Es war im September.
Dimitrij betrat den Klassenraum ernst, ernster als jedes Kind zuvor.
Ich machte mir nicht viel Gedanken. Wir würden Zeit haben, viel Zeit. Um uns kennenzulernen. Um unsere Mauern, Stück für Stück, abzubauen.
Doch bei Dimitrij war es anders.
Alles war anders.
Das spürte ich. Schon im Oktober.
Die Frau, die ihn morgens brachte, war seine Mutter. Der Mensch, der ihn lieben wollte. Und sollte. Dem es jedoch nicht gelang.
Er sah sie nicht an.
Im November lernte ich seinen Vater kennen. Leuchtende Augen, begeisterter Blick. Für sein Auto. Nicht für Dimitrij.
Im Dezember wusste ich, dass das Projekt Dimitrij gescheitert war. Er lernte nicht in der Geschwindigkeit, welcher der Staat für ihn vorgesehen hatte. Drei Monate hatten sie ihm Zeit gegeben, für das spezielle Förderprogramm in meiner speziellen Klasse. Drei Monate, in denen ich ihn lieben lernte. Die Weisheit seines Herzens. Doch das interessierte nicht.
Denn er trat nicht in die Fußstapfen des Vaters. Interessierte sich nicht für dessen Beruf und Hobby. Und noch weniger für
dessen Hoffnung, mit dem Adoptionskind die eigene Frau glücklich zu machen.
Und er erinnerte seine Mutter - die einzige, die er hatte - täglich daran, dass sie ihn nicht lieben konnte.
So sehr sie es versuchte.
Im Januar dann der „runde Tisch“:
Wir saßen zusammen. Alle, die für sein Wohl sorgten.
Ein trauriges Schicksal: Abgegeben in einem russischen Kinderheim. Auserwählt von einem deutschen Ehepaar. Das so sehr wollte.
Und doch nicht konnte. Seine Mauer wuchs.Tag für Tag.
Die Wochen und Monate in meinem
Förderprogramm hatten nichts gebracht, sollte ich den Eltern sagen. Mein Part.
Ein trauriger.
Mit Tränen in den Augen saß mir seine Mutter gegenüber. Die einzige, die er hatte. Und weinte.
Um ihre Katze, die am Abend zuvor gestorben war.
Was uns zusammen noch gelang?
Der Wechsel auf die Schule für Erziehungshilfe. Dort würde für ihn gesorgt. In einer festen Gruppe. Mit klaren Regeln. Bis zum Abend. Ein ausgefüllter Tag. Struktur und Halt in einer haltlosen Welt.
Dann hätten auch seine Eltern wieder mehr Zeit. Für sich. Um zu Kräften zu kommen. Für ihre Liebe. Zu ihm.
Das bisschen Mehr an Liebe, das es braucht, ein Adoptionskind großzuziehen.
Eine große Aufgabe, mit der man sie alleine gelassen hatte.
Offensichtlich.
Im Februar musste Dimitij mein Förderprogramm verlassen. Die Warteliste war proppevoll. Und andere Kinder rückten auf.
Doch mein Klassenzimmer blieb leer. Ohne ihn.
Im März traf ich ihn, auf einem Fest im Dorf.
Er blickte ernst in die Welt, ernster als jedes Kind.
Und sah mich nicht an.