Ich zucke zusammen und mache vor Schreck einen großen, ruckartigen Schritt zurück. Die leichte Brise, welche mir vor wenigen Augenblicken noch den Rücken erfrischt hat, flaut spürbar ab. Sie wird ersetzt durch ein warmes, nervöses Kribbeln, welches sich von meinen Nieren aus über den gesamten Rücken ausbreitet. Der alte Indianer steht scheinbar unbeeindruckt noch an derselben Stelle, regungslos und mit unbeweglichen, hängenden Gesichtszügen. Sein Blick ist noch
immer fest und tief in meinen Augen verankert. Es fühlt sich an, als ob er sich mitten in meinem Kopf befindet. Ich kann regelrecht spüren, wie er sich Zugang zu meinem Gehirn, meinen Gedanken, meiner Persönlichkeit verschafft. Wie hypnotisiert starre ich ihn fasziniert an. Ich bin nicht in der Lage, mich von der Stelle zu bewegen. „Nimm Abschied.“ Seine Stimme ist rau und unfassbar leise, beinahe nur ein Rauschen im Hintergrund. Aber seine Worte schreien so laut, dass er gar nicht lauter sprechen müsste. Gänsehaut zieht sich über meinen Nacken bis ans Steißbein. Schock und Faszination lähmen und
fesseln mich gleichermaßen, als mir bewusst wird, dass er zu mir spricht, ohne dabei den Mund zu öffnen. Es scheint, als ob er tatsächlich eine Verbindung durch meine Augen direkt in meinen Kopf, in mein zentrales Nervensystem aufgebaut hätte. Seine Worte irritieren mich, und ich bin zu keiner Reaktion in der Lage. Stattdessen starre ich ihn weiter ungläubig an. „Nimm Abschied“, wiederholt er in seiner leisen, aber tiefen und durchdringenden Stimme. Mir steht der Mund weit offen und mir fällt nicht eine einzige angemessene Reaktion ein, um mich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ich bemerke
jetzt auch, dass nicht nur der Wind verschwunden ist. Alles ist vollständig verschwunden, die Wärme der Sonne, die Geräusche der Natur, der Geruch der Felder, das Gefühl zu existieren. Mir kommt es so vor, als ob ich in eine künstliche Umgebung gesetzt wurde. Vielleicht befinde ich mich ja tatsächlich in irgendeiner Virtual Reality Umgebung, oder man macht gerade irgendwelche Gehirnexperimente mit mir. Habe ich einen Schlaganfall? Fühlt sich das so an? Man hört und liest viel über die Nahtoderfahrungen von Menschen. Darin scheint alles möglich zu sein. Meine Vernunft hält mich davon ab,
völlig durchzudrehen und mich meinen Fantasien hinzugeben. Ich bin nicht tot und ich habe keinen Schlaganfall, rede ich mir still ein. Allerdings tritt langsam ein Schwindelgefühl auf, welches mich immer dann überkommt, wenn ich von einer Situation hoffnungslos überfordert bin. Diese hier ist offensichtlich eine solche. Je länger ich diesen vermeintlich Eingeborenen anstarre, desto mehr erkenne ich, dass es sich hier nicht um einen Indianer handelt. Der Bogen und die markante Bemalung in seinem Gesicht und auf seinem nackten, ledrigen Oberkörper suggerierten im ersten Moment nur das scheinbar
Offensichtliche. Das Gehirn versucht alles, was es sieht, mit etwas Bekanntes zu verknüpfen. Das Gehirn braucht Strukturen und übernimmt dabei viel unbewusste Arbeit, um den Verstand zu schützen. Die faltigen Züge seines Gesichtes und die geröteten Augen wirken, wie die eines Menschen, der viel Zeit ungeschützt in der Sonne verbringt. Seine Augen sind kreisrund mit schwarzer Farbe umstrichen. Wenn er sie schließt, sieht man nur zwei gewaltige, schwarze Kreise. So, wie zwei weit aufgerissene, leere Augenhöhlen. Aber seine Gesichtszüge haben nichts
Indianisches. Irgendetwas fehlt, aber ich kann es nicht greifen. Es macht mich verrückt, zu wissen, dass es etwas nicht stimmt, aber nicht in der Lage zu sein, es zu benennen. Von den faltigen, knorpeligen Ohren läuft jeweils ein dicker schwarzer Strich über den Hals, die Schulter, den Arm hinunter und verästelt sich hinter dem Handgelenk in zwei feinere Linien. Eine führt bis in die Spitze des Zeigefingers, die andere in die des Ringfingers. Der dicke Strich ist gut eine Hand breit und wurde vermutlich auch mit einer flach aufliegenden Hand aufgetragen. Auf der Brust trägt er einen großen, schwarzen Kreis, dessen Rand ebenso dick ist, wie
die Streifen an den Armen. Das Innere ist schneeweiß ausgefüllt. Die Farbe wirkt trocken und ist mit Rissen durchsetzt, wie man sie in ausgetrockneten Wüstenflächen häufig sieht. Eine abgegriffene Lederhose bedeckt seine Beine. Anstelle eines Gürtels wird sie von einer groben Kordel zusammengehalten. Auch seine Schuhe sind aus Leder und ebenfalls von einfacher Machart. Ich kann noch immer nicht ausmachen, was mich am Gesamtbild dieses Mannes irritiert. Mal abgesehen von der Tatsache, dass hier ein Halbnackter mitten auf den Äckern steht und mich anstarrt. Dann sehe ich es plötzlich. Er hat keine Nase. Die linke
Wange geht einfach nahtlos in die rechte Wange über. „Wie kann das sein?“, flüstere ich meine Verwunderung heraus, ohne meinen Blick von ihm zu nehmen. „Wie kann das sein?“. „Ich gewähre dir bis morgen, wenn die Sonne am höchsten steht. Sei bereit, mit mir zu kommen“. Seine sonore Stimme dröhnt in meinem Kopf. Er spricht nun nicht mehr leise, sondern wie durch einen bei mir im Kopf installierten Hochleistungslautsprecher. Mein Schädel funktioniert wie eine Resonanzkammer. Es donnert und hämmert in diesem viel zu kleinen Raum und zwingt mich dazu, unaufhörlich zu
blinzeln. Zu viele Informationen, die ich nicht schnell genug verarbeiten kann. „Du gewährst mir einen Scheiß“, platzt es dann aus mir heraus. Endlich, der Knoten ist gelöst und ich bin endlich wieder in der Lage zu reagieren. „Ich glaube, wo ich hingehe und wohin nicht, entscheide noch immer am besten ich selber, oder?“ Gut so, jetzt sind auch das Selbstbewusstsein und mein Selbsterhaltungstrieb wieder mit an Bord. Seines hat ihn jedoch nie verlassen und meine Reaktion beeindruckt ihn nicht im Geringsten. „Mir ist egal, was du jetzt machst. Am besten drehst du dich um, und lässt mich wieder in Ruhe. Dann will ich mal so
tun, als ob das alles hier nicht geschehen ist“. Meine Stimme zittert und ich versuche mit mehr Kraft und Lautstärke darüber hinwegzuspielen. „Kannst von Glück reden, dass du mich mit deinem beschissenen Pfeil nicht getroffen hast, dann wäre ich nämlich nicht mehr so entspannt. Also los jetzt. Verschwinde, sonst muss ich doch die Polizei rufen“. Seine einzige Reaktion besteht darin, mich weiter bohrend anzustarren. „Nimm Abschied. Ich hole dich, wenn die Sonne am höchsten steht“. „Das reicht jetzt, verzieh dich du Spinner. Letzte Chance, sonst…“, ich krümme mich vor Schmerz. Es fühlt sich an, als ob mein Blut kochend durch
meine Adern blubbert. Während ich versuche wegzulaufen, fühle ich zum ersten Mal in meinem Leben wahrhaftige Angst. Dann wird alles schwarz.