Es kribbelt ein wenig, wenn man den Ereignishorizont durchquert, aber es ist nicht unangenehm. Der Übergang ist irgendwie fließend und keine klare Linie, welche man übertreten muss, um vom hier ins dort zu wechseln. Ich steige komplett durch den Spiegel und betrachte das Umfeld flüchtig.
Meine erste Reaktion ist, tief einzuatmen. Die Luft ist frisch und angenehm kühl. Ein leichter Windhauch streicht sanft über meine Haut. Vor mir sehe ich eine anscheinend steil abfallende Klippe. Sie grenzt das Stück Land, auf welchem ich stehe, mit einer harten Linie
von dem Meer vor mir ab. Ich drehe mich um meine eigene Achse und sehe neben und hinter mir Wald. Ich setze meine Drehbewegung fort, um der Gruppe zu berichten, was ich hier sehe. Wie wohl ein so überdimensionaler Spiegel hier in der Wildnis wirkt? Ich frage mich, ob er auf dieser Seite wild zu gewachsen ist. In meiner Drehbewegung motiviere ich die anderen auch durch den Spiegel zu treten. „Los, traut Euch, hier ist es…“ Auf einen Schlag ist meine Kehle staubtrocken und ein Knoten quält sich mühsam, unerträglich schwer aus meinem Bauch nach oben. Ich beginne leicht zu hyperventilieren, denn das was ich sehe, habe ich nicht
erwartet: Der Spiegel ist weg. Kein Fenster, kein steinerner Rahmen und auch kein zu gewucherter Rahmen. Nur Wald. Wer schon einmal Panik erlebt hat, der weiß, mit welcher Gewalt und Unbeherrschbarkeit sie über einen hineinbricht. Während diese Welle mit voller Gewalt meine Wahrnehmung blockiert, tippt mir jemand auf die Schulter und ich kann einen Herzstillstand gerade noch abwenden. Es ist Adrian.
„Heilige Scheisse!“, mein entsetzter Schrei lässt auch ihn kurz zusammenzucken. Nach und nach tauchen die anderen wie aus dem Nichts auf, während ich beginne mich wieder zu beruhigen. Meine eigene Angst hat mich völlig überrascht. Es war ein kurzer Moment
konzentrierter Panik. Ich brauche einen Moment, um wieder komplett zur Ruhe zu kommen, und nutze die Zeit, während die Gruppe immer vollständiger wird. „Hey Ben, was hältst du hiervon?“ Einer der Jungs wedelt mit einem Arm in der Luft und zeigt mit dem anderen hinter sich. Wie hieß der noch? Markus? Manuel? Ich bin mir nicht mehr sicher. Die Vorstellungsrunde, die nie stattgefunden hat, wäre jetzt hilfreich. Aber auch dann, so bin ich mir sicher, könnte ich vermutlich nicht an den Namen erinnern. Vielleicht an seine Story, aber nicht an den Namen. Eine meiner größten Schwächen. Es passiert mir nicht selten, dass ich auf Partys Leute treffe, die ich mit Sicherheit kenne,
deren Namen ich aber nicht mehr abrufen kann. Mittlerweile bin ich ganz gut darin, das zu überspielen. „Komm mal her, kommt alle mal hier rüber, das müsst ihr euch ansehen.“ Er steht an der felsigen Klippe, und blickt auf das Meer hinaus. Wir befinden uns also an einem steil abfallenden Ufer, denn ich kann dahinter aufgepeitschte See sehen. Das erklärt auch die hohe Luftfeuchtigkeit, die ich gespürt hatte, als ich durch den Spiegel gegriffen habe. Ich versuche mir das bislang bekannte Terrain wie eine imaginäre Karte ins Gehirn zu projizieren. Wald, eine Klippe, die mindestens 30 Meter in die Tiefe fällt, und ein schmaler Streifen felsiger, ebener Fläche dazwischen.
Am unteren Ende der Klippe schlagen schwere Wellen auf eine zerklüftete Küste, also wollten sie das Festland noch an diesem Tag zum Einsturz bringen. Ich fühle mich klein und unbedeutend, so gewaltig und beeindruckend wirkt dieses Naturschauspiel auf mich. Für einen kurzen Augenblick entrücke ich dem Getümmel um mich herum und bin Eins mit der Szenerie.
Ein winziger Moment innerer Ruhe und Sicherheit. Meine Aufmerksamkeit wird allerdings schnell auf etwas weniger beruhigendes gelenkt. Gute zehn Meter unter uns hängt eine Gondel. Etwa fünfzehn wenig
vertrauenswürdig wirkende Felsstufen führen dorthin hinab. Sie müssen jeweils ungefähr einen Meter voneinander entfernt sein. So große Schritte kann man nicht machen, man muss springen.
Vor der Gondel ist ein kleiner Felsvorsprung, der gerade ausreichen könnte, die Gruppe aufzunehmen. Allerdings bietet die Gondel wohl nicht mehr als einem oder zwei von uns gleichzeitig Platz. Von der Gondel und dem Vorsprung führt ein Schienensystem ins Meer hinaus. Optisch erinnern sie mich an die Führungsschienen einer Achterbahn in heutigen Freizeitparks, also Rohrsysteme. Technisch sind Rohre wegen der gebogenen Form stabiler als klassische, platte Schienenmodelle. Eiserne Stützkonstruktionen
ragen aus dem Wasser, und führen die Schienen wie eine lange, glänzende Schlange auf dünnen Beinen außer Sicht. Mir wird gerade bewusst, dass der Junge mich und nicht Adrian gerufen hat. Es wäre doch eigentlich davon auszugehen gewesen, dass die Gruppe sich an Adrian wendet. Er führte das Wort und er war es, an wem sich die Gruppe orientiert hatte, als ich und die Schwestern dazu gestoßen sind. Ein leichtes Kribbeln fährt mir über die Arme und Schultern, das Gefühl ehrlicher, freudiger Aufregung. Es findet gerade anscheinend eine Verschiebung der Orientierungspunkte statt. Interessant, aber das bedeutet auch eine hohe Verantwortung. Wir müssen aufpassen, dass
die Gruppe sich nicht spaltet, sondern zusammen bleibt. „Hört bitte alle mal zu. Ich möchte eine Vermutung mit Euch teilen“, rufe ich über das Meeresrauschen hinweg. „Nachdem, was wir hier gerade erlebt haben, können wir davon ausgehen, dass das erste Symbol tatsächlich bedeutet, dass nichts ist, wie es scheint. Ich würde das gerne mit Euch gemeinsam so festhalten. Wenn wir alle Regeln identifiziert haben, können wir ja alles noch einmal beleuchten und hinterfragen.“ Ich hole mein Smartphone wieder hervor, und versuche erst ein GPS Signal zu erhalten und eine Telefonverbindung aufzubauen. Beides
erfolglos. „Ok, ich habe noch weitere Aufzeichnungen aus dem Tunnel, die ich Euch gerne zeigen würde.“ Da keine Einwände erbracht werden, beginne ich damit, im Boden einen großen Kreis zu zeichnen. Der Kreis ist in mehrere Segmente unterteilt. Immer vom Kreismittelpunkt ausgehend bis zur Kreislinie. Der Radius also. Jedes Segment ist auf dieselbe Weise nochmals in mehrere gleichmäßige Segmente unterteilt. Ich zähle zwölf Hauptsegmente, die weitere Unterteilung beachte ich nicht. Ich weiß, dass ich nur die Hauptsegmente an der Tunnelwand gezählt hatte. Die Untersegmentierung habe ich frei Schnauze notiert. Vielleicht ein Fehler, das werden wir dann wohl später sehen. Oder nie. Mal
abwarten. „Was meint ihr dazu?“, frage ich die Runde um mich herum. „Was denkt ihr, könnte das bedeuten?“ „Es sind zwölf Segmente hast du gesagt, richtig? Sven, ich bin Mathematikstudent“, fügt der junge Mann mit Dreitagebart hinzu. Sven spiegelt hundertprozentig meine Klischeevorstellung eines Mathematikstudenten wieder. Das trifft übrigens auch auf Chemie- und Physikstudenten zu. Leicht blass, wenig besorgt um eine moderne oder überhaupt erkennbare Frisur. Die Hose etwas zu groß, der Pullover könnte aus einem Second-Hand Laden stammen. Das ist alles sehr oberflächlich, dessen bin ich mir bewusst. Ich
habe ein paar sehr gute Freunde, welche in diesen Bereichen arbeiten. Daher weiß ich, dass ich gerade diese Menschen nie rein nach dem Äußeren bewerten darf. Da schlummern teilweise echte Genies unter der Nerd-Aufmachung. Ich bestätige Sven die zwölf Segmente und schenke ihm spontan ein aufmunterndes Lächeln. Es kostet mich mehr Kraft, als ich dachte.
„Wir sind zwölf Leute“, piepst eine zaghafte Mädchenstimme aus der Runde. „Wie heißt du?“, frage ich. „Verena, ich gehe in die Oberstufe im Gymnasium.“ Alles klar, dann wird sie um die siebzehn Jahre alt sein. Hübsches Mädchen. Nicht ganz so selbstbewusst, wie ich es aufregend finde…
aber lieber Gott, sie ist minderjährig. Schieb den Gedanken schnell beiseite, Ben. „Gute Idee, hier die Verbindung aufzubauen“, erwidert Sven. „Aber warum sind die zwölf Segmente nochmals untergliedert?“ Keiner hat eine Idee, die in irgendeiner Form Sinn ergibt. Ich selber kann auch nichts dazu beitragen. Ich hoffe es hat keine besonders hohe Relevanz. Ich befürchte jedoch, dass hier überhaupt nichts ohne Relevanz ist. Wir sollten uns mit unserer Situation weiterbeschäftigen. Die gerade aufkommende Dynamik nutzen und nicht versiegen lassen. Ich würde gerne noch die anderen Zeichnungen gemeinsam durchgehen, aber wenn die Runde hier den Elan verliert, dann
haben wir größere Probleme. „Lasst uns die Umgebung erkunden. Wir sollten versuchen, einen Weg von hier weg zu finden. Keiner geht allein! Bildet Zweiergruppen!“
Ich zeige auf die beiden Schwestern: „Könnt ihr einfach hier bleiben, und unseren Ausgangspunkt markieren? Wir anderen untersuchen sternförmig die Umgebung. Bleibt nicht zu lange weg und geht keine Risiken ein.“ Ich überlege kurz, was noch wichtig sein könnte: „Sucht euch einen Partner mit Uhr. 15 Minuten sollten für eine erste Erkundung reichen. Danach dreht ihr um und wir treffen uns wieder hier. Ist das so OK für
jeden?“ Eine Gruppe kann nicht einfach so angeführt werden. Ich habe gelernt, dass ein bestimmter Grad an Entscheidungsfreiheit die Zufriedenheit und den Gruppenzusammenhalt stärkt. Auch wenn es, wie in diesem Fall, nur eine Scheinfreiheit ist. Im Grunde weiß jeder, dass das die einzige Möglichkeit ist. Es gibt keine Einsprüche. Am Ende sind wir alle nach deutlich weniger als 15 Minuten schon wieder zurück. Jedes Erkundungsteam ist schon nach kürzester Zeit auf unüberwindbare Hindernisse gestoßen. Schluchten, steile Felswände, Dornenhecken mit ungeheuren Ausmaßen machen ein
Fortkommen auf diesen Wegen unmöglich. Unser Fokus richtet sich also wieder auf die Gondel und die Schienen. „Scheint der einzige Weg zu sein“, sage ich und stelle mich an den Rand der Klippe. „Lasst es uns mal aus der Nähe untersuchen.“ Doch meinem Aufruf folgen die anderen nur zögerlich. Um an die Gondel zu kommen, müssten wir auf den Felsvorsprung, welcher nun wie ein Anleger wirkt. Er befindet sich jedoch in ungefähr zehn Metern Tiefe. Da muss man erst mal runter kommen. Das ist der richtige Zeitpunkt, herauszufinden, wer hier was kann. „Gibt es unter Euch jemanden mit Klettererfahrung?“ fragt Adrian mit fester
Stimme. Plötzlich ist er also wieder da, und er führt meinen Gedanken einfach aus, bevor ich überhaupt Luft holen konnte. Was hat ihn solange im Hintergrund gehalten? Jetzt jedenfalls steht er selbstbewusst und charismatisch neben mir. Fast neben mir. Tatsächlich steht er einen kaum wahrnehmbaren kleinen Schritt vor mir.
Ich muss lächeln, denn ich selber habe die ungewollte Angewohnheit, mich immer einen kleinen Schritt vor anderen zu positionieren. Beim Spazierengehen, immer einen Schritt voraus. In einer Gesprächsrunde, immer etwas näher an der Mitte als andere. Im Gespräch selber, immer ein wenig lauter als die anderen. Adrian wirkt in diesem Moment
seltsam vertraut. Aber sein Einsatz bringt uns leider nicht voran. „War ja fast klar“, schnaufe ich resigniert, nachdem sich niemand auf Adrians Frage meldet. „OK, versuchen wir etwas anderes“, versuche ich das Ruder wieder selber zu übernehmen.
Ich merke, wie Adrian versucht, selber an der Spitze zu bleiben. Ungünstig, wenn zwei Alpha-Tiere so eng zusammenstecken. Ich merke nämlich, dass es mir auch nicht leicht fällt, mich hier unterzuordnen. Normalerweise bin ich jemand, der gerne mit anderen Lösungen gemeinsam erarbeitet. Als Team. Dann wiederum erwische ich mich, dass ich innerhalb des Teams schon ganz gerne die Führung in der Hand habe. Ich bin damit
schon ein paar auf die Nase gefallen, und arbeite intensiv daran, nicht immer zu sehr an die Spitze zu drängen. Das hier wäre mein ideales Übungsgelände. Leider bin ich heute nicht stark genug, meinen Drang zu unterdrücken. Den Drücker gebe ich heute nicht freiwillig ab, Adrian. Zieh dich warm an. Adrian stellt sich direkt neben mich und macht sich bewusst groß. „Ben hat Recht, wir können hier nicht bleiben und sollten uns das Ding da unten genauer anschauen. Danke Ben.“ Clever, Adrian, clever. Er klopft mir anerkennend auf die Schulter, und richtet sich dann wieder an seine Zuhörer, während er sich erneut leicht vor mich stellt. „Wenn es niemanden mit direkter Klettererfahrung gibt,
wer traut sich dann zu, dort runter zu klettern und die Kapsel zu untersuchen?“ Betretenes Schweigen breitet sich aus, und die Blicke sinken auf den Boden; dorthin, wo die Stimmung ist: unten.
Ich hätte vorher schwören können, dass der große, muskulöse Typ Leistungssportler ist. Na ja, Bodybuilder gelten ja irgendwie zu den Leistungssportlern. Ich habe das nie wirklich verstanden, aber wenn jemand mit offenen Augen seinen Körper so sehr ins Hässliche verwandelt und dafür Unmengen an Zeit und Geld investiert, ist das schon irgendwie eine Leistung. Jetzt beobachte ich, wie ein Schrank von einem Kerl, der die Arme nicht mehr richtig an den Körper anlegen kann vor lauter
Muskeln, sich auf eine lächerliche Weise versucht möglichst klein zu machen. Am liebsten würde ich ihn jetzt provozierend necken mit Fragen wie: Wo ist dein Rambo-Gen? Gab es den Herkules-Mut nicht zusammen mit den Protein-Shakes? Stattdessen höre ich mich sagen: „Ich werde es tun“, während ich wiederum vor Adrian trete. Ich höre mich und ich kann nicht glauben, dass diese Worte mit der Luft aus meinen Lungen geformt wurden. Ben, du Idiot, was soll das? So groß kann dein Geltungsdrang gar nicht sein. Aber es ist zu spät, jetzt muss ich auch liefern. Noch bevor Adrian reagieren kann, trete ich an den Rand der Klippe und lasse mich auf
die erste Stufe hinab. Es sind nur kleine, natürliche Vorsprünge aus dem kargen Fels. Sie bieten nicht mehr Platz, als mein Fuß benötigt. Aber sie scheinen massiv und stabil zu sein. Ich verfluche meinen Stolz, und das eingebrannte Bedürfnis der Chef sein zu wollen. Soll doch jemand anderes seinen Arsch riskieren und hier runterklettern. Zu spät, ich brauche den Vorsprung zu Adrian allein schon für mein Seelenheil. Ich habe als einziger die Symbole gefunden, und bin als erster durch den Spiegel gegangen. Ich sollte der Anführer dieser Gruppe sein, und diese hirnrissige Idee, als erster über die Klippe zu steigen, wird mir den Platz an der Spitze sichern. Jedenfalls solange ich heil aus dieser Kletternummer rauskomme. Noch ein paar
Stufen, dann kann ich mit einem großen Satz das Plateau erreichen. Ich setze zum Sprung an. Höchste Konzentration. Wenn ich jetzt einen Fehler mache, stürze ich mindestens 20 Meter in die Tiefe. Unter mir branden schwere Wellen direkt auf scharfe und schroffe Felsen und spritzen wütend weiße Gischt in den Wind. Dieser bläst so stark, dass meine Ohren von tiefem Brummen und Rauschen betäubt werden. Die Geräuschkulisse ist so laut, dass ich die Stimmen, die von oben rufen, erst sehr spät wahrnehme. Bevor ich springe, drehe ich mich zu den Stimmen um. Vielleicht kann ich beim Hinsehen, erraten, was sie durch den Wind rufen. Ich habe mit meinen Augen die
Klippenkante noch nicht erreicht, da erstarre ich im Moment der Bewegung. Ungläubig sehe ich, wie die Stufen von oben beginnend in kleine Steinchen zerbröseln. Mein einziger Weg zurück zerfällt vor meinen Augen in seine Bestandteile. In diesem Moment wird mir schlagartig bewusst, dass in wenigen Augenblicken auch die Stufe unter meinen Füßen nicht mehr da sein wird.
Ich springe reflexartig und merke, dass es bereits zu spät ist. Der Untergrund ist bereits zu porös, um mir genug Halt für einen ordentlichen Sprung zu bieten. Ich spüre, wie die Schwerkraft beginnt an meinem Körper zu ziehen. Alles bewegt sich in Zeitlupe vor meinen Augen. Meine Arme holen träge
Schwung, die Wellen und die Gischt haben ihr Tempo halbiert. Das bisschen Halt, was ich noch unter meinen Füßen spüre, nutze ich voll aus. Ich muss meine Knie einknicken, um Spannung für einen Sprung aufbauen zu können. Zentimeter für Zentimeter sinkt mein Fuß in die sich auflösende Stufe. Ein letztes Mindestmaß an Halt gibt mir die Möglichkeit, mich nach vorne in Richtung des Plateaus abzustoßen. Während meine 90 Kilogramm in die Tiefe gezogen werden, bewege ich mich unglaublich zäh und langsam auch nach vorne. Ich schlage mit dem Brustkorb und meinem Kinn auf der Kante des Plateaus auf. Sofort habe ich den vertrauten, metallischen
Geschmack von frischem Blut auf der Zunge. Der Schmerz, der augenblicklich durch meinen Kiefer fährt, erinnert mich an einen Fahrradunfall aus meiner Kindheit. Damals habe ich mir zwei Zähne ausgeschlagen. Ich hoffe, ich habe mir nur auf die Zunge gebissen. Der Aufschlag raubt mir für einen kurzen, aber extrem wichtigen Moment die Luft. Meine Finger graben sich panisch in jede Ritze und Unebenheit des Plateaus, während meine Lungen mit größter Anstrengung wieder frische Luft aufsaugen.
Meine zentrale Sorge besteht darin, dass das Plateau sich ebenfalls gleich in seine staubigen, steinigen Einzelteile auflösen wird. Ich habe gerade genug Halt, um nicht über die
Kante zu rutschen. Ungelenkig hieve ich mich mit letzter Kraft auf das Plateau, und ringe auf dem Rücken liegend um Fassung und Luft. Piep Piep Piep Piep Unnatürliche Geräusche, künstliche Geräusche. Sie kommen aus der Kapsel. Ich kann dort im selben Rhythmus ein kleines Licht aufblinken sehen. Während ich mich mühsam aufrappele, strecke ich eine Hand in den Himmel und signalisiere elf über die Klippe blickenden Gesichtern, dass alles in Ordnung sei. Während ich völlig außer Atem pfeife und schnaufe, fährt meine Zunge über mein glücklicherweise noch vollständiges Gebiss. Ich habe mir beim Aufprall auf die
Innenseiten der Backen gebissen. Das ist zwar schmerzhaft und blutet fürchterlich, aber es ist nicht gefährlich. „Ich habe mir gerade sprichwörtlich in die Hose gepinkelt. Und wenn ich die anderen so anschaue, bin ich nicht der einzige“, ruft Adrian mir zu. Ich lache und bemühe mich, einen ermutigenden Blick aufzusetzen. Mit meinen Händen forme ich noch leicht zitternd einen Trichter und rufe hoch: „Ich schau mir jetzt die Kapsel an.“ Vorsichtig betrachte ich die Kapsel von außen. Die anderen oben auf der Klippe habe ich bereits ebenso ausgeblendet, wie die Gefahr, dass das Plateau sich gleich auflösen könnte. Zu sehr bin ich von diesem Ding da fasziniert.
Beinahe überheblich steht diese Gondel da. Sie ist völlig bewegungslos und gibt auf den ersten Blick nichts preis. Sie ist leer und besteht aus einem Mix aus stumpf-glänzendem Metall und Holz. Das kugelförmige Grundgerüst ist wie die Schienen, aus Rohren geformt. Zwischen den Röhren sind durchsichtige Scheiben eingelassen, und im Inneren sehe ich einen Sitz. Ich kann keine Epoche nennen, aus welcher dieses Konstrukt stammen könnte. Der Mix ist zu verwirrend. Das Design ist irgendwie modern, die Machart wiederum antik oder mittelalterlich. Kann ich jetzt nicht lösen. Piep Piep
Piep Piep Sie macht einen stabilen Eindruck. Ich werfe einen Blick hinein. Es ist ein Einsitzer und der Sitz ist auf ein spartanisches Armaturenbrett ausgerichtet. Ein paar tote Anzeigen und ein Hebel an der Seite des Sitzes, welcher wie eine alte Handbremse wirkt, sind die einzige technische Ausstattung. Aus meiner Position kann ich nicht alles erkennen. Ich rufe der Gruppe zu, dass ich mich gerne mal reinsetzen möchte. „Könnt ihr etwas sehen, was mich daran hindert? Gibt es begründete Einwände?“ Die Rückmeldungen vom Tower geben grünes Licht. „Du musst das nicht machen, wenn du nicht willst, Ben. Das weißt du hoffentlich. Egal
was du machst, sei vorsichtig“, ruft eine kräftige Frauenstimme. Ich bin mit meinem Kopf schon wieder bei meinem Vorhaben und quittiere den Hinweis mit einem kaum merklichen Nicken. Etwas angespannt und mit zitternden Beinen steige ich vorsichtig in die Kanzel. Ich setze mich in den Sitz, eine andere Möglichkeit bietet die Kapsel nicht, da neben dem Sitz bereits die metallischen Streben in der für Kugeln typischen Form hochführen. Ich könnte in der Mitte auch stehen, aber nach dem kurzen Sturzabenteuer kommt mir ein Sitz gerade gelegen. Mit meinen Fingerspitzen fahre ich behutsam sämtliche Oberflächen und Linien des Innenlebens ab. Ich kann sie
bequem vom Sitz aus erreichen. Sie fühlen sich sauber an. Glatt und von ziemlich guter Verarbeitungsqualität. Ich fühle mich ein wenig, wie in einem Autohaus. Das Holz vermittelt einen sicheren und heimeligen Eindruck und das Metall ist im Inneren der Kapsel sogar poliert. Das kleine Licht blinkt mich in regelmäßigen Abständen orangefarben an. Piep Piep Piep Tack Verdammt, kein Piep sondern ein Tack. Was war das? Das kleine Licht ist von seinem ursprünglichen Orange in ein altersschwach flackerndes Grün umgesprungen. Das kann kein gutes Zeichen sein. Habe ich das
ausgelöst? Was habe ich ausgelöst? Wie kann ich es rückgängig machen? Will ich es überhaupt rückgängig machen? Mein Magen wird augenblicklich hart und schwer. Er zieht mich tief in den Sitz und meine Gedanken überschlagen sich. Rausspringen? Drinbleiben? Irgendwelche Knöpfe drücken? Alle Überlegungen kommen auf einen Schlag zum Erliegen. Ich spüre es nicht nur, sondern ich sehe es auch sofort. Die Kapsel bewegt sich mit mir weg von der Klippe.