Ein anstrengender Tag heute.
Ich lege mich kurz aufs Sofa und schon bin ich eingeschlafen. Ich finde mich alsbald in einem wunderbaren Traum wieder.
Frohgemut wandere ich mit schnellen Schritten mitten durch das herbstliche Märchental. Herrlicher Sonnenschein, nur ab und zu reißen Sturmböen die letzten Blätter von den Bäumen. Keine Menschenseele unterwegs, nur eine lästige Fliege begleitet mich schon seit geraumer Zeit.
Langsam macht sich mein Magen bemerkbar und ich bekomme große Lust auf ein üppiges Festmahl. Da sehe ich in der Ferne, neben dem Wasserfall einen einladenden Gasthof. Rauch aus dem Schornstein verkündet mir, dass der Ofen in Betrieb ist, welch ein Glück.
Auch die Fliege summt begeistert und so betreten wir kurze Zeit später die Gaststube. Nicht viel los hier, stelle ich fest, nur ein alter Esel sitzt missmutig neben dem grünen Kachelofen vor einer Salatplatte. Kommt wahrscheinlich aus der nahe gelegenen Mühle und ist auf dem Weg nach Bremen, kommt mir so in den Sinn. Schließlich ist es ja ein Märchenland, doch leider kein Königspalast, sondern nur eine einfache Kneipe und einen Thron würde ich hier sicher vergebens suchen, nicht jedes Märchen spielt in Adelskreisen.
Da kommt auch schon der Wirt herbei geschlurft um die Bestellung aufzunehmen. Heute will ich mir wirklich etwas Besonderes leisten mit frischen Zutaten aus der Region.
Als Vorspeise wähle ich ein Froschschenkelchen, danach eine Kräutersuppe, anschließend Fasan im Speckmantel, ein Glas Rotwein inbegriffen. Das Festmahl würden geeiste Waldbeeren mit Sahnehäubchen abschließen. Eilig verschwindet der Wirt sofort in der Küche.
Kurze Zeit später höre ich das Surren einer Rechenmaschine. Der kann es wohl kaum erwarten, dass Geld in seiner Kasse klingelt, wird mir da klar.
Das Ergebnis seiner Bemühungen schien zufriedenstellend ausgefallen zu sein, denn lächelnd kommt er auf mich zu und beginnt freundlich eine Unterhaltung. Er erkundigt sich nach meiner Herkunft und meinen kulinarischen Vorlieben. Auf meine Frage, ob
er weitere Gäste erwarte, antwortet er nur ausweichend und weist auf einen Stammgast hin, der jeden Augenblick erscheinen würde, einen hungrigen Wolf, der Tag für Tag „Kohlsuppe mit Wasser“ bestellen würde.
Kaum hat er seine Ausführungen beendet steht tatsächlich ein alter, spindeldürrer Wolf in der Tür. Der Wirt führt ihn freundlich zum schönsten Tisch und reicht ihm sofort die Speisekarte. Der Wolf studiert lange und eingehend die leckeren Angebote. Ab und zu fährt er sich mit der Zunge über die Lippen und seine Augen beginnen zu leuchten, doch die Bestellung fällt eher mager aus einen Teller Kohlsuppe und ein Glas Wasser.
Wird sich wohl irgendwo den Magen verdorben haben, der arme Kerl, mutmaße
ich. Man liest ja überall von verdorbenen Lebensmitteln.
Als der Wolf gegessen und bezahlt hat, beschließt der Wirt seinen sonderbaren Gast nach dem Grund seines ungewöhnlichen Verhaltens zu fragen.
„Meister Isegrim, darf ich fragen, ob die Kohlsuppe in Ordnung war?“ beginnt er vorsichtig das Gespräch.
„Natürlich, sonst würde ich ja nicht jeden Tag wiederkommen!“
„Ich bereite ihnen aber gerne auch andere wohlschmeckende Gerichte zu. Schweinebraten zum Beispiel, auch mein vorzügliches Hirschragout ist weit und breit bekannt. Sollte es am Preis liegen, könnte ich ihnen als Stammgast vielleicht noch etwas
entgegen kommen.“
„Ist schon in Ordnung, guter Mann. Ich merke, du machst dir Gedanken über meinen sonderbaren Geschmack. Kann ich ja verstehen ein Wolf, der sich nur von Kohlsuppe ernährt, ist nicht alltäglich. Doch glaube mir, das war nicht immer so. Könnt ihr schweigen? Denn was ich euch jetzt erzählen will, ist nicht für jedermanns Ohren bestimmt. Allzu leicht ist man nämlich heutzutage dem Spott der Menschen ausgesetzt.“
„Bei uns ist dein Geheimnis gut aufgehoben. Wir schweigen wie ein Grab“, beteuert der Wirt und ich nicke zustimmend.
„Gut, dann hört mir zu, “ beginnt der Wolf seine Geschichte. „Bis vor ungefähr einem Jahr war auch ich ein blutrünstiger, böser
Räuber. Nichts und niemand war vor mir sicher, kein Hase, kein Reh, ja nicht einmal vor Menschen schreckte ich zurück, denn ich hatte immer unbändigen Hunger. Ich war gefürchtet im ganzen Land und jede Mutter warnte ihre Kinder vor mir. Eines Tages kam ich zu einer Ziegenfamilie, einer Mutter mit sieben Kindern. Tagelang habe ich das Haus beobachtet und als die Mutter einmal in den Wald ging um Essen zu besorgen, wollte ich ins Haus und mir ein kleines Zicklein holen. Zuerst hatte ich kein Glück, sie hörten meine raue Stimme und sahen meine dunklen Tatzen, keines machte mir auf. Doch ich ließ mich nicht entmutigen, sondern trank ein Glas mit Honigmilch und schon hatte ich eine sanfte, weiche Stimme. Meine schwarzen
Tatzen steckte ich in einen Sack mit Mehl und sie wurden weiß wie Schnee. Wohl fühlte ich mich nicht dabei, doch was tut man nicht alles für frisches Ziegenfleisch. So verwandelt schlich ich mich wieder zu den Zicklein und diesmal öffneten sie die Tür, weil sie glaubten ihre liebe Mutter wäre wieder zurückgekommen. Mit schrecklichem Gebrüll stürzte ich ins Haus, sodass allen Hören und Sehen verging. Sie stoben wild durcheinander und wollten sich im Kasten oder unter dem Tisch verstecken. Gott sei Dank waren sie viel zu langsam. Ich bekam immer mehr Appetit und verschlang eines nach dem anderen, waren wirklich wohlschmeckende, kleine Fratzen. Leider habe ich nicht genau mitgezählt und das war mein Fehler. Das
siebente Zicklein, das jüngste hatte sich im Uhrkasten versteckt und gerade dort habe ich nicht nachgesehen. Als die Ziegenmutter nachhause kam, hat mich das Kleine natürlich sofort verraten. Na, die alte Ziege war vielleicht wütend. Als sie mich unter einem Baum schlafend fand, schnitt sie mir mit ihrer Schere sofort den Bauch auf und holte ihre Kinder heraus. Damit ich beim Erwachen nichts merken sollte, füllte sie mir den Bauch mit großen Steinen. Durstig geworden, rannte ich zum Brunnen, um zu trinken. Da begannen die Steine in meinem Bauch zu rumpeln und ich fiel kopfüber ins Wasser. Wahrscheinlich wäre ich jämmerlich ertrunken, wären da nicht die Leute vom Naturschutz gewesen. Sie haben mich wieder herausgeholt, denn ich
stehe auf der Liste der schutzbedürftigen Tiere unsere Art ist vom Aussterben bedroht. Wie alle meine Artgenossen, trage auch ich einen kleinen Sender hinter meinem linken Ohr versteckt, das hat mir letztendlich das Leben gerettet, denn als die regelmäßigen Signale plötzlich ausfielen, begann man nach mir zu suchen und die ganze Geschichte kam ans Tageslicht.
Während die Geißenmutter mit ihren Kindern noch Freudentänze vollführte, begann für mich eine schwere Zeit. Monatelang lag ich im Krankenhaus, denn die tiefen Wunden verheilten recht langsam. Anschließend kam ich in eine Entwöhnungsanstalt, dort wurde ich behutsam auf fleischlose Kost umgestellt. Das war wirklich nicht einfach für mich, aber jetzt
bin ich über dem Berg. Aber ich muss zugeben, wenn ich deine Speisekarte studiere, bei Hasenbraten läuft mir immer noch das Wasser im Mund zusammen. Sollte ich aber rückfällig werden und Fleisch verzehren wartet eine lebenslange Gefängnisstrafe auf mich, dafür hat die alte Ziege gesorgt. Sie ist noch immer voll Rachegelüste. Also, du siehst, ich habe keine andere Wahl Kohlsuppe und wieder Kohlsuppe. Deine schmeckt übrigens vorzüglich.“
„Danke, dein Lob ehrt mich. Du hast wahrlich ein schweres Los zu tragen. Manchen trifft es wirklichhart. Das Leben kann oft recht grausam sein.“
Das Schicksal des armen Wolfes berührt nicht nur den Wirt, sondern auch mich tief und ich beschließe spontan ihm meine Nachspeise zu spendieren.