In mein ganzes Leben war noch nie eine Person getreten, vor der ich wirkliche und wahrhaftige Angst gehabt hatte. Nie zuvor war es passiert, dass ich weglaufen wollte. Irgendwohin, weit weg, um nur nicht diesem einen Menschen zu begegnen. Alleine der Gedanke daran, ihn hier in unserem Haus zu wissen, für Wochen sogar und ganz legitim, ließ mich nicht schlafen. Seit dem Tag, an dem sein Brief in unser Haus geflattert war, stand mein Heim auf dem Kopf. Melanie war außer sich. Sarah
wurde zum Putzteufel und ließ unfassbarerweise das Mobiliar dabei ganz. Meine Wenigkeit hingegen mied das gemütliche Zuhause und verkroch sich vorzugsweise bei meiner Freundin Anita oder bei meinem Chef Thomas und seiner Frau. Weil die Familie Braun alle Hände mit dem ersten Geburtstag ihres Kindes zu tun hatte, passte meine Stimmung nicht in die allgemeine Euphorie und so kam es, dass ich am Küchentresen von der Richterin im Ruhestand landete. Angesichts meiner hoffnungslosen Situation war sie womöglich die Person, welche mir am besten einen Rat erteilen
konnte. „Er ist also der Hausbesitzer? Und weswegen haben Sarah und du nun Angst, aus dem Mietvertrag zu fliegen?“ „Sarah und Jannik kennen sich noch aus ihrer Ausbildungszeit und da war sie eine furchtbar schlampige und nachlässige Person. Sie durfte nur in die WG mit einziehen, unter der Prämisse, dass es keine wilden, zerstörerischen Partys mehr gab und sie Ordnung hielt. Sie mag unser Zusammenleben sehr, aber der Mietvertrag war auch nur für zwei Jahre ausgelegt. Wir hoffen alle auf eine Verlängerung unserer gemeinsamen Zeit.“ Anita mit ihren großen haselnussbraunen
Augen sah mich aufmerksam an, während sie ihren großen Kaffeebecher zum Mund führte. Geprügelt, einem räudigen Hund gleich blubberte ich noch mehr Schaum in meinen Cappuccino, anstatt ihn zu genießen. „Und welche Beziehung hat Melanie zu diesem Mann, wenn sie so außer sich ist?“ Absichtlich schlich Anita noch um meine Person herum, denn sie wollte verhindern, dass ich aufhörte, meine Sorgen bei ihr abzuladen und weiterhin die ganze furchtbare Sache mit mir selbst ausmachte. „Na ja, er ist ihr Ehemann!“ Nur eine Person, welche über Jahrzehnte
hinweg in die Finsternis des menschlichen Geschehens geblickt hatte, war in der Lage, diese Information mit einer gewissen Art von Gleichmut hinzunehmen. „Hast du nie erwähnt.“ Ein flaumiger Milchschnurrbart kräuselte sich wie sein zu lang gewordener haariger Kollege an meiner Wange. Beim Wegwischen knickte ich etwas ein. „Ich denke so selten daran, dass sie verheiratet ist, weil er ja nie da ist.“ Was nun geschah, hatte nichts mit der Aufmerksamkeit einer Richterin zu tun, sondern viel mehr mit den dünn gewordenen Nerven einer Mutter. „Luisa
…“ Hast du die Bonbons aus der Dose geklaut: ja oder nein, jedenfalls sagte mir dies ihr Unterton. Mir blieb also nichts anderes übrig, als aufzugeben. „Jannik ist Berufssoldat oder besser gesagt Marinesoldat. Er ist somit im Ausland stationiert und kommt nur selten nach Hause.“ Für den Odenwald war es etwas besonderes Soldat zu sein. Hier gab es keine Kasernen oder dergleichen. Aufgrund von Anitas altem Beruf reagierte sie hier nicht wie ein Einheimischer, der von einem Berufssoldaten im Einsatz hörte. „Wie ungewöhnlich für deine
pazifistische Vermieterin.“ „Im Grunde ist die ganze Beziehung und das Mietverhältnis ungewöhnlich.“ „Wie meinst du das?“, fragte meine Freundin und wechselte den Überschlag ihrer Beine von einer auf die andere Seite. „Melanie und Jannik haben erst kurz vor seinem Einsatz im Nahen Osten kennengelernt und kurz vor meinem Einzug geheiratet.“ Die Haselnussfarbe von Anitas Augen blickte drein, als könnte sie alleine durch diese Farben Fragezeichen in die Luft malen. Im Grunde konnte man die Geschichte von Melanie und ihrem Mann als eine
Fiktion ansehen, welche sich eine Heimatromanautorin ausgedacht hatte. Um das genauer zu schildern, musste ich nun weiter ausholen und Anita holte zur reinen Vorsicht eine Schachtel Kekse hinzu. Ein sicheres Zeichen für mich, dass ich sehr weit ausholen konnte. Jannik stammte aus einer Urodenwälder Familie. Viele Generationen hatten sich in den verschiedenen Dörfern rund um Erbach Michelstadt niedergelassen. Umso erstaunlicher war, dass es keine direkten Verwandten mehr gab, die sich um den Jugendlichen kümmerten, nach dem der Vater verstarb. Eine Mutter hatte es wohl nie gegeben. Grund unbekannt, obwohl
etwas anderes biologisch nicht möglich war. Aber ich kam bei der Erzählung vom Thema ab. Es gab einen Onkel, der das Sorgerecht für Jannik übernahm, jedoch keine besonders gute Beziehung zu ihm aufbauen konnte. Odernwäldermänner konnten unglaublich starrsinnig sein. Egal ob es die Jugend ist oder die ältere Generation. Schulisch war der Junge keine große Leuchte. Er galt nicht als faul oder war gar ein Störenfried. Ihm fehlte lediglich die Fähigkeit, soziale Kontakte zu knüpfen und zu pflegen. Wie sollte man das auch können, ohne je eine richtige Familie kennengelernt zu
haben? Immerhin schaffte er einen ganz passablen Realschulabschluss, doch die Frage, was danach kam, blieb. Eine Ausbildung hatte er angefangen, schlussendlich aber wieder abgebrochen. Bis zu seinem Wehrdienst jobbte er mal hier, mal dort. Hin und wieder half er dem Onkel in seiner Schreinerei aus. Mit dem Beginn seiner Armeezeit wandelte sich der eigenbrötlerische Junge zu einem fleißigen, aufrecht gehenden Mann. Der Onkel zeigte ganz offen, wie stolz er auf den angenommenen Neffen war und unterstütze ihn bei seiner beruflichen Laufbahn. Janniks Vorgesetzten
versprachen ihm eine große Zukunft bei der Marine, wenn er nur etwas offener und zielstrebiger werden würde. Auch hier zeichnete sich bald wieder das ewige Scheitern ab und das Schicksal spielte munter seine Klaviatur vom Alleinebleiben. Sein einziger Förderer verstarb binnen weniger Monate an Darmkrebs. Was zurück blieb, war ein Haus mit großen Garten und ein Befehl zum Abmarsch ins Kriegsgebiet. Ihn überforderten Dinge wie die Organisation einer Beerdigung oder das Verwalten eines Hauses. Menschen, die er nicht wirklich kannte, bedauerten seinen Verlust, den er selbst nicht begreifen
konnte. Die Schreinerei ging an den Geschäftspartner, zumindest eine Erleichterung für Jannik. Jannik ließ alles über sich ergehen, ohne wirklich etwas zu hören, zu sehen oder sein Leben in irgendeiner Weise wahrzunehmen. Was er wahrnahm war die Bundeswehr. Mit seinen Traditionen, seiner Disziplin und der Struktur, in der er sich unsichtbar eingliedern konnte. Ein Soldat unter vielen. In dieser Zeit, in dem Grau gar keine schlechte Farbe war, lag unter all den Kondolenzkarten ein Trauergruß, der auf den ersten Blick völlig unpassend wirkte. Es handelte sich um eine Karte mit vielen bunten Luftballons auf deren
Rückseite stand: „Auf das er an einen guten Ort geflogen ist, an dem er frei von Leid und Schmerz ist. Immer wenn jemand geht, hinterlässt er die schönen Momente, welche man mit ihm geteilt hat.“ Unter dem Text stand eine Telefonnummer und mit der Besitzerin traf sich Jannik. Wer sollte es anders gewesen sein als Melanie, die einem Nachbarn Zuspruch schenken wollte? Auch der Ort, an dem sie sich trafen, hätte einem Roman entspringen können. Es handelte sich um das Black and White, der Bar in der Sarah arbeitete. Melanie mit ihrer mütterlichen Art und dem unerschrockenen Optimismus
erstaunte den Soldaten. Sie war es, die ihm einen Vorschlag unterbreitete, welcher wirklich seinesgleichen suchte: „Natürlich hast du keine Chancen aufzusteigen und weiterzukommen. Für was bist du Soldat geworden? Was willst du beschützen? Wenn du sagst, dass du kein Zuhause hast, dann erschaffe dir eines. Was hindert dich daran? Wenn du nicht weißt, wen du beschützen willst, dann beschütze eben mich. Eine Person reicht schon.“ Woher hätte mein Muttertier erahnen können, dass sich bei dem jungen Mann ein Schalter im Kopf umlegt und er ihr mitten in der Bar einen Heiratsantrag macht, noch ehe einer der beiden gesagt
hätte: Ich liebe dich? Verrückterweise geschah es wirklich so. Auch wenn Melanie keine Frau war, die am liebsten hinterm Herd stand, ihre Kinderschar im Auge hatte und auf ihren Mann sehnlichst warten wollte, empfand sie es als richtig und gut, ein Mensch zu sein, der einem anderen so wichtig war, dass dieser sich anstrengte, wieder nach Hause zurückkehren, dem sie ein Zuhause bot. Beide trugen keinen Ehering, weil sie sagten, sie trugen sich gegenseitig im Herzen. Mit dem Haus und dem Versprechen dorthin nach Hause zurückzukommen, zu ihr, war Jannik zu den Kampftauchern gegangen. Er hatte sein Abitur
nachgeholt. Sein Ergeiz war damit geweckt worden für die Kariere die ihm Kariere, welche die Marine ihm Probezeit hatte. „Nette Geschichte!“, kommentierte Anita sachlich, „Das passt irgendwie zu diesem Muttertier.“ Ich konnte deutlich heraushören, dass sich ihre schwierige Meinung zu Melanie wohl nie ändern würde. „Die beiden passen gut zusammen. Ich denke, es ist gut für die zwei, dass sie nur bedingt Zeit miteinander verbringen. Keiner von ihnen könnte eine Beziehung ertragen, in der es die klassische Rollenverteilung gibt. Melanie liebt zwar
das Kochen und hat einen Dekofimmel, aber sie ist kein Heimchen. Genau wie für Jannik ist ihre Arbeit für sie sehr wichtig. Den Gedanken einer Familie mit Kindern werden die zwei noch einige Jahre von sich schieben. Außerdem Jannik wäre mit einer klassischen odenwälder Freundin und Ehefrau überfordert. Er lernte ja im Grunde noch das Fühlen, das Zusammensein. Seine Kameraden und die Marine, da war er mit Leib und Seele dabei. Sein Herz jedoch hatte er in Sicherheit gebracht. Insgeheim war sein Auftrag, an Sarah und auch an mich, sein Herz, unser Muttertier zu beschützen und aufzubewahren. Das Schatzkästchen war
das Haus, welches er in Ordnung wissen wollte.“ „Ah, ich verstehe, da läuft der Hase lang. Du glaubst, er wird dir Vorwürfe machen, weil du dich mit Mord und Kriminalität auseinandergesetzt hast.“ Anitas Worte straften mich. Sie hatte schon recht damit, dass ich ähnlich wie Sarah Angst vor dem, was Jannik über mich und meine Abgründe denken würde, hatte. Soweit mir bekannt war, war dieser Mann nicht Aristoteles, aber dennoch Moralist mit gewissen Prinzipien. Mit dem Wissen einer Mutter über ihr Kind, welches sich gerne raus schlich und einige Male vom Ordnungsamt nach
Hause gebracht worden war, musterte mich Anita. „Liese, was ist los? Da steckt doch noch mehr dahinter. Sonst würdest du doch kaum vor Sorge unter der Tischplatte verschwinden.“ Der Spitzname, den ich von meiner Großmutter hatte, lockerte auf wundersame Weise und zu meinem Bedauern die Zunge. „Er kämpft im Krieg. Einzelkämpferausbildung und Kampftaucher. Ich denke mal, Jannik würde niemals darüber sprechen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass er einen Menschen bereits getötet hat, ist sehr
hoch.“ „Das Töten eines Menschen in der Kriegssituation. Kein Soldat würde vor Gericht gestellt werden, wenn er während eines Einsatzes ein Menschenleben auslöscht. Ist es das, was du meinst?“ Ich nickte und spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. „Liese, beim Bund wird einem Soldaten beigebracht, das Leben zu beschützen. Die Regeln für den Waffengebrauch sind sehr streng. Er wird sich genauso wie du mit dem Töten beschäftigt haben, ebenso wie mit den Konsequenzen, wenn man einem Lebenswesen sein Leben nimmt. In deinem verkehrten Kopf von
Schuldgefühlen deinen verstorben Großeltern, deinen Zorn auf dieses verräterische Arsch von einem Ex und deiner Tätigkeit als mehr oder minder freiwillige Ermittlerin muss Jannik dir vorkommen wie ein Monster, das bei euch einziehen wird, nicht wahr?“ Langsam wie in Zeitlupe senkte und hob ich meinem Kopf zu einem Nicken. „Ich habe so viele Jahre im Gerichtsaal verbracht. Für wahr, der Krieg ist die höchstmögliche Perversion menschlichen Denkens, die es gibt. Doch das liegt meiner Ansicht an der Dummheit vieler mächtiger Menschen, die glaubten, sie wüssten, was recht und Ordnung sei.“ Sie unterbrach ihre philosophische
Meinung und schlang einen Arm um mich. Mütterlich und sehr liebe voll. „Kopf hoch, Luisa. Melanie ist eine kluge und empathische Persönlichkeit. Ich glaube nicht, dass sie sich einen Mann ausgesucht hat, der das Schlachtfeld liebt oder das Leid anderer Menschen. Versuch es doch mal so zu sehen. Vielleicht passen die beiden deswegen so gut zusammen, weil beide aufgrund ihres Berufes sehr gut wissen, was es heißt, das Gewicht des Lebens in Händen zu halten.“ Ich kuschelte mich an meine langjährige Freundin und versuchte mich zu entspannen. Ihre Umarmung wirkte genauso effektiv wie bei einem Kind,
dem man Nachts erklären konnte, dass es nur schlecht geträumt hatte.
Bleistift "Der Hausvorstand..." Eine Geschichte zur Positionsbestimmung von Protagonisten ja, ein Krimi, oder gar ein Thriller, definitiv nein... Penkoleit, mein Deutschlehrer, gab uns die Klassenaufsätze zurück. Er fixierte mich mit einem Auge und meinte ganz trocken, "Brillant geschrieben, leider Thema verfehlt, fünf. Setzen..." Welche Note, denkst Du, hättest Du erhalten? LG Louis :-) |
silberfunke Fehler schon korregiert! Aus lauter Gewohnheit, das falsche Genere eingestellt. Liebe Grüße Silberfunke |