In einer Gesellschaft, welche nach den Begriffen „immer besser, schneller und weiter“ lebt, kann es dazu kommen, dass selbst ein Dackel sich für einen Bernhardiner hält. Dieses ungebührliche Verhalten des Vierbeiners kann somit schwere Folgen haben. Genau aus diesem Grund war das rechte Bein von Anita seit Wochen in einer unansehnlichen Schiene verpackt. Ihr Anreiz, um sehr viel und sehr lange nachdenken zu können. Bevor dieser gedankliche Marathon zu meinem Problem wurde, wuchtete ich
ihre Wocheneinkäufe in die vierte Etage, ohne Aufzug. Meine Knochen ächzten unter der Belastung. Der Schmerz meines Rückrades verflog mit dem Erblicken ihrer Tochter. Nun kannte ich Senta ausgesprochen gut und erkannte eine Krisensituation in ihrer Mimik. Sie hingegen erkannte in meinem Gesicht Fassungslosigkeit und diese tat ich auch augenblicklich kund: „WAS machst du denn hier?“ Immerhin hatte ich kein Auto und musste alles hier herschleppen. „Erstens habe ich meine eigene Wohnung, zweites habe ich auch eine Liste bekommen und drittens ist das alles nur Vorwand gewesen.“ Die Mauer des Polizeipräsidiums Erbach
/ Michelstadt baute sich vor mir in voller Lebensgröße auf. Ein Glück schien die Lage nicht zu ernst zu sein, denn Senta nahm eine der Tragetaschen und brachte sie in die Wohnung. Dort angekommen saß Anita mit ihrer Beinschiene und hatte sorgenvoll ihre Stirn in Falten gelegt. „Ach, Luisa!“, war ihre Begrüßung, welche eher klang wie ein Bedauern über irgendwas, das mich nicht im Geringsten betraf. „Was ist denn los?“, fragte ich oder besser versuchte ich, meine Atmung wie Sprache klingen zu lassen. Demonstrativ knallte Senta die Einkäufe auf dem Küchentresen. „Sie hat einen Pensionskollaps!“, knurrte
sie und drehte dabei noch den Zeigefinder nahe an ihrer Schläfe. „Na hör mal, ich bin immer noch deine Mutter“, entsetzte sich Anita, aber auch hier klang es nicht nach Besorgnis erregender Ernsthaftigkeit. Das Gezanke von Mutter und Tochter war mir bestens vertraut. Nachdem die Einkäufe verstaut waren, kamen wir am Tresen zusammen. Jede bekam eine dampfende Tasse mit Tee oder Kaffee und eingekaufte Leckereien verdeutlichten mir, dass das Ganze hier, was auch immer es sein konnte, nun länger dauern würde. „Ich benötige eure ehrliche Meinung. Entweder bin ich vollkommen durch,
weil ich in meiner Beweglichkeit eingeschränkt bin oder ich höre nur die Flöhe husten.“ Anita holte das Heimatjournal des Odenwaldes hervor, einige handgeschriebene Briefe und zwei alte Fotos. Nach der Kleidung und der Qualität der Bilder zu urteilen, mussten es Aufnahmen aus den frühen neunziger Jahren gewesen sein. Erstaunlicherweise waren mein Großvater und ich auf den Bildern zu erkennen. Wir waren umringt von freiwilligen Helfern des Heimatverbandes Odenwald. Auf einem der Fotos sah ich auch Senats Vater, der erst vor ein paar Jahren verstorben
war. Den Artikel, den Anita mir und Senta vorgelegt hatte, zeigte auch ein Foto. Die Personen auf diesem waren wesentlich weniger und um einiges älter. Trotzdem war den drei Männern ihr Stolz anzusehen. Im Bericht stand kurz beschrieben, dass bei neuen Grabungen an der alten Erzgrube Laura, nahe dem Hermannsberg in Michelstadt ein archäologischer Fund entdeckt worden war. Letzte Aktivitäten in der Grube lassen sich in den 1870er Jahren nachweisen, als letztlich erfolglos versucht wurde, den Eisenerzbergbau in Michelstadt wiederzubeleben. Damals war ein Dr. Michler aus Darmstadt im
Besitz des Bergwerkes. Doch die Mine war nicht erträglich genug und der gesamte Berg war schon recht instabil. Deswegen musste das Vorhaben, die Eisenverhüttung im Odenwald wieder zu beleben, begraben werden. Aus diesem Grund war es auch nicht verwunderlich, dass man bei jüngsten Ausgrabungen einen verschütteten Minenarbeiter entdeckt hatte. Utensilien, die das Skelett bei sich trug, sowie die massiven Schädeleinbrüche, legten nahe, dass es sich um einen Arbeiter aus dem 19. Jahrhundert handeln musste. Weil der Heimatverein nur sehr wenig Geld besitzt und hauptsächlich über Spenden finanziert wird, sind ausführliche
Grabungen sehr selten. Eine spezifische Untersuchung der Knochen würde somit noch lange auf sich warten lassen, da das Gutachten mehrere Tausend Euro verschlingen konnte. Aus diesem Grund war der Fund nicht minder spektakulär. „Was ist jetzt dein Problem damit?“, fragte Senta, „Glaubst du, dass die Gelder der Verbandskasse wieder veruntreut wurden.“ Bei dieser Aussage handelte es sich um ein Thema, dass ich nicht spezifisch benennen konnte. Ihr Vater war der Kassenwart gewesen. Mein Großvater war nur Hobby-Maulwurf, weil er hin und wieder mit Schmieden zu tun hatte. „Nein, das wäre zu schön, wenn es so
einfach wäre. Aber leider geht es um die gleichen Personen.“ „Vaters Todestag ist erst nächste Woche“, versuchte Senta, das Gemüt ihrer Mutter etwas zu lockern. Die alte Richterin war deutlich zwischen Subjektivität und Objektivität hin und hergerissen. „Die letzte Grabung an der Grube Laura wurde wegen mangelnden Gelds, der Unsicherheit des Stollens und des Verschwindens von Günter, den ihr hier rechts am Bildrand sehen könnt, eingestellt. Günter war kein guter Geschäftsmann, aber er hatte ein Händchen dafür, Leute zu begeistern und fand reichlich
Sponsoren.“ „Deswegen hatte Vater nach der Übernahme des Amtes für den ersten Kassenwart auch einiges an Ärger“, bestätigte Senta und steckte sich etwas Gebäck in den Mund. Ihr Interesse blieb jedoch ausschließlich auf die Ausführungen ihrer Mutter gerichtet. „Seine Frau Silke weiß bis heute nicht, wo er abgeblieben ist. Die Vermutung liegt nahe, dass er sich irgendwohin abgesetzt hat, weil Geldhaie hinter ihm her waren.“ „Stopp, halt, Mutti. Willst du etwa damit sagen, du vermutest, dass das, was auch immer da ausgebuddelt worden ist, Günter sein
könnte?“ Ich runzelte nur die Stirn. Selbst für mich kam das wirklich überraschend. In meinem Mund verschwanden gleich drei Kekse, schlicht und ergreifend damit Senta das Wort behielt. Hatte Anita jetzt wirklich einen Pensionskollaps? „Schon bei dem ersten Knochenfund muss die Polizei benachrichtigt werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kollegen so einfach sagen: Das ist archäologisches Material.“ „Glaubst du ernsthaft, Kind, ich würde euch beide hier antanzen lassen, wenn ich nicht etwas mehr im als DAS in meinem Hinterstübchen hätte?!“ Ich zog vorsichtshalber mal meinen Kopf
ein. Diese Tonlage kannte ich von Anita und meiner Großmutter nur allzu gut. Hier hieß es: Erst einmal Klappe hallten und Kekse futtern. „Passt auf, Günter war Perfektionist. Wenn er gewollt hätte wie er gekonnt hätte, hätte er selbst Erzgräber in authentischer Kluft gespielt.“ Anita deutete auf den Mann, der wirklich so aussah, als käme er aus den letzten beiden Jahrhunderten. Das könnte wirklich einen Gerichtsmediziner überzeugen, der sich nicht sonderlich auf einen archäologischen Fund einlassen will. Die Priorität bei den heute überlasteten staatlichen Institutionen konnten so
etwas ermöglichen. Senta war noch nicht überzeugt. Energisch wechselte sie ihre Sitzposition und zeigte ihrer Mutter somit, mit welcher Aufmerksamkeit sie sich den Spitznamen „Die Mauer“ erarbeitete hatte. „Kurz nach dem Fund traf ich Silke beim Einkaufen.“ Noch ehe Anita weitersprechen konnte, geißelten sie zwei Paar Augen mit der Aussage: Du warst einkaufen. ALLEINE! Mit dem BEIN! Doch sie überging dies ebenso lässig wie eine zu ausschweifende Aussage eines ehemaligen Angeklagten. „Nun, um ehrlich zu sein, ist Silke keine
Person, welche ich unbedingt zu meinen Freunden zählen muss, jedoch war sie in meiner Gegenwart plötzlich ausgesprochen nervös und plapperte in einer Tour darüber, wie sinnfrei sie diese Ausgrabung fände und es sei ja gut, dass sie überhaupt nichts mehr mit dem Heimatverband und den Funden zu tun hätte. Mädchen, ich habe mein Leben lang so viele Menschen getroffen, die etwas verbrochen oder verheimlicht haben und so, wie sich Silke verhält, habe ich ein ganz ungutes Gefühl.“ „Wieso, glaubst du, hat sie ihren Mann erschlagen?“, mischte ich mich nun mit ein und auch ich veränderte meine
Sitzhaltung. Nervös putzte sich Anita ihre Brille. Das Putztuch warf sie frustriert auf den Tresen. „Es ist fast zwanzig Jahre her, dass Günter verschwunden ist. Er hatte mehrere Wechsel unterschrieben und es war allgemein bekannt, dass den beiden das Wasser bis zum Hals stand. Noch dazu kam, das er so fanatisch am Heimatverband hing. Manchmal ist Günter schlimmer gewesen als ein Detektiv, der in fremder Unterwäsche gewühlt hat, damit eine Scheidung schuldhaft gesprochen werden konnte. Er hat tagelange alles um sich herum vergessen, wenn es um Nachforschungen
ging. Ich kann mich noch daran erinnern, wie Silke ihm einmal von einer Vereinssitzung weggezerrt hat, weil er den Geburtstag seines jüngsten Sohnes vollkommen vergessen hatte. Das war keine Frau mehr, das war eine Furie.“ „Sie geht zur Grube Laura, die ja mitten in der Pampa liegt, vielleicht sogar einen Kredithai im Nacken und ihr Gatte buddelt währendessen in der alten Erzmine friedlich vor sich hin “, begann ich den Gedanken weiter auszuführen. Auch Senta war bereits klar, auf was ich hinauswollte. „Ein Wort könnte das andere gegeben haben und Günter musste im Affekt das Zeitliche
segnen.“ „Wenn es Günter ist, könnte es aber auch ein Unfall gewesen sein. Der Stollen ist ja definitiv eingebrochen, durch vermehrten Regen und fehlerhafte Absicherung des Stollens“, gab Anita zu bedenken. „Laut Artikel sind die Forscher dieses Mal durch eine Seitengrabung in den Stollen vorgedrungen, weil der Eingang aus Sicherheitsgründen nach dem Einsturz zugemauert worden war“, ergänzte ich das Szenario, anschließend wurde es still. So ganz abwegig war Anitas Verdacht nicht. Doch eine derartige Anschuldigung war schwerwiegend.
Wenn wir etwas unternehmen wollten, dann mussten wir behutsam sein. Die Idee für den nächsten Schachzug hatte Senta. Ohne uns aber zu informieren, was ihr Plan war, erhob sie sich vom Küchentresen und verschwand für einige Minuten aus unserem Sicht- und Hörfeld. Anschließend fragte sie mich, ob Melanie Bienenstich backen könne und ließ uns ganze zwei Wochen schmachten. Egal, was Anita und ich fragten, die Mauer des Präsidiums blieb hartnäckig. Die Auflösung ihres Anrufes saß bereits an der gedeckten Kaffeetafel, als ich mit dem versprochenen Kuchen wieder auf Anitas Matte stand. Eine Frau nicht ganz
schlank, mit genügend Kurven, um einen Mann glücklich zu stimmen, und grauen Augen, groß und hell genug, um mit dieser Intelligenz einen Kerl in den Wahnsinn zu treiben. Die Haare waren von einem matten Blond, das fast schon ins Braun überging. Ein Grübchen zeigte sich auf ihrer Wange, als sie den Kuchen erblickte. Doch da sprach die Mauer: „Nichts da, Rebecca. Erst die Informationen, dann der Kuchen.“ Augenblicklich verschwand das Grübchen. „Meine Güte, erst forderst du einen Gefallen bei mir ein und dann muss ich auch noch darben.“ Bei dieser theatralischen Tonlage
verselbständigten sich meine Augenbrauen in die Höhe. Anita hingegen verdrehte nur die Augen und stellte mich der Neuen in unserer Runde vor: „Das ist Frau Dr. Holschuh. Sie ist Gerichtsmedizinerin. Senta und sie haben sich während des Studiums kennengelernt.“ „Ach, dann bist du die kleine Holmes, die Senta immer mal wieder konsultiert, wenn ich ihr nicht ausreiche“, begrüßte mich die Doktorin und funkelte mich böse an. Ich verschluckte mich nur an meinem Grinsen und verkrümelte mich in die Küche, um den Kuchen aufzuschneiden. Von da aus konnte ich auch den
Ausführungen der Pathologin folgen. „Also, ich konnte meinen Cousin erreichen. Er studiert Bioarchäologie und hat sich auf meine Bitte hin mit jemandem aus dem Heimatverband Odenwald zusammen gesetzt. Die Analyse des Zahnschmelzes aus einem Teil des Kiefers konnte er für eine seiner Arbeiten kostenlos zu Verfügung stellen. Das Ergebnis hat mich selbst ziemlich überrascht. Es handelt sich nicht um eine Leiche, sondern um zwei!“ Mir fiel die Tortenschaufel aus der Hand. „BITTE, WAS?!“, kam es unisono von uns dreien. Siegessicher wie Aphrodite über die Schönheit der Welt schlang Frau Doktor
die Beine übereinander. Sie spannte uns mit Absicht auf die Folter. „Ja, er hat einen Schneidezahn aus dem Unterkiefer und einen Backenzahn aus dem Oberkiefer genommen. Das gefundene Genmaterial stammt von zwei unterschiedlichen Männern. Einer muss nach den Ablagerungen zu einer Zeit gelebt haben, in der viel mit Schwermetallen und Quecksilber gearbeitet worden ist. Also kann man davon ausgehen, dass es sich um einen Bergarbeiter des 18. oder 19. Jahrhunderts handelt. Das Material des Backenzahnes ergab eine Person, die wahrscheinlich um die vierzig Jahre alt war und nicht länger als zwanzig Jahre in
der Erde gelegen hat.“ Anita schenkte Kaffee ein, wirkte dabei aber sehr unkonzentriert und Senta krallte sich die Kanne ehe das weiße Tischtuch seine Farbe änderte. „Oh toll, da bekommt Doppelmord ja eine ganz neue Dimension.“ So wie sich Mutter und Tochter nun einmal kannten und neckten, nahm Anita den Tonfall einer Gouvernante an: „Lass das, Kind! Zynismus steht dir nicht. Vor zwei Wochen hast du noch behauptet, ich habe einen Pensionskollaps.“ „Jaha, Mutti“, zog die Tochter das Wort in die Länge und nun war es die Pathologin, welche etwas verwirrt drein
blickte. Ich hingegen stand mit der Kuchenplatte im Übergang von Küche zum Esszimmer und überlegte mir, ob ich meinem geliebten Muttertier Melanie jemals von diesem Krimi erzählen sollte. Immerhin wollte sie mich davon abhalten, noch mehr mit Mord und Totschlag zu tun zu haben. Es hatte mich einiges an Mühen gekostet, ihr den Kuchen aus den Rippen zu leiern, weil Anita keinen Bienenstich backen konnte und Senta in der Nähe einer Küche so sinnvoll wie ein SEK Team in einem Seniorenwohnheim war. Zwar war meine Wut auf meinen Ex schon länger verflogen, jedoch wirkte sich die Freundschaft mit einer
Kommissarin, einer Richterin und nun einer Pathologin auf mein martialisches Fachwissen, um jemanden zu töten, ausgesprochen positiv aus. Zum Leidwesen der Nerven meiner überfürsorglichen Mitbewohnerin.
Ich sah noch eine Weile zu, wie sich Senta mit ihrer Mutter zankte und Rebecca dabei genüsslich ein Stück Kuchen nach dem anderen verputzte.
Also irgendwie mochte ich diese Runde. Tut mir leid, Melanie.
Bleistift "Heimatkrimi..." Hallo Silberfunke, Deine Art Krimis zu schreiben ist schon recht ungewöhnlich und man muss beim Lesen dieser Story in der Tat schon sehr darauf acht geben, dass man den Inhalt des Plots nicht gar ungewollt aus den Augen verliert... So musste ich das Finish, gleich mehrmals hintereinander lesen, um letztlich vollends zu verstehen, was am Ende dabei eigentlich herausgekommen war... ...grinst* Aus meiner Sicht gesehen, wäre sicherlich auch einiges etwas leichter verständlich, wenn das Who is Who der handelnden Protagonisten gleich zu Beginn ihres jeweiligen Auftritts etwas eindeutiger formuliert worden wäre... ...smile* Ansonsten ist diese Geschichte recht eloquent und wohl auch mit einer Prise heimatlichen Humors aus dem Odenwald geschrieben worden... ...smile* LG Louis :-) |