Versetzt
Selten war sie sich der Vorteile ihrer geringen Körpergröße so bewusst geworden, wie in diesem Moment. Sie schloss die Augen und zwang sich weiterhin ruhig und bedächtig zu atmen. Den größten Teil ihres Gepäcks und ihrer Reitkleidung hatte sie bei Freunden zurückgelassen, mit den Sachen beladen, hätte sie auch nicht in das schmale Eichenfass gepasst. Gaia rümpfte die Nase und rutschte mit ihrem Becken näher an das feuchte Holz heran. Warum genau musste ihr Versteck ein Weinfass sein, der süßliche Geruch, der an dem schon vielfach verwendeten Holz zu
haften schien, kroch mit jedem Atemzug tiefer ihre Luftröhre hinab. Ein starkes Gebräu aus Hopfen und Gerste träfe ihren Geschmack besser. Sie biss die Zähne zusammen, denn sie wollte unentdeckt bleiben, doch die Umstände machten es immer schwerer, ihre Atmung kontrolliert flach zu halten. Den Lärm der Schlägerei, die in der Kneipe tobte war, hörte sie im Hinterhof nur noch gedämpft. Wie vereinbart, hatte sie hier auf die zwei Mitglieder des Zirkels gewartet, doch niemand war erschienen. Gaia verfolgte für gewöhnlich ihre eigenen Ziele und gehörte der Untergrundbewegung nicht direkt an, doch ergaben sich immer wieder
Gelegenheiten in denen es sich anbot gemeinsame Sache zu machen. So auch jetzt. Warum also war niemand erschienen? Erst als zwei in graue Umhänge gekleidete Personen die Schänke betraten, wurde Gaia aus ihrer Trance gerissen. Sie hatte nicht viel von den Gestalten erkennen können, doch ihr war klar, dass sie hinter ihr her waren. Im abendlichen Gedränge hatte sie sich nicht schnell genug davon machen können, doch kurz bevor ihre Verfolger sie erreichen konnte, zettelte einer der anderen Gäste eine Schlägerei an und verschafft ihr somit in letzter Sekunde eine Möglichkeit in der pöbelnden Menge unterzutauchen und sich im
Hinterhof zu verstecken. Vielleicht waren die Verfolger ihren zwei Mitstreitern zuerst begegnet und nun hatten die Kneipe betreten um ihren Auftrag zu Ende zu bringen.
„Gaia?“, genau dort wo sie ihr Ohr gegen das Fass drückte, legte jemand seine Hand auf das Holz. Er flüsterte ihren Namen nur, doch der Bass seiner tiefen Stimme ließ sich nicht ausblenden. Statt zu antworten, kniff sie die Augen zusammen und hielt die Luft an, als könne sie den Fremden so über ihre Anwesenheit hinwegtäuschen. Unverkennbar der Mann, der ihr die nötige Ablenkung für ihre Flucht verschafft hatte. „Fünfzig Atemzüge,
dann komm raus“ Woher kannte er ihren Namen? Sie war sich sicher ihm nie zuvor begegnet zu sein, eine derartig tiefe Stimme hätte sie nicht vergessen. Die Situation begann mal wieder außer Kontrolle zu geraten und das behagte ihr überhaupt nicht.
Gedämpft lauschte sie seinen Schritten, bis der Lärm das Lokals, in dem er erst vor wenigen Momenten eine Keilerei losgetreten hatte, zu laut wurde um seinen Bewegungen weiter folgen zu können. Dann hörte sie ihn wieder: „ Scheiße!!“ Fast am selben Augenblick hörte sie wie ein Pfeil splitternd in das Fass neben ihrem einschlug. Erschrocken zuckte sie zusammen. „Verschwinde von
hier!“, hallte es über den Hof zu ihr herüber. Gaia drückte den Deckel über ihrem Kopf zur Seite und sprang mit einem Knacken ihres Kniegelenks aus der unbequemen Position auf. Ein weiterer Pfeil folg zischend durch die kalte Herbstluft, direkt auf sie zu, zu schnell um noch zu reagieren. Doch ein Schwert schwang kurz vor ihrem Gesicht in ihr Blickfeld und lenkte den Pfeil im letzten Moment aus seiner Flugbahn. „Lauf! Und warte nicht!“, ein drängender Ton schlug ihr entgegen und ließ es ihr kalt den Rücken hinunterlaufen. Ein widernatürlich schneller Schatten huschte im spärlichen Licht der Dämmerung über den weitläufigen
Hinterhof in ihre Richtung. Sie blickte auf den Mann der ihr soeben erneut aus der Klemme geholfen hatte. Er stand ihr mit dem Rücken zugewandt da und zog ein zweites Schwert unter seinem Umhang hervor. „Worauf wartest du? Du kannst dich nicht mit ihnen messen.“, seine weiche Stimme war zu einem bestimmenden Knurren geworden und Gaia dachte nicht im Traum daran diesem Kampf beizuwohnen.