Margret folgte den hübsch dekorierten Schaufenstern. Der große Zeiger der Kirchturmuhr am Marktplatz beendete gerade die erste Stunde des neuen Tages, Heiligabend. Liebte sie sonst die blechernen Töne der Glocken, jetzt strapazierten sie ihre Nerven. Sie seufzte beim Blick auf das Päckchen in ihrem Holzkarren. »Hätten sie es mir früher aufgetragen, bräuchte ich jetzt nicht so zu hetzen. Spezialauftrag! Pft! Was soll da schon Besonderes drin sein? Hoffentlich komme ich aber noch rechtzeitig.«
Die Räder ihres Handwagens ratterten heiser übers Pflaster; eine Schaufel, ein paar in Lappen gewickelte Bücher und sonstige persönliche Dinge führte sie mit sich. Und natürlich das spezielle Päckchen. Schläfrige
Schatten eilten durch die Häuserfluchten voraus. Ein Lächeln auf den Lippen summte sie vor sich hin: »Weißt du wie viel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt? Eins, zwei, drei ... acht, neun, zehn.«
"Aaaaha! Jetzt strauchelte wieder das alte Faktotum in seinem ebenso alten Frack und den polierten Lackschuhen wie ein Irrer über das nachtfeuchte Pflaster, ehe er mit den Resten vergoldeten Toilettenpapiers eiligst zwischen den Bäumen verschwand. Unweit von ihrer Bank sah sie ihn wenig später erleichtert aus dem Gebüsch auf das Pflaster treten.
»Darf ich Sie etwas fragen?«, rief sie.
Er blieb verdutzt stehen. Ein erstauntes Zucken seiner dichten Augenbrauen folgte.
Dann lächelte er höflich, einen Diener andeutend.
»Gnädige Frau, was kann ich für Sie tun?«
Sie sah in seine stahlgrauen Augen. »Entschuldigen Sie, bitte. Was machen Sie da jede Nacht im Hotel? Es ist doch schon seit Ewigkeiten geschlossen.«
»Darauf«, antwortete er gedehnt, »habe ich keine Antwort. Jede Nacht zieht es mich ins Hotel. Und anschließend renne ich mit Klopapier ins Gebüsch!«
»Sie Armer!«
»Was treibt Sie denn hier zu dieser Zeit um?«
»Dieses Päckchen soll heute noch seinen Empfänger glücklich machen«, meinte sie mit einem leicht genervten Unterton in der Stimme.
Er nahm es in die Hand und drehte es um, als suche er etwas. »Es steht kein Adressat drauf.«
»Jedes Päckchen findet den richtigen Empfänger, mein Herr. Es ist Weihnachten, schon vergessen?«
»Wie könnte ich, gnädige Frau! Haben Sie so ganz allein keine Angst?«
»Ist ja keiner da, vor dem man sich fürchten muss. Und Sie sind doch ein Gentleman.« Jetzt grinste er. Sie fand, es sah unbeholfen aus. Sein Lächeln selbst fand sie anziehend. »Der Autor muss wohl von allen guten Geistern verlassen sein!«
»Ein Mann hätte mir sicher eine tragende Rolle zugedacht und mich nicht zu einem tragischen Helden verkommen lassen! Das
war eine Autorin«, erklärte er abschätzig. Er stockte. Deine Zunge war schneller, als dir lieb war, mein Freund, mahnte er still. Er kannte die Dame doch gar nicht. Und wenn er so redete, wäre die Bekanntschaft schneller beendet, als ihm lieb sein konnte. Sollte er sich lieber ins Hotel zurückziehen? Er schüttelte verhalten sein Haupt. Was konnte ihm schon passieren? »Darf ich Sie begleiten, wohin auch immer?«
Dein Frack ist auch nur Fassade, mein Lieber, schmunzelte Margret in sich hinein. Dir werde ich schon Beine machen. Selbst schuld. »Dann könnten wir auch Du zu einander sagen. Ich bin Margret. Zu zweit ist die Geschichte sicher schöner. Wie heißt du denn?«
»Bislang war ich nur das Faktotum.«
»Namenlos kannst du nicht bleiben. Da könnten wir uns nämlich die ganze Geschichte sparen. Ein so langer Kerl wie du braucht einen passenden Namen. Ein kurzer Name für einen Langen. Was hältst du von Andras? Passt der? Ich finde, er klingt gut.«
»Wenn du meinst … Andras gefällt mir.«
»Wir haben ein gutes Stück Weg vor uns. Komm, Andras, oder hast du Angst?«
»Nein, das nicht, aber Frack und Lackschuhe sind nichts für eine Wanderung ins Nirgendwo.«
»Das ist wohl wahr. Aber woher willst du was Anständiges zum Anziehen nehmen?«
Andras machte ein nachdenkliches Gesicht. Dann blitzte es in seinen Augen plötzlich auf.
»Ich glaube, ich habe genau das Richtige!« Sein Bündel ziviler Hosen und die warme Jacke hinter der Portiersloge! Sogar ein paar feste Stiefel mussten dort stehen. Vielleicht passten ihm die Sachen noch, dann würde dem Abenteuer nichts mehr im Wege stehen. In Frack und Lackschuhen war das allenfalls ein Höllenritt. »Warte einen Moment, Margret. Ich bin gleich zurück.«
Sie nickte. »Beeil dich. Wir sind spät dran.«
Andras eilte die Promenade entlang. Das Hotel, sein Refugium für so lange Zeit, stand düster da. Er trat ins Foyer. Das erste Mal war er als Lehrjunge hindurchgegangen. Vom Kartoffelkeller bis zum Butler der Honeymoonsuite hatte er sich hochgedient. So viele Jahre schritt er als ewig lächelndes
Faktotum durch die Flure. Auch jetzt lächelte er. »Schlimmer als hier rumzugeistern, wird die Nacht mit einer Unbekannten nicht werden. Aber allemal interessanter.«
Er ging hinter die verwaiste Rezeption. Dort lagen die Hosen aus braunem Drillich und die derbe Jacke in einem alten Rucksack verstaut, die er als junger Mann getragen hatte. Hoffentlich passe ich da wirklich noch rein, dachte er, als er den in die Jahre gekommenen Frack auf einen hölzernen Bügel hing. Er streckte sich. So lange hatte er ihn getragen, dass er sich jetzt fast nackt vorkam. »Hast du überhaupt Lust auf das Abenteuer?«, fragte er halblaut sein Konterfei im Spiegel hinter der Rezeption. Sein Stoppelkinn bejahte. »Margret kam gerade
zur rechten Zeit, sonst würde ich jetzt mit der Rolle ins Gebüsch verschwinden!«
Die neue Kleidung hielt ihn warm, auch die derben Schuhe passten. Er brauchte sich seiner Kleidung nicht schämen, gar im Erdboden versinken. Seine Schritte hallten durch das Foyer, ehe die schwere Tür ins Schloss fiel. »Ich bin bereit zum Abenteuer.«
Das Hotel und die prachtvollen Fassaden der Stadthäuser starrten wie gelähmt auf das Pflaster, als der Kirchturm gerade zur dritten Stunde schlug. Der Atem des Kanals murmelte träge die begrünte Böschung hin und die Kronen der Kirschbäume wisperten unaufdringlich. Sie erzählen sich gewiss Geschichten, wahre oder auch erfundene, sinnierte er amüsiert. Die uralten Platanen auf
der anderen Wasserseite schwiegen sich aus.
»Gut schaust du aus, Andras, besser als im Frack«, meinte sie anerkennend, »doch wir müssen endlich los, wollen wir noch rechtzeitig ankommen.«
»Verrätst du mir, wohin die Reise geht?
»Zum Weihnachtsmann natürlich. Der muss das Päckchen beim Empfänger abliefern.«
Andras nahm erstaunt den Karren. »Da war ich noch nicht.«
»Es wird dir gefallen, Andras. bestimmt. Der Weihnachtsmann ist ein netter Kerl. Trotz allem.«
»Was heißt das – trotz allem?«
»Na ja.« Margret stockte. Wie sollte sie das erklären. Und vor allem, warum? Nein, dann könnte ich es aller Welt erzählen, nie und
nimmer! »Weihnachten!«, seufzte sie stattdessen. »Eine schöne Zeit.«
»Ach, damit habe ich so meine eigenen Erfahrungen. Ich kann dem nicht wirklich was abgewinnen. Ich habe immer arbeiten müssen. Du weißt, im Hotel geht der Alltag weiter, sei es Heiligabend oder sonst ein festlicher Anlass. Für unsereins … für unsereins gab es nichts zu feiern.« Andras verzog das Gesicht, dann aber lächelte er gedankenversunken. »Als Kind war es das Größte für mich.«
»Geht mir genauso. Damals, damals war das noch was. Das Warten auf das Christkind, die Hoffnung auf Geschenke, der Zauber und die Stimmung!« Margrets Blick verdunkelte sich. »Doch mit den Jahren verlor sich das alles.«
»Hast du Kinder gehabt?«, fragte Andras grübelnd.
»Ja, zwei. Ein Mädchen und einen Jungen. Weshalb fragst du?«
»Nur so. Meine Familie war das Hotel.« Seine Stimme wirkte brüchig. »Deshalb habe ich fast gebettelt, an den Festtagen Dienst zu schieben. Den Anderen war das recht, dann konnten sie mit ihren Familien feiern. Und mit den Jahren hatte ich mich daran gewöhnt.«
»Besser als gar kein Weihnachten.«
Sie verließen die prächtig beleuchteten Straßen der Stadt und folgten den wenig erhellten Gassen der Vororte. Andras fand sich kaum noch zurecht; so lange schon war er nicht mehr rausgekommen. Das schwindende Licht machte ihm die
Orientierung noch schwerer. Er konnte doch vor Margret nicht den Angsthasen machen. Wohin gingen sie? Schweigsam zog er den Karren hinter sich her, immer darauf bedacht, nicht in Schlaglöcher zu lenken. Margret selbst war froh, diesen Weg nicht allein gehen zu müssen. Wenn sie endlich die dunkle Gegend verlassen hätten! Sie seufzte still.
Plötzlich hörte sie ein verhaltenes Schluchzen. Beide blieben stehen und sahen sich fragend an. Das Schluchzen hatte einen Moment aufgehört, nur um im nächsten gerade neben ihnen erneut aufzukommen. Aber sie sahen nichts.
»Wer oder was ist das? Klingt wie ein Kind.«
Margret sah in die Finsternis. Andras schluckte trocken. Hoffentlich nicht, meinte er
zu sich.
Da hörte sie es wieder, ein herzerweichendes Weinen. Es kam aus einem dunklen Eck vor ihnen.
Sie sahen sich an. »Das können wir doch nicht ignorieren, oder?«
»Natürlich nicht. Auch ohne Weihnachten.«
Andras nahm den Karren wieder auf und ging mutig voran. Was würde sie wohl erwarten?
Dann atmete er erleichtert auf. Ein winzig kleiner Tannenbaum stand zitternd im kalten Wind.
»Was weinst du denn? Was machst du hier überhaupt?«, fragte Margret.
»Ich friere! Und es ist so dunkel hier. Und außerdem …« Dem kleinen Bäumchen versagte die Stimme.
»Du bist doch ein Tannenbaum. Du brauchst doch nicht weinen.« Andras strich ihm liebevoll über seine Zweige.
»Doch!«, schluchzte er. »Sie haben alle mitgenommen, nur mich haben sie übersehen. Dabei möchte ich so gerne einen Platz nicht weit vom warmen Ofen.«
»Warte nur ein wenig, dann kommt sicher jemand und nimmt dich mit. Ganz sicher. Doch erst wenn der Tag anbricht.« Margret sprach sanft mit ihm. Das Schluchzen wurde leiser.
»Meine Eltern haben mir erzählt, dass ich eines Tages, schön geschmückt, in leuchtende Kinderaugen und auf selige Eltern herabblicken würde. Doch niemand nahm Notiz von mir. Man hat mich immer nur von
einem Eck zum anderen geschubst, als wäre ich lästig. Und dann haben sie einen anderen Baum mitgenommen. Bin ich es nicht wert? Bin ich gar hässlich oder zu klein?«
Zu groß ist er sicher nicht, meinte Margret zu sich, er reicht Andras doch grad mal bis zum Bauch. »Du bist es natürlich wert, mein liebes Bäumchen.«
»Das will ich ja glauben, aber«, schniefte es, »auch das Mädchen heute hat mich nicht mitgenommen. Es stand auf einmal da, ein feines Glöckchen hat mich aufgeschreckt. ich wandte mich um, soweit es ging, schließlich kann ein Tannenbaum das ja nur bedingt. Ein Mädchen, nicht viel größer als ich, und in eine warme Daunenjacke mit Handschuhen und eine wollenen Mütze gekleidet, die ein
goldenes Glöckchen zierte, tanzte fröhlich um mich herum. Da habe ich gedacht: Endlich darf ich mit! Ich hatte mich so gefreut.« Ein feines Lächeln stahl sich auf sein Antlitz. »Ihre leuchtend blauen Augen strahlten. Und mir war es richtig warm geworden. Papa, Mama, den will ich haben, hatte das Kind gerufen. Dabei strich es mit den Händen zärtlich über meine Zweige. Ach, Kind! Wir haben uns schon für diese große Tanne entschieden. Die passt grad in unser Haus und sogar der Stern geht noch oben auf die Spitze. Schau nur wie schön sie ist. Sie sahen stolz an ihrem Baum hinauf. Ach, ich finde den kleinen Baum viel schöner, er lächelt so lieb, antwortete das Mädchen. Doch die Eltern meinten: Was redest du, Kind? Bäume lächeln doch nicht!
Dummerchen. Komm, wir müssen bezahlen und dann geht es heim. Außerdem hat dein kleiner Baum Wurzeln, das wollen wir nicht. Ich habe bitterlich geweint, weil ich nicht nur zu klein sei, sondern nicht mal abgehauen worden bin. Dann wäre ich jetzt bei ihm und würde es sicher gut haben. Aber so? So werde ich nach dem Fest einfach im Feuer landen oder irgendwo lieblos auf den Müll gekippt.«
Margret hatte Mitleid mit dem Bäumchen. »Ich habe eine bessere Idee. Andras hilfst du mir? Wir nehmen den Kleinen einfach mit. Das Weihnachtshaus hat bestimmt das richtige Eckchen für den Kleinen.«
»Na, wenn du meinst, dann nehmen wir ihn. Ist dein Karren auch stabil genug?«
»Ich habe schon ganz andere Dinge damit transportiert. So groß ist er gottlob nicht, dass er nicht drauf passt.«
Andras hob den Kübel, in dem der Baum mit einem Bein steckte, an. »Du bist ganz schön schwer, mein Lieber. Aber was tut man nicht alles, damit alle Welt zufrieden ist.«
Er hätte es auch schlimmer treffen können, mahnte er sich still.
Margret war erleichtert, als das Bäumchen endlich auf dem Karren stand. "Wenn wir uns nicht beeilen, verlieren wir den Wettlauf mit der Zeit und Weihnachten findet ohne uns statt. Auf geht's!«
Hatte er richtig gehört? Die Beiden wollten zum Weihnachtshaus? Das Bäumchen schluckte sprachlos. Es hatte das Gefühl in
diesem Moment ein großes Stück über sich hinauszuwachsen. So habe ich vielleicht doch Glück gehabt, dass mich keiner mitgenommen hat. Mit seinen kräftigen Zweigen hielt es sich am leicht schwankenden Karren fest.
Am Ende des Weges begann gerade der neue Morgen, der besonders heilige Tag.