Am Anfang war er mir irgendwie suspekt. Er wirkte teilnahmslos. War meist in sich gekehrt und sagte kaum ein Wort und schaute grimmig. Daher hielt ich von ihm Abstand, so wie die anderen. Nach wenigen Tagen hatten sich schon die ersten Grüppchen gebildet. Ich fühlte mich nirgendwo dazugehörig. Da ich nicht rauchte, schloss ich mich nicht den Rauchern an. Dann gab es noch die „Schnattertanten“ Die nervten mich einfach nur. Denn selbst während des Unterrichts konnten sie nicht die Klappe halten. Und viel mehr blieb nicht übrig. Fast die ganze Klasse bestand aus
Rauchern. Wenn die von ihrer Pause wiederkamen, kam mir das Kotzen. Der Gestank war unerträglich. Nach etwa drei Wochen hatte ich die Schnauze voll. Ich hatte keine Lust mehr drauf, das mir das Essen aufstößt. Lieber saß ich neben jemanden, der mir suspekt war, als neben jemand, der mich zum Kotzen brachte. Anfangs dachte ich, es wäre nur Einbildung, aber der Typ, neben dem ich bis dato gesessen hatte, stank nicht nur nach Zigaretten, sondern allgemein. Und mit jedem Tag wurde es schlimmer. Obwohl ich am geöffneten Fenster saß, roch ich seine übelkeiterregenden Ausdünstungen. Das es nicht nur Einbildung war, sondern der
Wahrheit entsprach, sah ich daran, das sich die anderen über seinen Gestank beschwerten. Sie hielten sich nicht zurück ihn darauf hinzuweisen. Doch anstatt sich zu waschen, legte er Beschwerde bei unseren Dozenten und der Schulleiterin ein; ohne Erfolg. Danach habe ich ihn nie wieder gesehen. Ob er freiwillig das Weite gesucht hatte, oder von der Schule geflogen war, habe ich nie erfahren. Ich habe mir auch nie die Mühe gemacht, es herauszufinden. In der ersten Reihe wollte niemand sitzen. Außer Tiho, der mir damals suspekte Typ, saß dort niemand. Das hieß für mich, viel Platz. Ich hatte eine ganze Bank für mich alleine. Kein Platzmangel
mehr und kein Gefühl des Eingeengtseins. Niemand saß neben mir und quatschte während des Unterrichts. Es hieß auch, näher am Dozenten zu sein und ihn besser verstehen. Mehr vom Unterricht mitbekommen. Wieso hatte ich mich nicht von Anfang an in die erste Reihe gesetzt? Es dauerte nicht lange, bis über uns geredet wurde. Dabei gaben wir gar keinen Grund dafür. Wir saßen nur nebeneinander und folgten aufmerksam dem Unterrichtsgeschehen. Schließlich hatten wir die Umschulung nicht angefangen, weil wir gerade Langeweile und nichts besseres zu tun hatten, sondern um uns weiterzubilden, einen
guten Abschluss zu machen und in Arbeit zu kommen. In den ersten Wochen lernten wir aber nicht viel. Xmal durften wir uns einander vorstellen. Jedes Mal, wenn wir ein neues Fach und damit einen anderen Dozenten bekamen. Und wir spielten kleine Spielchen. Mir, und auch Tiho, ging es ziemlich auf den Sack. Wir wollten was lernen und nicht irgendwelche pädagogische Spiele spielen. Unsere Mitstudenten beschwerten sich nur die ersten Minuten darüber, dann steigerten sie sich in die Materie rein. Tiho und ich hielten uns zurück. Für uns war es Kindergarten. Und nachdem wir erfahren hatten, das
dieser Sozialpädagoge, der die Spiele mit uns machte, eigentlich für schwererziehbare Jugendliche…
Mancher Dozent warf mit Fachbegriffen um sich und erklärte sie nicht ausreichend. In meiner Verzweiflung tippte ich, jedes mal wenn ich was nicht verstand, Tiho an und bat ihn, mir das eben Gesagte in einfachen Worten zu übersetzen. Manchmal stand ich neben mir und fragte ihn sehr häufig. So häufig, das es mir peinlich war und ich angst hatte, das er auf die Palme stieg. Aber Tiho blieb ruhig. In seiner Stimme schwang nichts Negatives mit. Weder Genervtheit, noch Überheblichkeit, noch sonst was in der Art. Ich sah ihm an, das er sich Mühe gab, mir mit einfachen
Worten zu erklären, was ich nicht verstanden hatte. Manchmal brauchte er mehrere Ansätze, weil ich auf dem Schlauch stand. Aber er verlor dabei nie die Geduld und den Respekt vor mir. Er blieb stets freundlich, was ich ihm hoch anrechnete. Denn ich hatte schon andere Erfahrung gemacht. Oft war ich einfach nur eine dumme Tussi. Auch wenn es mir nicht direkt ins Gesicht gesagt wurde, hatte ich es denjenigen angesehen, das sie so dachten. Tiho war anders. Er hatte etwas väterliches an sich. Einige unserer Mitstudenten waren der Meinung, er sei ein Nazi. Nicht, weil er irgendwelche Symbole trug oder weil er irgendwelchen Nazischeiß von sich gab.
Er trug auch nicht die, für Nazis typischen, Klamotten. Tiho war für sie ein Nazi, weil er kurzgeschorene Haare hatte. In den ersten Tagen war ich der selben Meinung, weil ich es nicht besser wusste und ich dachte, das ihn jemand kannte. Später fand ich heraus, das er weder ein Nazi war, noch das ihn jemand vorher gekannt hatte. Er wurde einfach als Nazi abgestempelt, weil er sein Haar ultrakurz hielt. Nach dem ich das herausgefunden hatte, wollte ich gar nicht wissen, was sie über mich dachten.
Unbewusst wartete ich eines morgens, in der Nähe des Schulgebäudes, auf Tiho. Ich weiß auch nicht, warum ich es tat. Schließlich wollte ich nichts von ihm und wir waren auch keine Freunde gewesen. Wir saßen nur, im Unterricht, nebeneinander. Ansonsten gingen wir getrennte Wege. Als ich ihn ankommen sah, lächelte ich ihm zu. Es dauerte ein Weilchen, bis er mich bemerkte. Doch als sein Blick auf mich fiel, lächelte er zurück. Von da an wartete ich jeden Morgen auf ihn; wir waren übrigens immer die Ersten. Bevor wir uns auf den Weg ins Klassenzimmer
machten, gingen wir in die Cafeteria. Dort holte er sich einen großen Kaffee und kippte ordentlich Milch hinein. Ich gönnte mir nur einen kleinen Becher. Manchmal holte ich mir auch einen Tee. Dann setzten wir uns an einen der Tische, tranken Kaffee, ich aß eine Kleinigkeit und wir genossen die Ruhe. Es klingt bescheuert. Aber das Schweigen, zwischen uns, empfanden wir...es gibt kein passendes Wort dafür. Während des Unterrichts und in den Pausen wurden wir mehr als genug mit Gelaber zugedröhnt. Deshalb schätzten wir die Ruhe davor. Wenn wir den Klassenraum betraten, hatten wir immer noch eine knappe
viertel Stunde, bis Unterrichtsbeginn. Die war vollgefüllt mit Geplapper. Ich kam mir dann vor, als wäre ich in der Mittelschule. Genau so hatte ich meine damalige Schule in Erinnerung. Und ich war eine von denen gewesen. Sobald ich mit meinen Freundinnen zusammen gewesen war, gingen unsere Münder nicht mehr zu. Wir hatten uns eben viel zu erzählen. Vor allem viel Schwachsinn. Aber damals war ich Teenager. Nun war ich um die dreißig, erwachsen und annähernd reif. Ich unterhalte mich gern mit jemanden. Aber es interessiert mich einen Scheiß, was mein Gegenüber am Vortag im Fernsehen gesehen hat. Auch ist es mir
piepegal wen er süß findet, wie sehr ihn/ihr Partner nervt. Mich interessierten andere Dinge, wie das aktuelle Tagesgeschehen. Jeden Tag passierte irgendwo irgendwas. Wer süß aussah, das interessierte mich brennend, als Teenager war, aber nicht mehr als erwachsene Frau. Und die Witze, die sie sich gegenseitig erzählten, waren lustig gewesen, als Jopie Heesters geboren wurde. Manche Witze waren auch einfach nur Niveaulos oder rassistisch. Aber Tiho ist der Nazi; alles klar.
Meine Pläne waren kurzfristig ins Wasser gefallen. Sie hatte sich mal wieder verliebt und da störte ich. Warum wir Freundinnen waren, weiß ich gar nicht so genau. Wir hatten so gut wie nichts gemeinsam und sie sagte mir immer wieder ab. Meist wegen irgendeinem Typen. Deswegen habe ich ihr irgendwann den Laufpass gegeben. - Naja, nicht direkt. Ich habe mich einfach nicht mehr bei ihr gemeldet und sie sich bei mir nicht. Bevor ich sämtliche Freunde anrufe, dachte ich mir, frage ich Tiho, was er am Wochenende macht. Ich hatte eh
vorgehabt, ihn näher kennenzulernen. Nicht, weil ich was von ihm wollte, sondern weil ich ihn nett fand und wollte, das wir gute Freunde werden. Denn um ehrlich zu sein, hatte ich zwar einen ganzen Haufen Bekannte, aber keinen richtigen Freund, geschweige eine richtige Freundin. Man traf sich gelegentlich und quatschte über belangloses Zeug. Danach trennte man sich wieder und ging jeder seine eigenen Wege. Meine letzte Beziehung lag auch schon ewig zurück. Jene Beziehung hatte ihr Ende gefunden, bevor sie begonnen hatte. Es lag eindeutig an ihm. Schließlich hatte er ständig anderen Weibern hinterhergeschaut. Als ich ihn
dabei erwischte, wie er einer anderen seine Telefonnummer gab, hab ich ihn eiskalt abserviert. Sein Pech, wenn er sich von mir erwischen lässt. Dabei wollte ich ihm die Freude machen und endlich mit ihm schlafen.
Tiho schien nicht sehr begeistert, das Wochenende mit mir zu verbringen. Dennoch sagte er nicht nein. Sehr wahrscheinlich lag es daran, das ich ihm sagte, das ich was zu trinken mitbringe. - Je mehr ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir deswegen.
Tiho machte kein Hehl draus, das er das Wochenende lieber alleine verbringen würde. Dennoch blieb er freundlich, mir gegenüber. Auf dem Weg zu ihm, sprachen wir nicht viel. Er war ziemlich wortkarg und schien in Gedanken zu sein. Ich war am Überlegen, ob ich ihn nicht einfach in Ruhe lassen und zu mir nach Hause gehen sollte. Doch der Drang, ihn kennenzulernen, war stärker. Seine Wohnung war minimalistisch eingerichtet. Genauso, oder so ähnlich, wollte ich schon seit Längerem leben. Aber ich schaffte es nicht, mich von all dem zu trennen, was ich besaß. Weder
von meinen CD´s, noch von meinen Dekoartikeln. Gerade das Dekozeugs nahm bei mir den meisten Platz weg, aber ich konnte mich einfach nicht davon trennen. Zu sehr erinnerte es mich an eine unbeschwerte Kindheit, an alte Freunde und verstorbene Verwandte. Kurz gesagt, es waren Erinnerungsstücke. Deshalb fiel es mir so schwer, mich davon zu trennen obwohl sie mir mehr im Weg standen, als mir Freude brachten. Wir waren gerade erst bei ihm in der Wohnung, als er schon das erste Bier öffnete und genüsslich einen großen Schluck nahm. Erst dann zog er sich Jacke und Schuhe
aus. „Ich habe keine Weingläser. Entweder trinkst aus der Flasche oder nimmst mit einem einfachen Limoglas vorlieb.“ „Ey, was denkst du von mir? Seh ich aus, wie eine Säuferin? Gib mir ein irgendein Glas.“ Dann setzten wir uns in sein Wohnzimmer. Schweigend saßen wir auf seiner Couch. Ich wartete darauf, das er anfing, irgendwas zu sagen. Irgendein Thema anzuschneiden. Doch er saß nur da, trank sein Bier und schwieg. Innerhalb weniger Minuten hatte er seine erste Flasche ausgetrunken und holte sich eine Neue. Ich hatte noch nicht einmal ein halbes Glas leer. Es war einer
von der Sorte, wo die Verpackung einen edlen Inhalt versprach. Leider war es nur ein leeres Versprechen. Der Wein schmeckte irgendwie nach Kork, obwohl er einen Schraubverschluss hatte. Dennoch würgte ich ihn mir hinter. Manchmal kam es ja vor, das etwas nach dem ersten Glas anfing zu schmecken. „Musik?“, fragte er, als er mit seiner zweiten Flasche ins Wohnzimmer zurückkam. „Klar. Was hast du da?“ „Klassik, Independent, J und K Pop, Deutschrock, Ostrock, Oldies,...“ „Kara?“ Ich nickte zustimmend, weil ich glaubte, er hätte Karat gesagt. Zwar war ich kein
großer Fan von gewesen, aber es erinnerte mich an eine unbeschwerte Kindheit. Meine Eltern hatten oft und gerne Karat gehört. Es war doch nicht Karat gewesen, sondern eine Girlgroup. Tiho erklärte mir, das sie aus Südkorea stammten und von 2007-2016 aktiv waren. Ich fand die Musik gewöhnungsbedürftig. Was nicht heißt, das sie mir nicht gefiel. Bis dato hatte ich nur Musik gehört, wo der Text entweder in englisch oder in deutsch gesungen wurde. Koreanisch hatte ich vorher noch nie gehört. Aber es ging ins Ohr. Und wir hatten ein Gesprächsthema. Wenige Minuten später herrschte wieder Schweigen. Wir lauschten der Musik und
hingen unseren Gedanken nach. Es machte mich kirre. Tiho saß genau neben mir und war mir dennoch so fern. In jenem Moment hatte ich mir gewünscht, weit weg zu sein. Auf einem anderen Stern, oder so. Kara war zu Ende. Tiho stand auf und legte eine neue CD ein. „M.P. Thompson. Wird dir gefallen, wenn du auf Rock stehst.“, sagte er. Und er hatte recht. Die Musik gefiel mir. Von Tiho erfuhr ich, das die Band einerseits hoch gefeiert wurde, andererseits stark kritisiert wurde. Im eigenen Land durfte sie überall auftreten. Es wurde sogar schon ein Konzert im Fernsehen übertragen. Aber es gab
Länder, die behaupteten, das die Band und deren Frontmann rechts seien, was nicht stimmte. Sie waren nur Patrioten und distanzierten sich von den Nazis. Tiho interessierte sich sehr für Musik. Seine Sammlung war gigantisch. Das Meiste war deutsch oder stammte aus dem Ostblock; Polen, Tschechien, Asien… In seiner Sammlung befand sich auch Musik aus Italien und Österreich. Es bewies mir, das er kein Nazi war, wie einige behaupteten. Denn weder Falco, noch Opus waren rechtsorientiert, noch Albano und Romina Power. Überraschend war für mich gewesen, das er Schnulzen hörte, wie Roy Black und Roland Kaiser, was gar nicht mein Ding
war. Als er dann die Backstreetboys einlegte, glaubte ich, das er vom anderen Ufer war. Nicht nur, das er alle Alben von denen besaß. Zudem hatte er noch ein Tuch und ein Schal von ihnen. Als ich noch Teenager war, fuhr ich voll auf die Jungs ab. Besonders Brian hatte es mir angetan. Seine Stimme und sein Lächeln ließen mich dahinschmelzen. Als Kevin ausschied, wendete ich mich von der Boygroup ab. Auch wenn er eher im Hintergrund agierte, waren für mich die Backstreetboys nicht mehr das gewesen, was sie vor seinem Ausscheiden gewesen waren. Doch rund zwanzig Jahre später musste ich feststellen, das mir ihre Stimmen und Lieder immer noch
gefielen. Ein wenig fühlte ich mich wieder wie ein Teenager. Vielleicht lag es am Alkohol. Aber es war schön gewesen. Irgendwie war ich Tiho dankbar, das er… Aber ich hatte auch Tränen in den Augen, weil es mich an meine erste große Liebe erinnerte. Ich war gerade junge sechzehn Jahre gewesen, als er mich für eine verlassen hatte, die einen größeren Busen, als ich, hatte. Damals war ich so verzweifelt gewesen, das ich mit dem Gedanken gespielt hatte,mich selbst umzubringen. In der Zwischenzeit sind meine Brüste gewachsen und ich wünschte, sie wären so klein geblieben, wie sie damals gewesen
waren. Es wurde immer später. Irgendwann fielen meine Augen einfach zu. Zu viele Informationen über Künstler und Bands und zu viel Alkohol. Ich war müde von all dem geworden. Mein Kopf war mir zu schwer geworden. Und so viel ich einfach um und schlief. Am Morgen drauf wachte ich mit Kopfschmerzen und einem flauen Gefühl im Magen auf. Mir war leicht übel und im ersten Moment wusste ich nicht, wo ich war. Bis Tiho mich ansprach und mich grinsend nach meinem Befinden befragte. Vorsichtig lugte ich unter die Decke und stellte erleichtert fest, das ich noch angezogen
war. „Ich nutze keine Situationen aus. - Nach dem du auf meinem Schoß eingeschlafen warst, bin ich langsam, leise und vorsichtig aufgestanden, hab eine Decke geholt, sie dir über deinen Körper gelegt und bin dann in mein Bett gegangen. Viel lieber hätte ich ja noch den Film geschaut, der gestern Nacht im Fernsehen lief. Aber du hattest so dermaßen geschnarcht...“ „So schlimm?“, fragte ich halbverschlafen. „Mein Alter ist schlimmer.“ Den ganzen Tag verbrachte ich dösend auf seiner Couch, während Tiho genüsslich Bier trank und sich um mich
kümmerte. An jenem Tag hegte ich den Verdacht, das Tiho ein Problem mit Alkohol hat. Später bestätigte sich mein Verdacht. Ich hatte ihn freiraus danach gefragt und er hatte mir gesagt, das er seit fast zwanzig Jahren trinkt. Er war mit Alkohol aufgewachsen. Laut seinem reden, hatte seine Mutter Vodka getrunken, während sie mit ihm schwanger war. Bei seinen Geburtstagen, besoffen sich die Erwachsenen und er sah dabei zu. Richtigen Kindergeburtstag kannte er nicht. Als ich dösend auf seinem Sofa lag, kümmerte er sich rührend um mich. Zum Mittag gabs selbstgemachte Nudelsuppe und Kräutertee. Es war nicht nur sehr
schmackhaft, sondern half mir auch, das ich mich besser fühlte. Ich bekam nebenbei mit, während ich wieder döste, das Tiho sich eine Dokumentation über Magersucht ansah. Als ich aufstand, um aufs Klo zu gehen, sah er mich seltsam an. Sein Blick wanderte vom Bildschirm zu mir und zurück. „Neben denen, siehst du richtig dick aus.“ „Danke für das Kompliment.“, tat ich beleidigt. Aber er hatte recht. Neben den Rippchen sah ich wirklich fett aus. Selbst Tiho wirkte massig. Deswegen schaute er sich hinterher, behaupte ich mal, eine Doku
über Übergewichtige an. Ich fand es eklig, dies mit anzusehen. Deshalb zog ich mir die Decke über den Kopf und versuchte noch ein wenig zu schlafen. Nachdem ich die ganze Nacht und den halben Tag verschlafen hatte, wunderte es mich nicht, das ich nun hellwach war. In diesem Zustand wollte ich keine Bilder von stark übergewichtigen Menschen sehen. Ich war froh gewesen, das es mir wieder gut ging, meine Übelkeit vorüber war und ich wieder Appetit empfand. Appetit auf etwas Herzhaftes und auf etwas flüssig Herbes. „Ich bring Bier rein und du schaltest das weg. Deal?“, fragte ich ihn. „Meinetwegen. Gehst auch gleich für
mich pissen? Bin grad zu faul zum Aufstehen.“ „Mach‘s dir selbst.“ Er hatte ein süßes Lächeln, stellte ich fest. Leider zeigte er es zu selten. Irgendwann, so nahm ich vor, würde ich ihn ausfragen. Manchmal hilft ja reden. Als ich mit unserem Bier wieder zurück auf die Couch kam, lief immer noch die Doku mit den Dicken. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die mit dem Finger auf andere zeigen. Aber was die dort zeigten, war schon eklig. Als ich wieder neben ihn saß, riss ich die Fernbedienung an mich. Zur Strafe musste er sich mit mir einen romantischen Liebesfilm ansehen. Aus
irgendeinen, mir unergründlichen, Grund hatte ich in dem Moment richtig Bock drauf, mir so was anzusehen. Tiho sagte kein Wort. Anscheinend wusste er schon damals, das er gegen mich keine Chance hatte. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete ich unentwegt Tiho. Ich wollte es nicht. Dennoch tat ich es. Zum Glück fühlte er sich unbeobachtet, ansonsten hätte er den gefühlskalten Typen gezeigt, der er in der Schule war. So sah ich aber, das er tief in seinem Inneren einen weichen Kern hatte. Als eine Träne sich zeigte, stand er abrupt auf und verließ das Zimmer. Mein erster Impuls wollte ihm folgen. Aber wenn ich
das getan hätte, wer weiß, wie aggressiv er darauf reagiert hätte. Schließlich war er jemand, der seine Gefühle nicht zeigte und nicht zeigen wollte. Mir ging es auch nahe, wie die Frau ihren Mann behandelte, der sie abgöttisch liebte. Ich empfand Mitleid für den Mann. Wenn ich so jemand gehabt hätte, der mich auf Händen trägt und über alles hinwegsieht...Irgendwo war er doch selber Schuld. Warum haute er nicht mal auf den Tisch? Sie trampelte auf ihn herum und er ließ es mit sich geschehen. Mitten im Film lässt sie ihn fallen und haut mit einem anderen Typen ab, der, außer Muskeln, nichts anderes vorzuweisen
hatte. Mir war das ganze zu viel geworden. Deshalb machte ich einen anderen Film rein. Ein Horrorstreifen. Tiho kam wieder rein. Sein Gesicht war ausdruckslos. Er verzog keine Mine. Das er geweint hatte, sah man nicht. Vielleicht hatte er auch gar nicht geweint. Kann ja sein, das ich mir die Träne nur eingebildet hatte und er nur ganz dringend aufs Klo musste. Schließlich war er nicht gegangen, nachdem ich vom Klo wiedergekommen war und zuvor hatte er gesagt, das er mal muss. Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter und schaute ungerührt zu, wie ein
axtschwingender Mörder ein junges Mädchen köpfte. Das Blut spritzte in Fontänen. Dann fiel der restliche Körper nach hinten. Es war schon ein interessanter Film, auch wenn es nichts wirklich Neues zu bieten hatte. Gemetzel, Angstschreie, viel Blut. Irgendwie steh ich drauf.
Am Montag spürte ich das Wochenende in jeder Faser meines Körpers. Wir hatten bis spät in die Nacht Filme angesehen, uns ein wenig unterhalten und Bier getrunken. Tiho war spätabends noch zur Tanke gelaufen, weil uns das Bier ausgegangen war. Hätte er alleine getrunken, wäre er locker bis Montag hingekommen. Aber so war ich mit da gewesen, hatte fleißig mitgetrunken. Freitag, Samstag und Sonntag auch noch. Jedem war aufgefallen, das ich Klamotten von Tiho anhatte und nicht meine. Praktisch, wenn man die Gleiche Größe hat. Ich fragte mich nur, ob es
wirklich seine Klamotten waren, da auf dem Shirt, welches ich am Montagmorgen von ihm bekommen hatte: „Terrorzicke“ drauf stand. Zu einem Mädchen passt es ja. Aber zu einem Jungen? Je mehr ich über ihn erfuhr, desto undurchsichtiger wurde er für mich. Steckte er in einem falschen Körper? War er mal ein Mädchen gewesen? Gehörte das Shirt mal seiner Ex? Er hatte mir das Shirt mit den Worten: „Geschenkt.“ überreicht. Ich hatte es sofort übergezogen und er hatte mir dabei zugeschaut. Mir war erst hinterher aufgefallen, das ich nackt vor ihm gestanden hatte. In jenem Moment war
ich eh nicht ich selbst gewesen. Meine Leber hatte noch nicht den ganzen Alkohol abgebaut, den ich am Abend zuvor konsumiert hatte. Ich frage mich sowieso, wie ich nur so viel trinken konnte. Es war das erste mal gewesen, das ich drei Tage lang straff war. Tiho konnte ich nicht die Schuld dafür in die Schuhe schieben. Schließlich hatte er mich nicht dazu überredet. Natürlich hatte er es mir auch nicht ausgeredet. Und so quälte ich mich durch den Montag. War es mir eine Lehre? Wie gern würde ich jetzt behaupten können, das ich daraus gelernt habe. Auf dem Klo hatte ich so meine Probleme. Jedes mal vergaß ich, das ich
Tihos Hose anhatte und Männerhosen andersherum geknöpft waren. Einmal wäre es beinahe in die Hose gegangen. - In seine Hose. Für mein empfinden, fühlte sich die Boxer, die ich von ihm bekommen hatte, angenehm an. Ich fühlte mich richtig wohl darin. Besonders in den kalten Tagen, lernte ich die Boxer schätzen. Mein Arsch wurde nicht so schnell kalt. Deshalb war ich auch umgestiegen. Noch am selben Tag hatte ich mir eine Ladung Boxer gekauft und meine Slips aussortiert. Die ausgeleierten Dinger hatte ich eiskalt entsorgt. Den Rest hob ich für besondere Momente auf. Ewig wollte ich ja nicht alleine sein. Und mein
Zukünftiger hatte es verdient, mich zwischendurch in einem knappen Höschen zu sehen. Blöd war, das ich Montagabend, als ich endlich schlafen durfte, nicht einschlafen konnte. Hellwach lag ich in meinem Bett und dachte an das vergangene Wochenende mit Tiho. So schön es auch irgendwie gewesen war, wollte ich es nicht so schnell wiederholen. In der Schule hatten wir das Thema Alkoholismus gehabt. Die Bilder verfolgten mich gerade wieder, als ich an Tiho und das Wochenende dachte. So wollte ich nicht werden. Und ich wollte nicht, das Tiho eines Tages so endet. Noch konnte ich ihm helfen. War nur die
Frage, ob er wollte, das man ihn hilft und ob er meine Hilfe annehmen würde.
Ich beschloss, das ich das folgenden Wochenende wieder bei ihm verbringen und ihn auf sein Alkoholkonsum ansprechen würde. Entweder ließ er sich darauf ein, oder er schmiss mich raus. Ich hoffte aber, das er sich von mir helfen ließ.
Der Rest, der Woche, verlief ganz normal, wie immer. Es wurde über uns geredet. Unsere lieben Mitschüler spekulierten, das Tiho und ich gefunden hatten. Fragten sich, ob wir es schon miteinander getan hatten. Natürlich wurde darüber nur getuschelt und nicht offen darüber geredet. Dennoch bekam ich es mit. Ich regte mich aber nicht auf. Um ehrlich zu sein, ging es mir am Arsch vorbei. Lieber sollten sie über so was reden, als richtig scheiße erzählen. Damals, auf der Mittelschule, ging eine Weile das Gerücht um, das ich es mit jedem treibe. Zum Glück hielt es sich
nicht lange. Irgendjemand hatte mich verwechselt. In meiner damaligen Klasse gab es Eine, die mir ziemlich ähnlich sah. Wir wurden oft verwechselt und viele, auch ich, dachten, sie wäre meine Schwester. Meine Eltern versicherten mir aber, das sie nicht mit uns verwandt ist. Dennoch war die Ähnlichkeit sehr verblüffend. Wenn sie vor mir stand, hatte ich manchmal das Gefühl gehabt, ich stehe vorm Spiegel. Bis sie sich eines Tages die Haare radikal abschneiden ließ, weil sie es satt hatte, stets mit mir verwechselt zu werden. Als ich sie so sah, hatte ich mir überlegt, ob ich es ihr gleich tue, weil ich fand, das die neue Frisur ihr echt gut stand. Viel besser, als
die langen Haare, die sie seit Jahren hatte. Doch dann, so dachte ich weiter, würden wir wieder verwechselt werden. Außerdem wollte ich andere nicht nachmachen. Vor allem sie nicht, weil sie diesen Ruf hatte. In wie weit es der Wahrheit entsprach, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich habe mich nie darum gekümmert, weil es mich nicht interessiert hatte. In der Zeit dachte ich an meine Zukunft. Das Schulleben neigte sich dem Ende zu und ich hatte noch keine Aussicht auf einen Ausbildungsplatz, was mit daran lag, das ich noch keine einzige Bewerbung geschrieben hatte, weil ich absolut nicht wusste, was ich werden wollte. Jeden Tag
hatte ich einen anderen Berufswunsch. Meine Eltern waren am Verzweifeln. Da ich mich nicht entscheiden konnte, beschloss meine Mutter, das ich bei ihr in der Reinigung anfange. Ziemlich schnell merkte ich, das das absolut nicht mein Ding war. Ich zog die Ausbildung nur wegen meinen Eltern durch und damit ich was in der Tasche habe. Außerdem bekam ich Geld. Es war nicht viel. Aber ich brauchte auch nicht viel. Schließlich wohnte ich bei meinen Eltern. Die kamen für alles auf. Jedenfalls für Essen, Trinken und Miete. Alle Extras, wie Klamotten, Kino und so, durfte ich von meinem Lehrlingsgeld bezahlen. Damit kam ich ganz gut weg,
da ich meinen Eltern kein Kostgeld zahlen brauchte. Deswegen konnte ich auch einiges in meine Spardose stecken, das ich dann in meine erste eigene Wohnung steckte. Mir ging es damals richtig gut, wenn ich so darüber nachdenke. Dennoch war ich froh, als ich endlich ausziehen durfte. Wir passten nicht mehr zueinander. Zu weit hatten sich unsere Interessen und Meinungen voneinander entfernt. Ich hatte mich eben verändert. Den Kontakt zu meinen Eltern habe ich immer gehalten. Ich muss aber auch gestehen, das er nicht sehr stabil ist. Nach meinem Auszug wollte ich vorerst keinen Kontakt zu ihnen haben. Danach
näherte ich mich langsam wieder an. Es wurde aber nie wieder so, wie damals. Irgendwas hatte sich verändert. Und es lag nicht nur an mir.
Das Wochenende verlief nicht ganz so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Leider hatte ich meinen Vorsatz: „nie wieder ein ganzes Wochenende durchsaufen“ über den Haufen geworfen. Gleich nach der Schule hatte ich mit Tiho einen ganzen Kasten gekauft. Das erste Bier hatten wir schon auf dem Weg zu ihm gekillt. Auf dem Ersten folgte sehr schnell das Zweite und so weiter. Ich hatte versucht, ihn auf sein Alkoholproblem anzusprechen. Nur fand ich nicht den richtigen Zeitpunkt. Außerdem hatte er noch andere Probleme, wie mir schien. Wir schauten
uns einiges an über psychische Krankheiten, wie Borderline, Drang zur Verletzung, Depression. Aber auch über Alkoholismus. Ich fragte mich, ob ihn diese Themen einfach nur interessieren, oder er er mir einen Wink mit dem Zaunpfahl geben wollte. Thio blieb für mich undurchsichtig. Ich schlief neben ihm, in seinem Bett. Es fühlte sich fremd und vertraut zugleich an. Im Gegensatz zu ihm, konnte ich kaum schlafen. Was wohl auch daran lag, das mir zu viel durch den Kopf ging. Thio war für mich nicht nur irgendwer. In dieser Nacht hatte ich viel über mich und ihn nachgedacht; kam aber zu keinem Ergebnis. Am Morgen fühlte ich
mich einfach nur beschissen. Zum einen Teil lag es am Alkohol, zum größten Teil aber an zu wenig Schlaf. Irgendwann, kurz vor Sonnenaufgang, stand ich gerädert auf. Anstatt mir einen Kaffee zu machen, um wach zu werden, öffnete ich mir ein Bier. Als Tiho irgendwann aufstand, hatte ich satte zwei Bier intus und fühlte mich eigentlich recht gut. Im Laufe des Tages versuchte ich wieder ihn auf sein Problem anzusprechen. Aber er überraschte mich, indem er mit mir spazieren ging und dann ins Kino einlud. Hinterher lud ich ihn zum Essen ein. Dann war auch schon wieder Abend gewesen und ich fühlte mich total fertig. Als wir spazieren waren, genoss ich die
Ruhe und die Natur. Tiho schien in seinem Element zu sein. Ich konnte ihn nicht mit diesem Thema konfrontieren. Damit hätte ich nur die erholsame Ruhe und seine Stimmung versaut. Und wahrscheinlich hätte ich unser Verhältnis kaputt gemacht. Ich konnte sein Verhalten noch nicht einschätzen. Daher rechnete ich mit allem und mit dem Schlimmsten. Obwohl er für mich unberechenbar war und ich teilweise ein bisschen angst vor ihm hatte, wollte ich ihn als Freund nicht verlieren. Am Sonntag hatten er mich völlig und unerwartet überrascht. Zuerst hatte er mich sanft geweckt, in dem er mir einen
zärtlichen Kuss gab. Es hatte sich, wie ein Traum angefühlt. Nachdem ich meine Augen geöffnet hatte und sein Gesicht vor mir sah, glaubte ich immer noch zu träumen. Er legte sich wieder neben mich und reichte mir eine Tasse heißen Kaffee. Als ich mir den Mund verbrühte, wusste ich, das ich wach bin. Ein Kuss und Kaffee im Bett? Ich fragte mich und freute mich zugleich. Fühlte mich im Zugzwang. Aber was war der nächste Schritt? „Tiho?“, fragte ich und stellte meine Tasse neben mich ab. „Ja?“ Anstatt im eine Antwort zu geben, nahm ich sein Gesicht in meine Hände und
küsste ihn. Eigentlich wollte ich ihm nur einen Kuss geben. Doch als ich seine Lippen berührte, kribbelte es überall. Meine Haare stellten sich auf und ich hatte Gänsehaut. Plötzlich öffneten sich unsere Münder. Es geschah ganz Gleichzeitig. Unsere Zungen berührten sich und spielten miteinander. Meine Hand glitt unser sein Shirt und streichelte seinen Rücken. Tiho tat es mir gleich. Es hatte sich wunderschön angefühlt. Beinahe hätten wir auch miteinander geschlafen. Gerade noch rechtzeitig, er wollte mir gerade das Shirt über den Kopf ziehen, zog ich die Bremse. „Tut mir leid.“, hauchte
er. „Mir tut es leid. Schließlich habe ich damit angefangen.“ „Nein, ich habe damit angefangen. Denn ich habe dir Kaffee ans Bett gebracht und ich habe dich zuerst geküsst.“ „Ich habe es zugelassen. - Du kannst übrigens gut küssen.“ „Danke.“ „Was läuft da eigentlich zwischen uns?“, fragte ich mehr mich, als ihn. „Keine Ahnung. Ich geh duschen.“ Tihos Laune war nicht die Beste gewesen. Aber ich fand, das es zu weit gegangen wäre, wenn wir miteinander geschlafen hätten. Für mich gehört Sex und Liebe zusammen. Ich kann nicht mit
irgendjemanden ins Bett steigen, wenn ich nichts für ihn empfinde. Vielleicht bin ich altmodisch. Aber besser altmodisch, als eine Schlampe.
Als Tiho vom Duschen wieder kam, sagte er, das ich Recht hatte und es besser war, aufzuhören, bevor wir etwas kaputt machen.
Ich duschte kalt und kuschelte mich in seine Klamotten. Den ganzen Sonntag verbrachten wir auf der Couch und schauten uns Filme an. Spielfilme, keine Dokumentationen. Die meiste Zeit lag mein Kopf auf seinem Schoß und ich fühlte mich herrlich geborgen.
Den Montag stand ich irgendwie durch. Ab Dienstag blieb ich zu Hause. Ich brauchte Abstand von Tiho, um meine Gedanken zu ordnen. Mir ging es außerdem allgemein nicht besonders. Zu viel Bier, meine Diagnose. Und meine Ärztin bestätigte das. Als ich ihr von meinen letzten beiden Wochenenden berichtete, schüttelte sie enttäuscht den Kopf. Außerdem erzählte ich ihr ausgiebig von Tiho, in der Hoffnung, das sie mir helfen kann ihm zu helfen. Ich kannte sie schon seit Jahren und hatte vollstes Vertrauen zu ihr. Deswegen hatte ich mich an sie
gewendet. Wir führten ein ausführliches Gespräch über Alkoholmissbrauch und seine Folgen. Sie erklärte mir, das Tiho, bevor ich ihm auch nur ansatzweise helfen kann, einsehen muss, das er ein Problem hat. So lange er sein Problem verdrängt und verharmlost, sei es vergebende Liebesmüh. Nachdem er erkannt hat, das er ein Alkoholproblem hat, sollte er schnellstmöglich zur Entgiftung gehen, die etwa einundzwanzig Tage dauert. Im Anschluss folgt die Langzeittherapie. Sie sagte mir auch, das die Rückfallquote hoch sei, aber mit meiner Unterstützung die Chancen steigen, trocken zu bleiben. Für den Rest der Woche schrieb sie mich
krank. „Das tue ich nur, damit du Zeit hast, dir über deine Gefühle zu diesem Tiho klarzuwerden. - Und bitte, hör auf zu trinken.“ „Ich gebe mir Mühe. Und danke nochmal. Für alles und so.“ Mein Hirn lief heiß. Dennoch kam ich zu keinem Ergebnis. Was wollte Tiho und was wollte ich? Die Schule hatte ich angefangen, um einen neuen Beruf zu erlernen und in Arbeit zu kommen und nicht, um mich in eine Beziehung zu stürzen. Als Tiho eines Nachmittags vor meiner Tür stand, um sich nach meinem Gesundheitszustand zu erkundigen,
wusste ich nicht, was ich machen sollte, da ich ja eigentlich Kasse schob, um ihn nicht zu sehen. Ich fand es rührend, das er sich um mich Gedanken machte. Deswegen ließ ich ihn letztendlich rein. Wir drückten uns kurz, dann gab er mir einen zärtlichen Kuss. Seine Lippen auf den meinen zu spüren, fühlte sich gut an. Viel zu gut. „Und wie gehts dir? Ich habe dir bissl Schulstoff mitgebracht, damit du nicht so viel verpasst.“ „Danke. Willst du auch einen Kaffee?“, fragte ich. „Ja, klar. - Kann ich mir dir reden? Über was persönliches.“ „Natürlich. Setz dich doch schon mal ins
Wohnzimmer. Ich mach uns derweil Kaffee.“ „Hier, dein Kaffee. - Also, über was willst du mit mir reden?“ „Letztes Wochenende. Speziell Sonntag. Was war da gewesen?“ „Hast du einen Filmriss, oder…?“ „Du weißt, was ich meine.“, unterbrach er mich, „Deswegen machst du einen auf krank. Für mich siehst du kerngesund aus.“ Ich fragte mich, ob es groß und breit auf meiner Stirn stand. Zuerst meine Ärztin und nun er. „Du hast mich zuerst geküsst.“, stellte ich
klar. „Ich weiß. Es war dumm von mir. Genauso, wie jetzt vorhin an der Tür. - Und wieso hast du mich geküsst?“ „Keine Ahnung. Ich wollte dir eh nur so n kleinen geben, wie du mir. Das Zungenspiel war nicht geplant. Das kam einfach von selbst.“ „Willst du ein Bier“, fragte er niedergeschlagen, „Ich habe für jeden eins mit.“ Meine Ärztin sprach mit mir und sagte nein. Doch ich ignorierte sie. Dankend nahm ich die Flasche entgegen und trank ein Drittel auf Ex. „Glaubst du, wir hätten es bereut, wenn wir es getan hätten?“, fragte ich
ihn. „Genau so gut könntest du mich fragen, ob ich es bereue, das wir es nicht getan haben.“ Schweigen. Es war unheimlich und verursachte bei mir unangenehme Gänsehaut. Das ganze Thema war mir unangenehm gewesen. So sehr mir der Kuss auch gefallen hatte, so sehr bereute ich ihn. Es war ein verdammter Fehler gewesen, weil er alles umständlich und kompliziert gemacht hatte. So, wie am Wochenende, folgte auf dem Ersten ein Zweites. Tiho hatte sechs Flaschen mitgebracht, die wir gemeinsam innerhalb kurzer Zeit geleert hatten. Und anstatt vernünftig zu sein und auf meine
Ärztin zu hören, liefen wir los und besorgten uns gleich einen ganzen Kasten. Wir saßen uns schweigend gegenüber. Über das aktuelle Thema wollten und konnten wir nicht reden. Tiho hatte keinen Grund, noch länger bei mir zu bleiben. Dennoch machte er keine Anstalten zu gehen. Und ich? Irgendwie wollte ich, das er bleibt. Nicht nur für ein paar Stunden. Ich wollte, das er die Nacht bei mir verbringt. Wir machten es uns vor dem Fernseher gemütlich. Obwohl nichts Gescheites kam, starrten wir auf den Bildschirm und ließen uns von dem Müll berieseln. Bier machte es erträglich. Bier und Tiho. Ich
legte seinen Arm um mich und kuschelte mich an ihn. So schlief ich dann ein.
Auf dem Ellenbogen gestützt, betrachte ich Tiho beim Schlafen. Das einfallende Licht der Straßenlaterne, schimmerte auf seinem Gesicht und ließ ihn irgendwie süß aussehen. Was sprach eigentlich wirklich dagegen, mit ihm eine Beziehung einzugehen, fragte ich mich. In der Schule hieß es eh, wir seien ein Paar. Wieso nicht diese Meinung bestätigen? Worin liegt der Unterschied, zwischen einer Freundschaft und einer Beziehung? Während tausende Fragen in meinem Kopf kreisten und mir dadurch leicht schwindelig wurde, streichelte ich
unbewusst sein Gesicht. Er fing an zu lächeln und ich küsste zärtlich seine Lippen. Es war ein schönes Gefühl, sie zu spüren. „So werde ich gerne geweckt.“, murmelte er und streckte sich. Sein Arm glitt unter meinem Hals durch, ging nach oben, umklammerte ihn, drückte dabei sanft meinen Kopf zu sich runter, bis sich unsere Lippen trafen. Während sich unsere Münder öffneten, damit sich unsere Zungen treffen konnten, streichelte er mir durchs Haar. In dem Moment schob ich all meine Gedanken und Zweifel zur Seite und genoss einfach nur diesen Augenblick. Ich spürte, wie seine andere Hand
zärtlich über meinen Rücken strich. Es kribbelte auf angenehme Weise. Am liebsten hätte ich den ganzen Tag mit ihm im Bett verbracht. Jedoch wäre es sehr unklug gewesen, wenn er die Schule geschwänzt hätte. Aus einmal, wäre garantiert ein zweites und drittes Mal geworden. Über kurz oder lang hätten wir unser Ziel aus den Augen verloren. Genau deshalb wollten wir uns nicht eingestehen, was schon längst klar gewesen war. Wir hatten uns ineinander verknallt. Ob wir wollten, oder nicht. Es war geschehen und damit mussten wir irgendwie klarkommen. Einerseits war es ja ein schönes Gefühl. Aber da gab es ja immer noch die
Negativseiten. Widerwillig löste ich mich von ihm und holte tief Luft. „Hab ich was falsch gemacht?“, fragte er leicht ängstlich. „Ich muss mal. Du kannst ja in der Zwischenzeit Kaffee machen.“ Sein Blick haftete an mir, während ich mich von ihm abwand. „Was siehst du mich so komisch an?“ Anstatt zu antworten, grinste er nur breit. Ich sah auf mich herab und erkannte jetzt erst, das ich, außer einen Slip, nichts anhatte. Daraufhin nahm ich mein Kissen und schmiss es ihm spielerisch ins Gesicht. Dann drehte ich mich um und zog mir schnell ein Shirt
drüber. Weniger deswegen, damit er mich nicht mehr nackt sah, sondern weil mir fröstelte. Außerdem wollte ich das Fenster öffnen, um frische Luft reinzulassen. So, wie jeden Morgen. Diesmal bekam ich Gänsehaut, weil mir kalt war. Als ich mich wieder umdrehte, war Tiho verschwunden. Zuerst glaubte ich, er wäre in der Küche Kaffee machen. Aber als ich die Tür zum Badezimmer öffnen wollte, blieb mir jene verschlossen. So ein Arsch, dachte ich und setzte selber Kaffee an. Als der Kaffee fertig war, setzten wir uns ins Wohnzimmer, da es dort gemütlicher und ruhiger war, als in der Küche. Meine
Küche lag zur Straße hin. Gegenüber wurden die Häuser saniert. Durch die geschlossenen Fenster, klang es, und es fühlte sich auch so an, als vibriere das ganze Haus. Es war echt nervtötend und es sah nicht so aus, als würden die Bauarbeiten in wenigen Tagen beendet sein, obwohl sie bis zu zwölf Stunden täglich hantierten. Der Vorteil an kleinen Räumen, mit relativ niedrigen Decken, ist, das sie schnell warm werden. Das spart Heizkosten. Darum hatte ich mich damals für diese Wohnung entschieden. Und jedes Jahr aufs Neue werde ich belohnt, in dem ich eine Rückzahlung von meinem Vermieter
bekomme. „In einer halben Stunde muss ich los. Es wäre gut, wenn du dir ansehen würdest, was ich dir gestern mitgebracht habe. Heute Nachmittag schaue ich nochmal bei dir vorbei, wenn du willst.“ „Willst du vorher noch was essen?“ „Hab kein Hunger.“ Überpünktlich zog er sich dann an. Ich sah ihn dabei zu. Sein Blick traf immer wieder den Meinen. „Vielleicht sollten wir es beenden, bevor es beginnt.“ Seine ernste Mine gab mir zu verstehen, das er ernsthaft darüber nachdachte. „Willst du das?“, fragte ich ihn. „Ich weiß es nicht.“
An der Tür umarmten wir uns und küssten uns. Ohne sich noch einmal umzudrehen, stieg er langsam die Treppe hinab. Ich schaute ihm hinterher. Hoffte, das er sich noch einmal umdrehen und mich anlächeln würde. Doch er stieg stumm die Stufen hinab, ohne sich noch einmal umzudrehen und ich fragte mich, ob dies ein Abschiedskuss gewesen war. Ich schloss die Tür und zog mich richtig an. Danach ging ich einkaufen. Als ich zurück war und alles verstaut hatte, nahm ich mir Zeit für die Schule. Doch schon nach wenigen Minuten hatte ich keine Lust mehr und legte die Mitschriften zur Seite. Stattdessen
machte ich mir die Glotze an und öffnete mir ein Bier. Mein Gewissen plagte mich auf der Stelle. Dennoch trank ich es. Am frühen Nachmittag stellte ich mich in die Küche und kochte. Ich dachte dabei an Tiho und stellte mir sein Gesicht vor, wenn er zur Tür hereinkommt. Das Essen steht auf dem Tisch und seine Angebetete zündet eben eine Kerze an. Manchmal bin ich eben eine unverbesserliche Romantikerin. Als ich so dastand und mir die Situation vorstellte, kam ich auf die Idee mich in Schale zu werfen. Irgendwo in der hintersten Ecke meines Kleiderschranks hing noch ein Abendkleid. Drunter zog ich dazu passende Unterwäsche. Wenn
schon, dann richtig. Schließlich konnte aus Romantik Erotik werden und Tiho… Ich war über mich selbst erschrocken, als ich diese Gedanken dachte. War ich denn schon für den nächsten Schritt bereit gewesen? So lange kannte ich ihn nun auch wieder nicht. Dafür kannte ich ihn besser, als die meisten anderen. Tiho kam wenige Minuten, nachdem das Essen fertig war. Kurz vor seinem Auftritt hatte ich mit dem Gedanken gespielt, ihn in Unterwäsche zu erwarten. Doch so schnell der Gedanke kam, so schnell wischte ich ihn wieder weg. Das wäre dann doch zu weit gegangen. Außerdem wollte ich ihm keine sinnlosen Hoffnungen machen. Abgesehen davon
wusste ich nicht, wo ich bei ihm stehe und was wir waren. Waren wir Freunde, oder mehr als das? Tiho hatte sich anders verhalten, als ich mir vorgestellt hatte. Anstatt sich überschwänglich zu freuen, schaute er mich nur misstrauisch an: „Kerze, Kleid, zwei Teller, zwei Gläser … Erwartest du jemanden?“ „Ja! Und zwar dich. Setz dich und lass dich von mir bedienen.“ Ich versuchte an Nichts zu denken und einfach nur den Moment zu genießen. Wer weiß schon, was Morgen kommt, dachte ich. Tiho war ein toller Mensch und ich wollte ihm was Gutes tun. Ihm und mir. Die Erkenntnis kam urplötzlich
und ich war dankbar dafür. Dadurch fühlte ich mich so viel leichter. „Ich hoffe es schmeckt.“ „Mmh.“ „Wie war es in der Schule?“ „Öde.“ „Bist sehr gesprächig.“ „Kann nur ein was.“ Nach dem Essen räumte ich ab und versuchte mit Tiho ein Gespräch zu führen. Er war gesprächiger, als beim Essen. Ich erzählte ihm von meinem Tag und er mir von seinem. Danach zwang er mich, mir den Schulstoff anzusehen. Es war eine Qual. Aber es musste sein, um den Anschluss nicht zu verlieren. Eine knappe Stunde später erlöste er
mich und wir sahen gemeinsam fern. Am späten Abend gingen wir zu Bett. Tiho beobachtete mich beim Ausziehen. Mich störte es nicht. Unterwäsche ist wie Bikini. Zwei Teile, die das Nötigste verdecken. Außerdem hatte ich ja irgendwie diese Unterwäsche für ihn angezogen. Und damit er wenigstens etwas davon hatte, kuschelte ich mich an ihn. Er hielt mich liebevoll in seinem Arm und küsste mich auf die Stirn. Eine ganze Weile lagen wir einfach nur da. Ich dachte über alles mögliche nach. Genau das hielt mich wach. Tiho ging es nicht anders. Als ich meinen Kopf hob, sah ich, wie er mit offenen Augen die Decke anstarrte. Ich fing an ihn zu
streicheln, ihn zu küssen. Seinen Bauch, seine Brust, seinen Hals, seinen Mund. Ich schaltete meinen Verstand aus und genoss den Augenblick. Ließ mich von meinen Gefühlen leiten. Als seine Hand über meinen Rücken strich und sich an meinem BH-Verschluss zu schaffen machte, ließ ich ihn einfach machen. Er hatte Schwierigkeiten, den Verschluss zu öffnen, also half ich ihm dabei. Als ich meinen BH abgestreift hatte, zogen wir uns gegenseitig unsere Unterhosen aus. Dann setzte ich mich auf ihn. Wir stöhnten beide leise auf, als er in mich eindrang. Wenige Minuten später spürte ich, wie er in mir kam und eine Sekunde drauf, hatte ich meinen Höhepunkt.
Keuchend ließ ich mich auf ihn fallen. Er legte seine Arme um mich, küsste meinen Hals und so schliefen wir gemeinsam ein.
Als ich am Morgen danach aufwachte, glaubte ich im ersten Moment, das ich alles nur geträumt hatte. Doch ein Blick unter die Decke genügte, um zu sehen, das es doch kein Traum gewesen war. Leise, um Tiho nicht zu wecken, stand ich auf und schlich mich aus dem Schlafzimmer ins Bad. Von da aus ging ich auf Samtpfoten in die Küche. Als ich im Türrahmen stand, erschrak ich. Tiho saß da und nippte an seinem Kaffee. „Seit wann sitzt du hier?“, fragte ich erschrocken. „Halbe Stunde? Du saßt so zufrieden aus, da wollte ich dich nicht wecken. - Setz
dich, ich bring dir dein Kaffee.“ Während Tiho Kaffee in die Tasse goss und ich mich auf meinen Stuhl setzte, fragte ich mich, wieso ich nicht mitbekommen hatte, das er nicht mehr neben mir gelegen hatte, als ich aufgewacht war. Er stellte mir die Tasse vor die Nase und legte mir zärtlich eine Decke um meine Schultern. „Ich möchte nicht, das du frierst.“, sagte er und massierte mir sanft meine Schultern. Nach dem Kaffee zogen wir uns an und gingen spazieren. Das der Sommer vorbei war, merkten wir deutlich. Der Wind pfiff ganz schön und es nieselte
unangenehm kühl. Doch wir strotzten dem Wetter. Wir genossen es sogar. Denn die Straßen waren ziemlich leer. Und auch im Park war kaum ein Mensch zu sehen. In Gedanken versunken lief ich neben ihm her. Ich dachte über uns beide nach. War es eigentlich ein Fehler gewesen, mit ihm zu schlafen? Ich war so sehr in Gedanken versunken gewesen, das ich gar nicht mitbekommen hatte, wie Tiho stehen geblieben war. Erst etliche Meter weiter bekam ich mit, das er nicht mehr neben mir herlief. Im ersten Augenblick hatte ich gedacht, das er einfach abgehauen war. Doch dann sah ich ihn mit einem älteren Paar. Wenige
Augenblicke später, reichte er ihnen ihre Hand und kam schnellen Schrittes auf mich zu. „Möchtest du heute Abend mit mir ausgehen?“, fragte er leicht außer Atem. Ich war ein wenig perplex. Weil, damit hatte ich nun gar nicht gerechnet. „Klar.“, stammelte ich. „Gut. Ich hole dich um sieben ab. Einverstanden?“ „Okay.“ Und dann war er weg. Ließ mich einfach stehen. Ich stand da und wusste nicht, was Phase ist. Dann lief ich einfach los. Zuerst wollte ich nach Hause gehen. Doch kurzerhand entschied ich mich
anders. Etwa zwei volle Stunden verbrachte ich damit, durch die Stadt zu laufen und in diversen Geschäften nach einem Kleid zu suchen. Die Auswahl war groß und die Preise meist hoch. Weit über meinem Budget. Doch dann, als ich die Hoffnung schon aufgegeben hatte, jemals ein Kleid zu finden, das mir gefiel, passte und meine finanziellen Mittel nicht überstieg, sah ich es. Ganz unscheinbar hing es da und schien auf mich zu warten. Als ich in der Anprobe vorm Spiegel stand und mich in dem Kleid betrachtete, fühlte ich es. Dieses Kleid wird mir einen unvergesslichen Abend
bereiten. An der Kasse gab es die nächste Überraschung. Zwanzig Prozent Rabatt. Es schien mein Glückstag zu sein. Fünf vor sieben war ich zwar ausgehfertig angezogen, aber auch so nervös, das ich in einer Tour pullern musste. Als Tiho Punkt sieben vor meiner Tür stand, stockte mir, vor Staunen, für einen Moment der Atem. „Du hast dich ja ganz schön in Schale geworfen.“, bemerkte ich. „Nicht nur ich, wie ich sehe.“ „Du meinst diesen alten Fummel?“ „Nein, ich meine das Preisschild da.“ Erschrocken sah ich in die Richtung, in die er zeigte und sah nichts. Tiho hatte
mich verarscht und ich war darauf hereingefallen. Selber Schuld, wenn man mit so einen alten und albernen Spruch daherkommt. „Darf ich?“ Er hatte seinen Arm angewinkelt und stand leicht gebeugt da. Ich hakte mich bei ihm ein und war einfach nur glücklich. Es war mir egal, das es immer noch nieselte. Und es war mir egal, das der Wind mir meine Haare immer wieder ins Gesicht blies. Ich dachte, Tiho würde mit mir ins Kino gehen. So stellte ich mir ein erstes Date vor. Stattdessen entführte er mich ins Theater. Kein Wunder, das er sich so in Schale geworfen hatte, dachte ich und
war froh, das ich mir ein Kleid übergezogen hatte. Es wäre mir peinlich gewesen, in Jeans und T-shirt gekommen zu sein. Das Stück, welches aufgeführt wurde, hieß „Der nackte Wahnsinn“. Es war herrlich gewesen. Saulustig. Jede Sekunde hatte ich genossen. Hinterher lud er mich noch in eine Veggiebar ein. Wir tranken Wein und aßen dazu Salat. Danach brachte er mich nach Hause. An der Haustür küssten wir uns. „Es war ein sehr schöner Abend.“, flüsterte ich. „Ich freue mich, das es dir gefallen hat.“ „Möchtest du noch auf eine Tasse Kaffee
hochkommen?“ „Wir hatten heute unser erstes Date und da möchtest du schon Kaffee trinken? Ich dachte, du wärst nicht so eine.“ „Es war nur ein Test gewesen.“, redete ich mich raus, „Und du hast bestanden. Wann sehen wir uns wieder?“ „Du möchtest mich wieder sehen?“ „Möchtest du mich denn nicht wieder sehen?“ „Ich ruf dich an.“, antwortete er. Gab mir einen zärtlichen Kuss auf die Wange und ging. Ich blieb noch eine Weile stehen, starrte ihm hinterher und war einfach nur glücklich. So schmalzig es auch klingt; aber verdammt genau so war es gewesen.
Und wäre er nicht gegangen, hätten wir gemeinsam die Nacht verbracht. So, aber, ging ich kalt duschen.
Am Morgen danach hatte ich immer noch dieses Grinsen im Gesicht, mit dem ich eingeschlafen war. Nun konnte ich mit Gewissheit sagen, das ich in Tiho verknallt war. Die Zeichen waren unmissverständlich. Wenn er nicht bei mir war, hatte ich Sehnsucht nach ihm. Von seinen Berührungen bekam ich eine Gänsehaut. Seine Lippen schmeckten nach mehr. Und so weiter. Ich hatte geglaubt und gehofft, das er mich an jenem Sonntag anruft oder einfach vorbeikommt. Aber der Sack ließ weder was von sich hören, noch sich blicken. Mehrfach widerstand ich der
Versuchung, mich bei ihm zu melden. Ich wollte, das er sich bei mir meldet.
Den Sonntag verbrachte ich mit Wohnungsputz, spazieren gehen und lernen für die Schule. Ehe ich es mich versah, war es Abend und ich ließ mich vom öden Fernsehprogramm berieseln. Der Vorteil war, das es mich sehr müde machte.
Tiho stand am Eingang und grinste fett, als er mich kommen sah. „Das muss Liebe sein.“, war seine Begrüßung. Schwungvoll wuchtete ich seine Schultasche von meinem Rücken und schleuderte sie ihm entgegen. Anscheinend hatte ich zu viel Kraft, da er sich ernsthaft vor Schmerz krümmte, als ich ihn mit seiner Tasche traf. Zur Entschuldigung gab ich ihm einen zärtlichen Kuss, den er ebenso sanft erwiderte. - Unser erster Kuss in der Öffentlichkeit. „Wieso hast du nicht angerufen?“, fragte
ich. „Das Selbe wollte ich dich fragen.“ Wir diskutierten eine ganze Weile darüber und stellten fest, das wir beide nicht nur blöd sind, sondern uns auch schlimmer anstellten, wie zwei verliebte Teenager. Auf den Unterricht konnte ich mich kaum konzentrieren. Unser Dozent hatte eine einschläfernde Art an sich. Auch Tiho hatte sichtlich Mühe, sich aufrecht zu halten. Ebenso unsere Mitschüler. Einer war sogar vollkommen eingeschlafen. Hätte er nicht plötzlich lautstark geschnarcht, wäre es niemanden aufgefallen. Sein Sitznachbar hatte ihn unfreundlich geweckt und unser Dozent
hatte ihn nach Hause geschickt. Ich war froh, als der lange, endlose Tag endlich ein Ende gefunden hatte. So schnell war ich zuvor noch nie aus dem Schulgebäude gerannt. Tiho ließ sich natürlich Zeit. „Und was hast du heute noch so vor?“, fragte ich ihn beiläufig. „Nix. Wieso?“ „Nur so.“ Wenige Minuten später saßen wir in einem Café. Wir saßen uns gegenüber und schwiegen uns an. Das Schweigen und gegenseitige Anstarren, fand ich unerträglich. Als ich schon dabei war, mich zum Gehen zu bewegen, fing Tiho an zu
reden: „Nächsten Monat schon was vor?“, fragte er mich. „Spontan fällt mir nichts ein.“ „Gut. Den genauen Termin gebe ich dir, sobald ich ihn habe.“ „Was für ein Termin?“ Anstatt mir eine Antwort zu geben, wechselte er einfach das Thema. Wir sprachen über das Theaterstück, welches wir uns gemeinsam angesehen hatten. Nachdem wir uns jeder eine zweite Tasse Kaffee bestellt hatten, kamen wir auf den aktuellen Tag zurück. Wir hatten nichts gegen unseren Dozenten. Er war ein freundlicher Mann. Nur als Dozent taugte er nichts. Wissen vermitteln war
nichts für ihn. Seine Stimme und seine Art passte eher dazu, Geschichten zu erzählen. Gute Nacht Geschichten. Oder Märchen. Immer noch müde, stellte sich die Frage, was nun? Fürs Bett war es eindeutig noch zu früh. Um irgendwas zu unternehmen, fühlte ich mich nicht in der Lage. Außerdem hatte ich zu gar nichts Lust. „Was hältst du von Picknick im Wohnzimmer?“, sinnierte er. „Klingt gut. Hast du was da, oder müssen wir erst noch was holen?“ Er gab mir seinen Schlüssel und bat mich, alles vorzubereiten und auf ihn zu warten. Aus irgendeinem Grund wollte er ohne mich einkaufen gehen. Vielleicht
hatte er mir angesehen, das ich zu müde war, dachte ich. Doch das war nicht der wahre Grund gewesen. Kaum war er zurück, bat er mich, ins Bad zu gehen, um mich frisch zu machen. Das kam mir gelegen, da ich mal musste. Währenddessen zündete Kerzen an, legte romantische Musik auf und streute Rosenblütenblätter auf der Decke aus. Wow, dachte ich nur, als ich ins Wohnzimmer kam. Tiho stand im Smoking da und überreichte mir ein Glas Sekt. Ich war einfach nur sprachlos. „Ich hoffe, Madame leisten mir Gesellschaft.“ „Tiho...“, mehr bekam ich nicht raus. Wir setzten uns auf den Boden und ich
fragte mich, wie viel Zeit ich auf dem Klo verbracht hatte. Wie hatte er es geschafft, innerhalb so kurzer Zeit, sich in Schale zu werfen und nebenbei noch den Rest…
Noch nie hatte sich jemand so viel Mühe für mich gegeben. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich für ihn nicht irgendeine billige Schlampe von der Straße, sondern etwas ganz Besonderes. Wenn er mich ansah, leuchteten seine Augen und seine Wangen erröteten.
Als wir im Bett lagen, kuschelte ich mich an ihn. Nur wenige Sekunden später war ich schon im Land der Träume.
Der darauffolgende Tag verlief besser. Ich war ausgeschlafen und wir hatten einen erfrischenden, lockeren Dozenten. Nach der Schule machten wir einen langen Spaziergang durch den Park. Tiho konnte weite Strecken laufen, ohne Ermüdungserscheinungen. Ich, hingegen, war nicht so fit. Schon nach wenigen Kilometern brauchte eine Pause. Doch Tiho wollte nicht anhalten und nahm mich deshalb huckepack. „Du schuldest mir was.“, sagte er, als ich fest und sicher saß. „Was hättest du denn gern?“ „Duschen mit
dir.“ „Einverstanden.“, antwortete ich. Die ersten paar Meter hatte er noch sein rasantes Tempo drauf. Kurz darauf wurde er sichtlich langsamer und er tat mir irgendwie Leid. Dennoch trug er mich weiter, bis zu seiner Haustür. Behutsam setzte er mich ab und ich sah, wie fertig er war. Ich schloss die Tür auf und wir liefen Hand in Hand durchs Treppenhaus. „Jetzt brauch ich erst einmal ein Bier. Danach darfst du dein Versprechen einlösen.“ „Bringst du mir ein Bier mit?“ Wir schauten uns einen Film an. Dabei dachte ich an früher, als ich noch jung war; knapp zwanzig. Ich hatte einen
Fernseher und einen Videorekorder. Die Videokassetten nahmen reichlich Platz ein, im Gegensatz zu den später aufgekommenen DVDs. Damals war das Internet noch ziemliche Neuware gewesen. Man musste sich jedes mal entscheiden was man wollte; ins Internet oder telefonieren. Beide Gleichzeitig ging nicht. Waren das noch Zeiten. Ein paar wenige Jahre später saß ich bei Tiho auf der Couch und starrte auf sein BD-Player, über den wir Filme via WLAN ansahen. Fasziniert von der Technik, fragte ich mich, wie es funktionierte und wie weit die Technik noch gehen wird. Vom Film bekam ich kaum was mit. Zwar wurde er als
Horrorfilm ab 18 ausgepriesen, aber ich fand ihn sterbenslangweilig. Gähnende Atmosphäre, keine richtige Handlung und dumme Dialoge. Zwischendurch wurde nackte Haut gezeigt. Das einzig interessante, an dem ganzen Film. Warum wir ihn laufen ließen, anstatt einen anderen reinzumachen, lag daran, das wir nicht vorhatten, ihn bis zum Ende anzusehen. Eigentlich wollten wir mittendrin duschen gehen. Doch der Sandmann hatte uns erwischt. Mitten in der Nacht waren wir aufgewacht und wunderten uns, das es draußen so dunkel war. „Bett?“, fragte
er.
„Bett.“
Ich legte mich in seine Arme und war kurze Zeit später weg.