„Ich bin der Kollektor“, kratzt seine Stimme tief in meinem Kopf. „Erhebe dich vom Boden. Es steht mir frei jedem Ankömmling einen Rat zu geben. Dir rate ich Folgendes: Alles, was du siehst und hörst, kann dich retten und dir helfen. Aber genauso kann es dich töten. Lege jede Naivität ab, denn die Absicht, dass es dich töten will, ist wahrscheinlicher. Ob du deinen wahren Wert beweisen kannst, hängt davon ab, ob du beides unterscheiden kannst. Du findest die ersten Antworten am Ende des Pfades. Du wirst mich nicht wiedersehen. Ich habe dich hierher gebracht. Das war meine
Aufgabe. Sie ist hiermit erfüllt.“ Der schwarze Nebel verflüchtigt sich zusehends, und ich nehme meine Umwelt immer deutlicher wahr. Ich frage das Wesen: „Warum bin ich hier? Wieso ich? Wo ist hier? Bitte, nur diese Antworten“, doch Mr. No-nose ignoriert mich. Statt einer Antwort beginnen die schwarzen Linien auf seinem Körper von innen heraus hell aufzuleuchten. Ein schönes, beindruckendes Türkis-Blau. Ich starre es gleichermaßen ungläubig und fasziniert an. Aus dem Licht drängen weitere Ratschläge in mein Gehirn. „Lerne zu unterscheiden. Lerne zu verstehen“. Aus dem Leuchten seiner Linien schlagen feine Funken und der Kreis auf seiner Brust vibriert, bis daraus schlagartig ein greller Blitz
mit ungeheurer Leuchtkraft schießt. Ich kann nicht sagen, ob er auf mich gerichtet ist, oder sich wie eine wachsende Blase um das Wesen aufbläht. Es ist so unfassbar grell, dass ich kaum meine Augen geöffnet halten kann. Die Augen zu schließen ist aber auch keine Option. Ich muss sehen, was vor mir passiert. Der Blick in das Licht schmerzt so sehr, als würde man unvorbereitet und aus kürzester Distanz in das Blitzlicht eines Fotoapparates starren. Funken und Kreise brennen sich auf meine Netzhaut, sie tanzen wild umher, wie kleine Leuchtstäbchen auf einem irren Rave.
Das Licht wird unerträglich grell, sodass ich meine Augen auch bei größter Anstrengung
nicht offen halten kann. In diesem Moment schwillt meine Angst über die Schmerzen, und verdrängt sie für einen kurzen Augenblick. Meine Atmung beschleunigt sich wie in Panik. Ich will meine Augen öffnen, aber jeder Versuch wird durch das intensive Licht zunichte gemacht. Die Funken und Kreise tanzen weiter wild auf dem Inneren meiner Augenlieder, wie auf einer Kinoleinwand. Ich rufe das Wesen und strecke meine Arme unkoordiniert nach Halt suchend aus. Als das Feuerwerk vor meinem inneren Auge nach einiger Zeit langsam wieder abflaut, reiße ich die Lieder schlagartig auf. Mir graut vor dem, was sich mir nun bieten wird, sobald sich meine Augen an die normalen Lichtverhältnisse gewöhnt haben.
Das Wesen ist weg. Ich sitze völlig allein und noch immer irritiert auf einem schmalen Pfad aus Erde und Kieselsteinen. Um mich herum erkenne ich vertrocknetes Gras und mir unbekannte Gewächse, welche mich jedoch an irgendeine Blumenart erinnern. Sie sind recht filigran und auf dem Stängel steht ein violetter Trichter. Und doch ist irgendetwas daran anders, als ich es in meiner vertrauten Umgebung erwarten würde. Die Blume schimmert, als wäre sie mir Perlmutt überzogen. Das ist es, das ist der Unterschied. Eine leichte Brise setzt die Halme und Sträucher in seichte Bewegungen, und ich muss mich aktiv dagegen wehren durch das wiegende Schimmern nicht in eine Art Hypnose zu fallen.
„Lerne zu verstehen“, hat Mr No-nose gesagt, also sollte ich dies vielleicht einfach versuchen. Wie auch immer ich das anstellen soll. Ich muss davon ausgehen, dass es genug Möglichkeiten geben wird. Alles kann und will mich töten. Auch das hat er gesagt. Ich soll meine Naivität ablegen, hat das Wesen geraten. Diesen kruden Aufforderungen echte Aufmerksamkeit zu schenken ist vermutlich besser, als lethargisch auf dem Pfad sitzen zu bleiben und zu hoffen, dass ich alles mit Logik und Verstand in der Theorie lösen kann.
Vorsichtig stütze ich mich ab, und fühle feinen Kiesel und Erde unter meinen Händen. Darf
ich das jetzt anfassen? Hilft mir das? Will mich der Kieselstein töten? Ich bin zwar ziemlich unsicher, aber bei diesen Gedanken muss ich unweigerlich lächeln, löse meine Hände aber auch instinktiv vom Boden, sodass eventuell giftige Oberflächen nicht direkt mit meiner Haut in Kontakt treten. Ich knie mich hin. Das scheint mir sicherer, da meine Hose zwischen meiner Haut und dem Boden trennt. Das Wesen hat nicht gesagt, dass ich mich beeilen muss, also bewerte ich meine Umgebung in Ruhe und hochkonzentriert.
Nichts von dem, was ich sehe schüchtert mich ein, oder fördert meine Hoffnung. Die Pflanzen sehen aus wie Pflanzen, die Steine wie Steine. Ich könnte theoretisch irgendwo auf
der Erde sein, wo ich noch nie gewesen bin. Exotische Formen gibt es überall auf dem Erdball, und sie können jeden einschüchtern, der sie nicht schon kennengelernt hat. Gefahr scheint mir nach meiner Logik hier erstmal nicht zu drohen.
Ich stelle einen Fuß auf, blicke noch einmal prüfend um mich, und drücke mein Knie durch, um mich vollständig aufzurichten. Von hier oben ändert sich an meiner Einschätzung der Situation auch nichts. Ich habe früh gelernt Situationen zu analysieren. Wichtig ist im ersten Schritt die Momentaufnahme. Die Faktensammlung. Ich bin jetzt an einem fremden Ort und irgendwas versucht mich zu töten. Nein, der Indianer hat gesagt, es kann
und will mich töten. Interpretiere ich hier zu viel rein? In jedem Fall gibt es Dinge zu unterscheiden. Gutes, Wohlwollendes und Böses, Hinterhältiges. Das Wesen hatte eine Art Auftrag. Den Auftrag mich zu holen, und hierher zu bringen. Mir geht die Frage nicht aus dem Kopf, warum ich. Werde ich bestraft? Werde ich geprüft? Gibt es weitere entführte Menschen? Gibt es überhaupt Menschen, dort wo ich mich gerade befinde? Wo befinde ich mich? Bin ich noch auf der Erde? Ich hoffe es einfach aus reinem Optimismus heraus.
Meine belastbaren Informationen begrenzen sich auf ein absolutes, nicht hilfreiches Minimum. Ich werde meine Vermutungen und Fragen hier auf diesem Pfad allerdings nicht
beantworten können, und schiebe den Gedanken erstmal beiseite. Nächste Frage. Was will mich töten? Antworten finde ich am Ende des Pfades, sagte das Ding. Welches Ende? Ein Pfad führt in der Regel von einem Punkt zu einem anderen, hat also zwei Endpunkte. Etwas, was ich in meiner beruflichen Position gelernt habe: Triff eine Entscheidung und triff sie zügig. Es ist wie mit der Ersten Hilfe. Nichts zu unternehmen, ist schlimmer, als das Falsche zu tun. Eine Entscheidung zu treffen, die falsch ist, ist trotzdem besser, als keine Entscheidung zu treffen. Eine Entscheidung führt zu einer Handlung, in dessen Ablauf weitere Entscheidungen getroffen werden müssen. Man hat also an vielen folgenden Punkten die
Gelegenheit, eine vorher eventuell falsch getroffene Entscheidung wieder zu korrigieren.
Ich handele intuitiv und laufe in die Richtung, in die ich blicke, seit ich aufgestanden bin. In dieser Richtung bin ich aufgewacht, und gehe davon aus, dass dies nicht unwillkürlich so geschehen ist. Während ich mich also auf den Weg mache, versuche ich die Information über Regeln, Naivität, Handlungen und ihre Konsequenzen in einen Kontext zu bringen. Mein oberstes Ziel ist es nun also, diese Regeln zu erkennen und zu lernen. In dem Moment fällt mir mein Handy ein. Ich greife in die Tasche, fische es umständlich raus, und schalte es ein. Vergeblich versucht der
Prozessor das GPS Signal für die Googlemaps App zu identifizieren. Für die Satelliten bin ich hier nicht zu orten. Nachdem ich ebenfalls vergeblich versucht habe, eine Telefonverbindung aufzubauen, schalte ich das Gerät aus und stecke es wieder ein. Ich werde es später erneut versuchen. Neue Erkenntnis daraus ist, dass ich weder GPS, noch ein Telefonnetz habe. Ich bin also ziemlich tief im Nirgendwo. Eigentlich im Irgendwo, Nirgendwo ist im Grunde ein Paradoxon. Es gibt kein Nichts. Und selbst wenn, ich kann Dinge sehen, also kann ich nicht im Nichts sein, ergo nicht im Nirgendwo. Ich merke, wie ich, bedingt durch die ungewöhnliche Situation beginne, blödsinnige philosophische Diskussionen mit mir selbst zu
bestreiten. Fakten: Eine an die moderne Zivilisation angeschlossene Stadt in der Nähe zu finden scheidet damit schmerzlicherweise erstmal aus.
Der Pfad führt über eine leichte Anhöhe. Ich sehe den höchsten Punkt, und von meiner Position muss ich noch etwas nach oben schauen, um über die Kuppe blicken zu können. Ich kann nichts als weiten Himmel erkennen. Das, was dahinter liegt muss also entweder flach sein, oder hinter der Anhöhe geht es weiter runter. Mein Bauch versucht zwischen einer interessierten Spannung und Neugier, sowie dem Unwohlsein und Beklemmung zu sortieren. Was erwartet mich hinter der Kuppel? Finde ich dort die Regeln,
oder einen Ausweg? Finde ich überhaupt irgendetwas? Es gibt Situationen, in welchen man sich in einer nicht zufriedenstellenden Situation wohler fühlt, als in Anbetracht der möglichen Optionen. Mir fällt das Beispiel der Karriereentwicklung ein. Viele Menschen sind mit ihrer aktuellen Arbeit im höchsten Maße unzufrieden. Entweder sind es die Aufgaben, die Vorgesetzten, die Perspektiven oder das allgemeine Arbeitsumfeld. Nicht jeder hat jedoch den Mut, sich aus seiner unglücklichen Situation selber zu befreien, durch einen Jobwechsel zum Beispiel. Zu groß ist das Risiko vom Regen in die Traufe zu geraten, oder in Bewerbungsgesprächen nicht so gut abzuschneiden, wie es der Betroffene sich erhofft. Das schürt Ängste, und viele
Menschen können oder wollen sich diesen Ängsten nicht stellen. Sie bleiben also lieber in der ungeliebten, aber vertrauten Arbeitsumgebung. Nun stehe ich an diesem Scheideweg der Entscheidungen. Ich weiß, es gibt hinter mir nichts. Meine einzige Option ist nach Vorne. Nach Vorne macht aber Angst. Zwickmühle. Meine Gedanken halten mich aber nicht davon ab, meinen Weg weiter zu beschreiten. No Risk no Fun oder No Pain no Gain. Letzteres wäre angesichts meiner Kopfschmerzen und Anspannung wohl der passendere Slogan.
Noch bevor ich am höchsten Punkt angelangt bin, kann ich sehen, dass ein paar Meter dahinter ein enger Schacht in die Erde hinab
führt. Wie ein überdimensionaler Fuchsbau. Der Pfad, den ich entlanggehe endet dort auch. Endstation. Hinter dem Schacht ist nur noch ein weites Meer aus dem vertrockneten grasartigen Zeug. Wenn ich ein wenig mehr Interesse an Pflanzen hätte, könnte ich das Zeug vielleicht sogar einordnen. Ist es ein Gras oder eher ein Baumgewächs? Ich habe mal ein Ananasfeld gesehen. Kurioserweise glauben die meisten Menschen, Ananas wächst an Bäumen. Das ist ein Irrglaube. Diese Früchte wachsen wie Salat auf dem Boden. Ein Ananasfeld ist ein faszinierender Anblick, da über weite Strecken nur die drahtigen Blätter zu sehen sind. Das kommt dem, was ich hier vor mir sehe tatsächlich noch am nächsten. Ich gehe am Schacht
vorbei und betrachte die Blätter oder Grashalme aus der Nähe. Sie wirken ledrig und dick. Das spricht meines Wissens dafür, dass diese Pflanzen langen Trockenperioden und hohen Temperaturen standhalten müssen. Die ledrige Oberfläche verhindert das schnelle Austrocknen. Ich nähere mich den Blättern ein wenig mehr und konzentriere mich. Ich höre etwas. Ein Rasseln. Es klingt wie ungekochter Reis in einer PET Flasche die geschüttelt wird. Ich zucke zusammen und stehe mit einem Satz wieder aufrecht. An den Rändern der Blätter sind kleine Stacheln oder beinahe Zähne. Sie bewegen sich, und das Reiben aneinander erzeugt dieses Rasseln. Mit viel Fantasie klingt es wie ein wütendes Fauchen. Ich mache einen großen Schritt
zurück, und versichere mich, dass ich wieder auf dem Pfad vor dem Schacht stehe und nicht mitten in die Blätter reintrete.
Der Schacht ist eher ein Loch, und führt in einem flachen Winkel direkt unter die Erde. Ein paar Meter kann ich in ihn hineinsehen, dann wird es so dunkel, dass von außen nicht zu erkennen ist, wie der Tunnel weiter verläuft und vor allem wie weit. Er wirkt nicht wie eine sandige instabile Höhle, sondern eher wie in den massiven, steinigen Boden getrieben. Ich halte kurz die Luft an, um selber keine Geräusche zu erzeugen und konzentriere mich auf das Loch. Ich habe keine Lust da gleich reinzukrabbeln, und mich von irgendetwas da drin überraschen zu lassen.
Stille. Sie ist keine Sicherheit, aber im ersten Anlauf gibt es keine Aktivitäten da drin. Ich knie mich vor die Öffnung und taste vorsichtig den Rand ab. Er scheint wie vermutet massiv zu sein. Da der Pfad hier endet, muss ich hier wohl die erste Unterscheidung zwischen Naivität und Logik machen. Es wäre naiv, jetzt in den Schacht hineinzukriechen. Es gibt aber aus logischer Sicht keine andere Option, wenn ich weiter will. Verfluchter Indianer mit seinen dämlichen Hinweisen. Ich blicke mich um, und versichere mich, dass ich nichts auf der Oberfläche übersehen habe. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als den Tunnel weiter zu erforschen. Das stimmt nicht. Ich könnte auch einfach wieder zurücklaufen, und sehen, wohin mich der Pfad in der anderen Richtung
führt. Ich wäge diese Option ab. Es spricht am Ende nicht viel dafür den Pfad wieder zurück zugehen. Ich habe überhaupt keine Idee, wo ich mich derzeit befinde, und ich glaube auch nicht daran, dass mich das andere Ende des Pfades in eine bessere Entscheidungs- situation bringen wird. Wenn es überhaupt ein anderes Ende des Pfades gibt. Mein Bauchgefühl drängt mich förmlich dazu, hierzubleiben und mein Glück mit diesem Schacht zu versuchen. Ich lasse mich auf meine Knie ab, und taste mich ganz vorsichtig und langsam mit meiner vollen Armlänge in den Tunnel. Ich suche nach Griffen, Nischen, Türen oder allem was hilfreich oder gefährlich sein könnte.
Am Eingang des Schachtes ist jedoch nichts Hilfreiches zu erspüren. Mein Kopf ist nun vollständig im Loch verschwunden und mich überkommt ein Gefühl der Beklemmung. Ich sehe nicht mehr, was sich hinter mir abspielt, und mir schießen direkt Bilder durch den Kopf, wie sich irgendetwas von hinten an mich heranschleicht. Ich muss tiefer hinein. Das Loch übt eine ungeheure Anziehungskraft auf mich aus. Es saugt mich förmlich immer weiter in die Dunkelheit. Noch fällt genug Tageslicht hinein, sodass ich die nächsten Meter noch gut erkennen kann. Mein Selbsterhaltungstrieb schreit, ich soll wieder aus dem Loch, mein Bauch fordert mich allerdings auf, weiter hinab zu steigen. Auf den nächsten Metern verändert sich nichts an den Wänden des
Tunnels, und ich frage mich immer lauter, ob es tatsächlich eine gute Idee ist, weiterzugehen. Der Tunnel führt leicht bergab und ich versuche einzuschätzen, wie leicht und schnell ich im Notfall wieder rauskommen kann. Das Ergebnis dieser Abwägung ist wenig erfreulich. Ich müsste auf allen vieren rückwärts bergauf krabbeln. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, zu erkennen, dass das weder leicht noch schnell passieren wird. Ich schüttle diesen Gedanken beiseite, er ist im Moment nicht hilfreich.
Meine Knie sind bereits wund vom Bergabkrabbeln und beginnen allmählich lästig zu schmerzen. Der Boden ist hart und nicht glatt. Feine Rillen ziehen sich wie eine
Spirale durch den Stein. Zu Beginn konnte ich sie noch sehen, jetzt spüre ich sie nur noch unter meinen Händen und auf den Kniescheiben. Es wirkt, als ob der Tunnel mit einer gewaltigen Bohrmaschine gegraben wurde. Mittlerweile befinde ich mich so tief drin, dass das Sehen immer schwerer fällt. Das Tageslicht wird nur noch an wenigen Unebenheiten der felsigen Wände reflektiert und die Dunkelheit hält immer mehr Einzug. Das wenige Restlicht taucht den Gang in ein fahles, gräuliches Braun. Da fällt mir wieder mein Telefon ein. Die meisten Telefone verfügen mittlerweile über ein Blitzlicht, welches als Taschenlampe verwendet werden kann. Da ich mich nur auf allen vieren bewege, gestaltet sich das Herausholen des
Telefons aus der Tasche etwas schwierig durch die abgewinkelten Beine. Ungelenk biege und drehe ich meine Arme, um an die Tasche zu gelangen. Meine Ellenbogen schrammen am Fels, und ich spüre, wie sich die Haut unter meinen Ärmeln leicht aufreibt. Ich fluche leise vor mich hin. Diese verdammte Höhle ist so eng, dass ich mich jetzt sogar derart verkeile, dass ich mich für einen Moment überhaupt nicht mehr bewegen kann. Ich schreie meinen Frust laut in den Tunnel, und bin überrascht wie wohltuend befreiend diese Reaktion ist. Durch das Anspannen des gesamten Körpers gewinne ich plötzlich ein paar Millimeter an den Armen, und kann mich wieder befreien. Wieder zurück in die Krabbelposition. Wie komme ich an meine
Tasche? Ich versuche mir bildlich vorzustellen, wie und in welcher Position ich mich im Tunnel befinde. Vor meinem inneren Auge gehe ich diverse Bewegungsabläufe durch, bis ich der Überzeugung bin, eine Möglichkeit ausgemacht zu haben. Meine Einschätzung ist nicht ganz falsch, aber wieder verkeilen sich meine Arme an den Wänden und der Decke des Ganges. Am Ende siege ich jedoch über Winkel und Physik und schalte das Telefon ein. Zum Glück ist der Akku noch einigermaßen voll. Mit einem schnellen Griff in das Einstellungsmenü aktiviere ich die Lampe, und um mich herum zeichnen sich die Rillen und Linien im Tunnel ab. Sie werfen gespenstische Schatten und zucken mit jeder feinen Bewegung meiner Hand, in welcher ich
das Telefon halte. Ich fahre die Rillen mit meinen Fingern ab. Der Stein ist kalt und von einer leichten Pulverschicht überzogen, welche ich mit den Fingerspitzen abreibe. Im Schein der Lampe glitzert der Staub ein wenig, und ich folge meinem spielerischen Impuls, den Staub von meinen Fingerkuppen zu pusten. Es entsteht ein leichter, schimmernder Schleier.
Mit kindlicher Begeisterung beobachte ich, wie sich die funkelnden Partikel im Raum bewegen und langsam zu Boden sinken. Es kommt mir so vor, als ob ich bereits seit Stunden hier bin. Ich glaube aber nicht, dass es in Wirklichkeit nicht mehr als dreißig Minuten sein können. Ich reibe meine Fingerspitzen aneinander, um sie vollständig
von dem Staub zu befreien, und staune nicht schlecht, als der Staub durch den Druck zu leuchten beginnt. Ein schönes, warmes Blau. Meine Fingerspitzen leuchten jetzt wie der Finger von ET. Ich muss spontan lachen und sage laut „ET nach Hause telefonieren“ in den dunklen Gang vor mir. Diese Reaktion ist der Situation nicht ganz angemessen, zeigt mir aber auch, wie angespannt ich innerlich tatsächlich bin. Ich gebe Anspannung nicht gerne zu. Weder Fremden, noch mir selbst gegenüber. Dann holt mich meine Situation wieder ein. Wenn der Staub leuchtet, wenn ich ihn zwischen den Fingern reibe, müsste er auch leuchten, wenn ich ihn an der Wand reibe. Eine natürliche Lichtquelle würde mir Akkulaufzeit meines
Handys sparen. Ich strecke meinen Finger aus, und drücke ihn fest in die Steinwand. Mit einer langen Bewegung zeichne ich eine gerade Linie in den Staub und verdeckte die Lampe meines Telefons. Nichts. Keine Reaktion im Staub an der Wand. Ungläubig ziehe ich eine zweite Linie. Diesmal mit mehr Druck. Wieder nichts. Ich führe meine Fingerspitze zurück vor mein Gesicht, und reibe die Fingerspitzen. Und da ist das Leuchten wieder. Mein Kopf beginnt zu arbeiten. Wieso funktioniert es an den Fingern, aber nicht an der Wand? Wo ist der Unterschied? Ich komme zu keiner zufriedenstellenden Antwort. Vielleicht liegt es an der Körperwärme und den kalten Wänden? Trägt meine Körperwärme in den Fingern zu
der Reaktion bei? Klingt erstmal logisch. Klingt logisch genug, um es nicht weiter zu verfolgen. Ich kann derzeit keinen Nutzen daraus ziehen, und konzentriere mich wieder auf meinen Weg.
Je weiter ich in den Tunnel vordringe desto unruhiger werde ich, da ich keine Regeln finden kann, welche der Indianer am Ende des Weges in Aussicht gestellt hat. Mit einem Mal schießt mir ein Gedanke durch den Kopf. Ich verharre an der Stelle, und betrachte die Rillen nochmal genauer im Schein meiner Lampe. Ich glaube in meiner visuellen Erinnerung etwas erkannt zu haben. Ich kneife die Augen zusammen und hoffe ein Muster an der Wand ausmachen zu können. Vielleicht
gibt es kein Muster zu entdecken, aber auf der anderen Seite könnten hier auch andere Hinweise versteckt sein. In meinem Kopf projizieren sich Wandmalereien aus der Steinzeit, und plötzlich keimt in mir ein Indianer Jones Gefühl auf. Irgendetwas muss hier sein. Ich will nicht glauben, dass ich in die falsche Richtung gegangen bin. Und wenn ich tatsächlich richtig bin, müssen die Regeln hier irgendwo sein. Das Wesen sagte klar und deutlich, am Ende des Pfades. Ich neige den Kopf erst zur einen, dann zur anderen Seite. Es fühlt sich zum Greifen nah an. Wenn ich hier richtig bin, muss ich bereits auf dem Weg hinter mir etwas übersehen haben. Ich muss mich umdrehen. Leichter gesagt als getan. Bereits beim
Herausfischen meines Telefons habe ich mich verkeilt und gemerkt, wie eng der Gang ist. Wie in Gottes Namen soll ich mich jetzt auch noch umdrehen? Gar nicht. Ich nehme mein Handy und schalte neben der Lampe die Kamerafunktion ein. Jetzt kann ich hinter mich sehen, ohne mich drehen zu müssen. „Ben, du bist ein schlaues Kerlchen“, murmle ich selbstaufmunternd leise. Ich drehe und kippe das Telefon in meiner Hand und versuche dabei immer das Display im Blick zu behalten. Dann erkenne ich es. Eine mathematische Gleichung. Es ist eine sehr einfache Darstellung, und überdimensional groß, weswegen sie mir wohl nicht gleich beim Betrachten der Wände aufgefallen ist. Durch die Krümmung des Gangs und der Größe der
Darstellung kann ich davon kein Foto machen. Ich entscheide mich aber, die Gleichung möglichst originalgetreu in meine Notiz-App zu übertragen. Ich vermute, ich habe irgendeinen Hinweis gefunden. Hoffnung keimt leise und zart in mir auf, meine Stimmung steigt leicht. Ich habe damit sicherlich noch keine Lösung zu meinem Problem erhalten, aber ich habe etwas, mit dem ich arbeiten kann. Es ist so wichtig, den Kopf beschäftigt zu halten. Leerlauf in einer Krisensituation ist nicht hilfreich und tendenziell gefährlich. Und ich würde meine Situation definitiv als Krisensituation betrachten. Rückwärts kriechend arbeite ich mich Meter für Meter durch den Gang zurück und finde vier weitere kryptische Symbole. Ich verstehe sie nicht gleich,
daher nehme ich alles in die Notizen auf, was ich erkennen kann. Der Tunnel ist mir unheimlich, ich möchte hier so schnell wie möglich wieder raus. Mit den Notizen kann ich später noch arbeiten, wenn ich mich sicherer fühle.
Die Röhre zieht sich noch ein Stück, und macht eine langgezogene Kurve. Der Weg fällt immer steiler ab, und an einem gewissen Punkt verliere ich durch die extreme Neigung des Weges die Haftung am Boden und fange an zu rutschen. Ich habe die Schrecksekunde damit verbracht instinktiv nach Halt zu suchen. Erfolglos. Ich bin der Schwerkraft ausgeliefert, und versuche mich so breit wie möglich zu machen. Mehr Fläche, mehr Reibung. Ich
hoffe ich kann meinen Rutsch-Sturz dadurch etwas abbremsen. Vor mir erscheint ein heller Punk, ich meine das Ende des Tunnels zu erkennen, während ich immer mehr an Fahrt gewinne. Dann dringen Stimmen durch die Öffnung zu mir hoch. Ich spüre noch wie die Panik in mir aufsteigt, während ich unaufhaltsam auf das hell leuchtende Loch am Ende des Tunnels zurase.