Es begann kaum spürbar von Matthias März
Als ich es das erste Mal bemerkte war es kein Anlass zur Sorge. Im Gegenteil es war eine große Freude für mich. Ich hatte gegen Herbert zum ersten Mal eine Schachpartie gewonnen. In all den Jahren die wir uns kannten war mir das noch nie gelungen. Allenfalls zwei Remis hatte ich zuvor geschafft. Doch an diesem Tag war Herbert unkonzentriert. Er machte schlimme Fehler und schien das noch nicht einmal zu bemerken.
Drei Monate später waren wir zu einem Turnier in Stuttgart eingeladen. Herbert
hatte unsere Fahrt wie immer perfekt organisiert und die Fahrkarten viele Wochen zuvor besorgt. Er kannte die Fahrpläne aller großen deutschen Verkehrsverbünde auswendig, daher machte ich mir keine Sorgen, dass etwas schief gehen könnte. Doch als wir in der Schwabenmetropole ankamen, stellte sich heraus, dass die Stadtbahn nicht zum gewünschten Ziel führte, wir waren in die falsche Richtung gefahren. Herbert spielte das herunter. „Das kann schon mal passieren!“, sagte er mit einem Lächeln. Zum Glück trafen wir dann noch rechtzeitig am Veranstaltungsort ein. Als uns dort Manfred Fleischer begrüßte, war ich das zweite Mal an
diesem Tage irritiert. Herbert stellte sich und mich vor zur großen Verwunderung von Manfred. Wir kannten uns schon lange, doch Herbert hatte das offenbar vergessen.
Was war nur mit ihm los? Er war mit seinen 65 Jahren geistig bislang topfit. Sein Gedächtnis war phänomenal, auf vielen Bereichen. Wenn wir gemeinsam Quizshows guckten, kannte er meistens alle Antworten, egal ob es Sport, Geschichte, Musik oder Literatur war. Herbert machte sich immer über die „dummen Kandidaten“ lustig, die so wenig wussten aber so viel Geld dafür bekamen. Doch nun machten sich bei ihm
erste Anzeichen einer Verwirrung bemerkbar.
Das Turnier gewann mein Freund überlegen und freute sich riesig. Er lud mich zum Essen in einem teuren Feinschmeckerlokal ein. Die „Zirbelstube“ befand sich in dem Hotel, in dem wir nächtigten. „Wunderschön hier“, stellte ich fest und ergänzte: „Und nicht gerade preiswert.“
„Mach darüber keine Sorge und schau nicht auf die Preise“, antwortete Herbert. „Ich denke, ich nehme als Vorspeise die Froschschenkel. Das wollte ich immer schon einmal probieren. Der Lammrücken ist bestimmt
auch köstlich. Was nimmst du, Alexander?“
„Ja das Lamm werde ich auch nehmen, aber keine Froschschenkel. Ich wundere mich, dass du so etwas essen willst. Du hast dich doch immer so für den Tierschutz engagiert.“ Ein verwirrter Blick von meinem Freund. Dann entgegnete er: „Na, ja, auf meine alten Tage kann ich ja wohl noch einmal meine Meinung ändern.“
Sechs Monate vergingen. Ich hatte es mir gerade vor dem Fernseher mit einem wunderbaren Rotwein gemütlich gemacht, als das Telefon klingelte. „Guten Abend, Herr Bartels. Hier
Polizeiobermeister Vogel. Kennen Sie einen Herbert Reimers?“
„Selbstverständlich. Ist ihm etwas passiert?“
„Nicht direkt. Aber wir haben Ihren Freund am Messeschnellweg aufgegriffen. Er lief dort mehrfach auf die Schnellstraße. Zum Glück fuhren wir zufällig vorbei. Herr Reimers hatte keine Papiere dabei und trug nur einen Schlafanzug und Pantoffeln. Können Sie ihn hier bei uns in Döhren abholen?“ Natürlich war das kein Thema. Ich machte mich sofort auf dem Weg zum Polizeirevier. Zum Glück hatte ich noch nicht viel getrunken.
Diesen Blick von meinem Freund werde ich nie vergessen. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Er wirkte teilnahmelos und wusste offensichtlich nicht, wo er war. „Die wollten mich entführen, Alexander. Gut, dass du endlich da bist“, flüsterte er mir zu. Immerhin erkannte er mich. Ich brachte ihn nach Hause. Während der ganzen Fahrt redete er wirres Zeug und beschwerte sich, dass seine Schwester Gertrud sich schon lange nicht mehr bei ihm gemeldet hatte. Herbert hatte vergessen, dass sie vor drei Jahren verstorben war.
Es wurde immer schlimmer mit ihm. Als ich einige Zeit danach Socken in seinem
Kühlschrank und mehrere Brote in seinem Geschirrspüler entdeckte stellte ich ihn zur Rede. „Das war die Gertrud!“, behauptete er. „Die hat mich vorgestern besucht und hier alles durcheinander gebracht. Aber was soll es. Lass uns eine Partie Schach spielen. Ich habe die Figuren schon aufgebaut.“ Das hatte er tatsächlich, aber die Könige und die Damen standen falsch. So etwas war ihm noch nie passiert. Jetzt reichte es mir. „Herbert, wir müssen reden. Warst du schon einmal beim Arzt wegen deiner Krankheit?“
„Wieso? Mir geht es prima. Ich bin fit wie ein Turnschuh.“
„Das bist du nicht, Herbert. Das fällt mir
schon seit einiger Zeit auf.“
Mit großem Widerstand fügte er sich schließlich und ließ sich zwei Tage später untersuchen. Doktor Bauer stellte bei ihm Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium fest. Mein Freund konnte nicht einmal simple Fragen richtig beantworten. Er war felsenfest davon überzeugt, dass Kohl noch Bundeskanzler war und wusste auch nicht welchen Wochentag wir hatten.
Da Herbert keine Verwandten mehr hatte, kümmerte ich mich um alles Weitere. Ich fand ein gutes Pflegeheim in der Nähe seines bisherigen Wohnortes für ihn.
Man blickte von seinem Zimmer auf den Stadtwald, den er so liebte. „Wunderschön hier in diesem Krankenhaus, Alexander“, stellte Herbert fest, als ich ihn das erste Mal dort besuchte. „Ich werde übrigens nächsten Montag entlassen. Die kleine Magenverstimmung habe ich doch recht schnell überwunden. Gertrud war vorhin auch da. Schau dir die schönen Blumen an, die sie mir mitgebracht hat.“ Er zeigte auf seinen Nachttisch. Dort standen gar keine Blumen. „Mach doch bitte den Fernseher an. Die DDR hat die Grenzen aufgemacht, das will ich unbedingt sehen. Dann besucht mich bestimmt auch bald Erwin, mein Cousin.
Der lebt doch in Dresden. Ich freue mich schon, ihn wieder zu sehen.“ Ich musste eine Träne unterdrücken. Herbert lebte für sein Gefühl im Jahr 1989.
Ich habe Herbert vorgestern das letzte Mal gesehen. Er ist friedlich eingeschlafen. Sein nicht unbeträchtliches Vermögen geht an eine Stiftung, die sich um Menschen kümmert, denen es so ergeht wie ihm. Zu hoffen bleibt, dass in ferner Zukunft die Forschung solche Schicksale wie das von Herbert verhindert.