger wäre eine junge Mutter, die trotz Risiko gerade ein Kind zur Welt gebracht hatte. Unser Herz würde ihr ermöglichen viel Zeit mit der kleinen

Nelly verbringen zu können und sich ganz und gar um sie zu kümmern, anstatt selbst immer wieder aufs Neue im Krankenbett zu liegen. Wir würden gemeinsam das Kind aufwachsen sehen, wir würden es mit ganzer Kraft lieben und es in dem unterstützen was es tat. Wir würden für es da sein, wenn es eine schwere Zeit hatte und Hilfe brauchte. Gleichzeitig würden wir es uns selbst auch gut gehen lassen, vielleicht einfach mal einen ganzen Tag lang im Garten liegen und die Natur beobachten. Die Vögel würden zwitschern, die Wolken vorüberziehen und die Blätter rascheln.  




7 Horkruxe, 7 Leben gerettet, 7 mal geholfen, 7 mal geschenkt, 7 mal Neues gelernt und 7 mal den Horizont erweitert. 

Diesen Horizont würde ich noch weiter erweitern! Alles das, was von meinem Körper nicht mehr gebraucht werden könnte, würde ich einäschern und dann in der Welt verstreuen lassen, so wie ich  es mir gewünscht habe. Ich würde als Staubkorn in die Luft gehoben werden und aleatorisch, so spontan wie nie, an einen Ort gewirbelt werden, der mir neu oder altbekannt war. Ich würde die  Welt aus einer anderen Perspektive sehen und endlos neues erkunden, immer wieder

Geheimnisse lüften und Spalten in Hängen finden. Ich würde ständig neue Leute, Tiere, Pflanzen und Steine  treffen. Jeden Tagg, jede Stunde, jede Minute, ja, jede Sekunde etwas Neues entdecken und die Welt endlich wertschätzen lernen... so wie sie ist... tief in ihr drin...  

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Hörbuch

Über den Autor

NeleNamfoh
Nele Namfoh ist eine mysteriöse Gestalt, die aus den Abgründen einer weit verwinkelten Bibliothek erstanden ist und nur durch Glück den Ausgang in das verworrene, aber zumindest reale, Leben fand. Durch ihr Interesse am Weltgeschehen und an der Kunst ganz im Allgemeinen wird sie regelmäßig zum Schreiben kürzerer Geschichten angeregt.
Neben der Literatur hat auch die Musik einen großen Stellenwert im Leben der Autorin. So spielt sie Gitarre und beschäftigt sich gerne mit dem Nachsingen bekannter Songs aus Vergangenheit und Gegenwart.
Nele wünscht Ihnen viel Spaß beim Lesen.

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Gast Das ist das beste, was ich in letzter Zeit gelesen habe. Kompliment
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NeleNamfoh danke!! Dann hast du wahrscheinlich lange nichts mehr gelesen - hahaha
Vor langer Zeit - Antworten
Gabriele Ich finde deine Ausführungen nicht nur spannend
und natürlich sozial,
sondern auch ethisch und philosophisch nachvollziehbar,
gefällt mir sehr und hat meinen Horizont erweitert :-)
Liebe Grüße, Gabriele
Vor langer Zeit - Antworten
NeleNamfoh das freut mich, danke für deinen Kommentar!
Vor langer Zeit - Antworten
Miranda Hallo Nele,
ein sehr guter und nachdenklicher Text. Wenn da nicht das aber wäre, was passiert wirklich mit uns, wenn wir z.B. im Koma liegen, wer bekommt die Organe? Die; die sie sich leisten können, oder ausschließlich jene, die sie dringend brauchen? Ich bin schon seit Jahren Stammzellenspender, den Organspenderausweis habe ich noch nicht ausgefüllt, zu viel Unsicherheit. Doch dich ehrt es ungemein, dass du so denkst! Trotzdem...bleib gesund.
LG
sigrid
Vor langer Zeit - Antworten
NeleNamfoh danke - ich denk mir einfach, wenn ich eh zu Ende bin, dann kann es mir ja im Prinzip egal sein wer die Organe bekommt, ich werde die Leute sowieso nicht mehr treffen. Ich kann jedoch trotzdem Leben retten und der Gedanke macht mich glücklich, auch wenn es nicht die trifft, die es am meisten 'verdient' hätten. Ich stelle mir einfach ein paar Menschen vor, die es vielleicht treffen wird und selbst wenn jemand meine Organe bekommt, der vorher sehr viele Dummheiten angestellt hat, gebe ich ihm in gewisser Weise eine zweite Chance und vielleicht nutzt er sie, vielleicht auch nicht. Aber gut, ich denke, jeder kann seine eigene Meinung haben und das hier ist eben meine. Deine kann ich natürlich auch nachvollziehen, alles hat seine Schattenseiten. Ich habe in den paar Jahren die ich hier auf der Welt bin, gelernt, die Dinge so positiv wie möglich zu sehen.
Danke für deinen Kommentar
Vor langer Zeit - Antworten
Miranda Hallo Nele,
ich denke mal, du bist noch sehr jung; da sieht man noch vieles in anderem Licht. Ich würde meine Organe ebenfalls zur Verfügung stellen, allerdings erst nach gründlicher Aufklärung ( nicht von irgendeiner Organlobby), sondern von Ärzten meines Vertauens. Im Grunde wäre es mir auch egal WER meine Organe bekommt, höchstwahrscheinlich muss ich mir diese Frage sowieso nicht stellen, ich bin selbst nicht gesund. Ja, trotzdem...vielleicht könnte man doch noch irgend etwas von mir "verwenden" und sei es "nur" Gewebe. Du hast sicher noch viele, viele Jahre vor dir; ich dagegen befinde mich im Spätherbst meines Lebens, glaube mir...da denkt und fühlt man anders.
Danke und liebe Grüße
sigrid
Vor langer Zeit - Antworten
NeleNamfoh Klar Beratung muss sein!
Ich wünsche dir dann gute Genesung und dass du noch viel mehr Zeit mit deinen Lieben verbringen kannst als du denkst!
Vor langer Zeit - Antworten
Brubeckfan Hej Nele, wie schön!
Das ist mal eine Weihnachtsstimmung.
Aber trotzdem: Bleib schön gesund, und noch lange.
Herzliche Grüße,
Gerd
Vor langer Zeit - Antworten
NeleNamfoh ich werde mein Bestes geben!
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