Der radelnde Engel
Es ward bereits Anfang Dezember und noch immer war kein Schnee gefallen, obwohl es der Jahreszeit entsprechend schon recht kalt und auch ziemlich ungemütlich war. Der Wind jagte von Westen kommend, die fetten dunkelgrauen Wolken vor sich her und die Menschen hatten sich zwar in dicke Jacken eingemummelt, aber trotzdem rote Nasen bekommen. Sie strebten den vielen großen und kleinen Weihnachtsmärkten der Stadt entgegen, denn die Adventszeit hatte gerade erst begonnen und die bunt geschmückten Weihnachtsmärkte hatten an diesem ersten Wochenende im Advent ihre Tore für Jung und
Alt weit geöffnet.
Auch mich lockten die vielen bunten Lampen, der süße Duft nach Zuckerwatte und gebrannten Mandeln, sowie die aus unzähligen Lautsprechern erklingenden weihnachtlichen Lieder an, wieder einmal nur im Jahr auf den Weihnachtsmarkt zu gehen. Letztlich natürlich auch, um wie in jedem Jahr, auf dem Weihnachtsmarkt bei einem älteren französischen Händler ein kleines Fläschchen Lavendelöl aus der Provence für meine mich inspirierende Duftlampe zu kaufen.
Deswegen beschloss ich mit dem Auto bis in die Nähe des Weihnachtsmarktes zu fahren, mir dort einen Parkplatz zu suchen und mich anschließend mit meinem Max über den Weihnachtsmarkt in das bunte Treiben zu
begeben. Damit auch kein Missverständnis aufkommt, Max ist lediglich mein ständiger getreuer Begleiter, ohne den ich weder auf den Weihnachtsmarkt, noch sonst irgendwo großartig hinkäme. Max ist nämlich ein elektrisch angetriebener Falt-Rollstuhl der leichteren Bauart, der zusammengeklappt, überdies auch problemlos hinter die Hecktür meines Automobils passt. Außerdem kullerten seit Jahren bereits zwei seiner intelligenten und pioniertechnisch bestens ausgestatteten Spitzenverwandten recht erfolgreich auf dem eher unwirklichen Mars herum und erfreuen sich damit bei den Wissenschaftlern aller Couleur allseits größter Beliebtheit.
Gesagt, getan. Als ich in unmittelbarer Nähe des Weihnachtsmarktes einen Parkplatz
gefunden hatte, nachdem ich auf den Weg dorthin etliche bremstechnische Manöver wegen einer Vielzahl egoistischer und undisziplinierter Radfahrer absolvieren musste, weil die Helden der Landstraße die Ampelfarbe ROT in aller Regel auch nur als eine x-beliebige Farbe unter vielen ansehen. Für mich ist allerdings ein Radfahrer auch ein Verkehrsteilnehmer, der gleichberechtigt am Straßenverkehr mit seinem Fahrzeug teilnehmen sollte. Leider muss dieser Verkehrsteilnehmer überhaupt keine Fahrprüfung machen, für sein Velo definitiv keine Steuern zahlen und kann sich vom Gesetzgeber vorgeschrieben, praktisch blindlings darauf verlassen, dass andere für ihn mitdenken und sein oft ziemlich riskantes
Fahrverhalten selbst im starkfrequentierten Berufsverkehr wohl wissend einzukalkulieren haben. Wie selbstverständlich benutzt er auch als Falschfahrer die falsche Radfahrerspur und selbst Entgegenkommern der eigenen Spezies, die für ihn nicht rechtzeitig das Feld räumen, denen zeigt er einen Vogel, oder protestiert lautstark mit seiner Klingel, sofern denn diese überhaupt vorhanden ist. Mit der vorgeschriebenen Beleuchtung, insbesondere in der lichtarmen Jahreszeit nehmen es die meisten unserer Helden ebenfalls nicht so genau. Wozu hat man schließlich ein solches Smartphone, auf dem eine App installiert ist, die ähnlich einer LED-Taschenlampe, ein weißes Licht verbreitet. Es reicht also völlig aus, wenn man das Ding in der Hand hält und
gelegentlich seinen Fahrweg bis zur nächsten Laterne damit ausleuchtet, dann kann man sich wenigstens auf den nächsten fünfzig Metern wieder ganz entspannt auf das Internet konzentrieren. Was jedoch hinter dem Rücken unseres Helden passiert, ist natürlich unserem radelnden Smartphone schlechterdings ohnehin schnurzpiepegal, denn ein ebenfalls gesetzlich vorgeschriebenes rotes Rücklicht, das braucht er jedenfalls nicht wirklich. Und außerdem ist er ja längst schon wieder an der Gefahrenstelle vorbei. Wozu also eh' da noch extra ein rotes Licht am Heck installieren, die reinste Verschwendung und im Übrigen, in der Nacht sind doch sowieso alle Katzen grau…
So bekam ich dennoch in der Nähe des Weihnachtsmarktes in der Mitte einer extrem
breiten Straße, wo Parkflächen für PKW und Motorräder zur Verfügung gestellt wurden, einen Parkplatz. Ich lud also Max aus und passierte zusammen mit meinem rollenden Gefährt die viel befahrene Fahrbahnseite, um nicht unnötig lange auf dieser vierspurigen Hauptverkehrsstraße weiterrollern zu müssen. Aber oh‘ Schreck und Graus, augenscheinlich hatte ich dabei allerdings die Rechnung ohne den Wirt gemacht, als ich gleich die erstbeste Parkgelegenheit beim Schopfe gepackt hatte, denn diese gesamte Straßenseite verfügte nicht über eine einzige abgesenkte Stelle in der Bordsteinkante, von wo aus ich mit Max hätte auf den Gehweg gelangen können. Und die nächste erkennbare Möglichkeit dafür, die bot sich leider erst in weiter Entfernung,
nämlich an der nächsten Ampel. Unterdessen begannen aber bereits etliche der genervten Autofahrer schon mit einem vielstimmigen Hupkonzert, weil ich im dichten Fahrzeugverkehr mit Max natürlich die rechte Fahrspur zu blockieren drohte, da man nicht mehr ungehindert an mir vorbeifahren konnte.
Nun war allerdings auch guter Rat teuer und in dieser verzwickten Situation wäre ich sehr dankbar für einen kompetenten Schutzengel an meiner Seite gewesen, der mich aus dieser verflixten Zwickmühle hätte befreien können. Und ganz plötzlich, wie aus heiterem Himmel wurde mir sogar ein solcher gesandt...
Ein junger Mann, der mir wie ein Student aussah, kam mit seinem Fahrrad angefahren und erkannte im Bruchteil einer Sekunde mein
Dilemma, denn er rief mir schon von weitem noch während der Fahrt zu,
»Warten Sie und bleiben Sie ganz ruhig, ich bin gleich bei Ihnen und helfe Ihnen auf den Bürgersteig!« Er stieg von seinem Rad ab und stellte es geschwind an eine Straßenlaterne. Dann ging er auf die hupenden Autofahrer zu, steckte sich beide Zeigefinger in die Ohren und grinste die Autofahrer mit einer unglaublich exorbitanten Clownsgrimasse an. Schlagartig verstummte das Hupkonzert und der junge Mann machte eine exzellente Verbeugung vor der wartenden Autoschlange, drehte sich flugs herum, packte Max bei den Hörnern und hob die Hinterräder meines Rollstuhls in einem Zug auf die hohe Bordsteinkante hinauf und wie auf wunderbare
Weise wurde ich in genau diesem Augenblick gerettet. Zum Abschluss dieser urkomischen Mini-Show wandte sich dieser junge Mensch noch einmal um und mit einer großartig gespielten, echt theatralischen Geste eines genialen Bühnenkünstlers wies er nun mit seinen Händen die Autofahrer wieder in die freigewordene Fahrspur ein. Noch eine kleine Verbeugung und mit seinem breit grinsenden Gesicht, sowie einer lautlosen Kusshand und einem Micky-Maus-Winken für die Autofahrer beendete er diesen selbstlos kuriosen Auftritt. Überrascht bedankte ich mich noch flugs bei dem freundlichen jungen Mann, während der jedoch schon wieder die Hand am Lenker seines Fahrrades hatte.
»Jedenfalls nicht dafür…«, rief er mir noch
lachend zu und schwang sich erneut auf seinen Sattel.
»Und einen schönen ersten Advent Ihnen dann noch…«, bemerkte er im zügigen Vorbeifahren hintergründig lächelnd.
»Danke, Ihnen auch…«, murmelte ich von so viel ungewohnter Hilfsbereitschaft angerührt. Und während ich noch mit einem dicken Kloß im Hals zu kämpfen hatte, war er bereits längst schon wieder auf und davon.
Da fuhr er also dahin, mein radelnder Engel…
Was hatte ich vorhin in Bezug auf die Radfahrer nochmal gesagt...?
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Impressum
Cover: selfARTwork
Text: Bleistift
© by Louis 2017/12 Update: 2018/11