Beim Blick in den Rückspiegel erhascht
Helene für einen kurzen Moment die Andeutung eines Lächeln. Ein bemühtes,
verkrampftes Lächeln und ein fast unmerkliches Nicken als Antwort auf ihre Frage:
"Freut sich denn dein Teddy, dass er verreisen darf?"
Das Kind auf dem Rücksitz, dessen Aussehen dem des quirligen Michel aus Lönneberga ähnelt, hat seit Fahrtbeginn
keine fünf Worte gesprochen.
Trauma und Dissoziation.
Helene kennt die Fachbegriffe, die in seiner Akte stehen.
Rückzug, Vermeidungshaltung.
Und sie weiß auch, was der Junge
mitgemacht hat, wahrscheinlich ist es aber nur die Spitze eines Eisbergs, der zufällig bekannt geworden ist.
Der Blondschopf starrt vor sich hin.
Bald zweihundert Kilometer haben sie so hinter sich gebracht. Helene legt nach, bevor sein Gesichtsausdruck noch weiter einfriert:
"Sam, musst du oder dein Teddy nicht mal Pipi machen? Schau, da vorne kommt ein Rasthof."
Er zeigt keinerlei Reaktion. Doch die Ausfahrt taucht schneller auf als erwartet und Helene fährt ab. In Eingangsnähe findet sie einen Parkplatz, dreht sich zu
ihm um und sieht, wie er die Sachen, die ihm mitgegeben wurden, an seinen
kleinen Körper presst.
Er hält alles fest.
Krampfhaft.
Nicht nur den Teddy, auch den Ärmel seiner Jacke und die CD mit den Gute-Nacht-Geschichten, die ihm die Leiterin der Notunterkunft zum Abschied geschenkt hat. Durch einen Henkel seines
blauen Kinderrucksacks hat er den linken Arm geschoben. Sams Körpersprache ist eindeutig.
Er will nicht aussteigen.
Auch ihre mehrmaligen Nachfragen und die Aussicht auf eine Limonade oder ein Schokoladeneis im Rasthofrestaurant bringen keinen Erfolg.
Helene gibt auf, schließt die rückwärtige
Autotür und nimmt sich noch ein paar Minuten Zeit, um an der frischen Luft durchzuatmen.
Er misstraut mir, schießt es ihr durch den Kopf. Es sollte sie nicht verletzen,
tut es aber. Gleichzeitig macht es ihr
bewusst, wie armselig und unbrauchbar
ihre sogenannten pädagogischen Möglichkeiten im Vergleich zum Grad
seiner Verletztheit sind. Denn ist sein Misstrauen nicht eine ganz natürliche Reaktion? Immerhin hat er soeben alles verloren, was bisher sein Leben ausgemacht hat. Auch wenn es ein beschissenes Leben war.
Vernachlässigt und angstvoll.
Es war das, was er kannte.
Es war seine Wirklichkeit, nach der er
seine Reaktionen ausgerichtet hat, um zu überleben.
Alles eingebrannt in die Seele.
Ganz tief und unauslöschlich.
Was soll so ein Kind schon von der Zukunft erwarten?
Am besten nichts!
Es wird sich hüten, denn es weiß, wie Enttäuschung sich anfühlt. Ein Kind mit seiner Biografie hat nach vierjähriger Lebenszeit gelernt, dass es auf dieser Welt nichts umsonst gibt.
Nicht mal ein Schokoladeneis.
Und schon gar kein solches Leben, wie
es der Michel in Lönneberga hatte. ´
Dort, wo die höchste Strafe, die man
bekommen konnte, die Verbannung in den Schuppen zum Schnitzen von Holzmännchen war. Dort, wo der Vater schon kurze Zeit später wieder mit Stolz in seiner Stimme sagte:
"Mein Michel, mein Junge, das ist schon einer!" und ihm dabei liebevoll die blonde Mähne aus der Stirn strich.
Nein, so war das Leben nicht!
Jedenfalls nicht bei Sam.
Seine Lektion war: Je weniger stark man sich etwas wünscht, desto weniger schmerzt es, es nicht zu bekommen. Darum wird er alles, was ihm künftig begegnet, jeden Menschen, der sich um ihn bemüht, erst mal durch ein Raster ziehen. Durch eine Art Scanner, der ihm
die Gefahrenstufe anzeigt und ihn warnt:
Lass dich nicht darauf ein!
Schütze dich!!!
Da ist es egal, denkt Helene, ob ich ihm beteuere, dass er nun in Sicherheit ist und keiner mehr eine noch glimmende
Zigarette auf seinem Arm ausdrücken wird. Dass ich und seine neue Familie
alles tun werden, damit er über seine schlimmen Erfahrungen hinweg kommt und er irgendwann zu einer halbwegs
unbeschwerten Kindheit zurückfinden kann.
Sams neue Familie?
Helene sieht sie in Gedanken vor sich. Wie sie ungeduldig seine Ankunft erwarten.
Sie freuen sich so auf den Kleinen.
Sind hochmotiviert für ihre neue Aufgabe, haben Schulungen durchlaufen und sich intensiv mit der bevorstehenden
Veränderung ihrer Familienstruktur
auseinandergesetzt.
Aber wird das reichen?
Was ist, wenn sie trotz der guten Vorbereitung die Erwartung haben, dass Sam ihre Liebe und Zuwendung aufnehmen kann und sie irgendwann zu einer ganz normalen Familie werden? Kann es für ein solches Kind überhaupt noch einmal so etwas wie Normalität
geben? Was wird sein, wenn seine jetzige Zurückgezogenheit in Aggressivität
umschlägt? Wenn es uns allen zusammen
nicht gelingt, sein widersprüchliches Verhalten richtig zu deuten und dann falsche Entscheidungen treffen?
Die Fragen schlagen in einer Frequenz auf Helene ein, die es ihr unmöglich macht, halbwegs vernünftige Antworten dazwischen zu schieben. Obwohl sie weiß, dass "es" in wenigen Fällen auch gelingen kann, gewinnt der Gedanke Oberhand, dass sie, die Fachleute, doch alle miteinander nichts anderes sind, als
hilflose Stümper, die Schicksale neu bestimmen wollen und dabei an Schrauben und Schaltstellen drehen, ohne dafür den passenden Schraubschlüssel zu besitzen.
Von einem nahegelegenen Spielplatz
schallt Kindergeschrei und der mahnende
Ruf eines Vaters. Helene schaut auf ihre Armbanduhr. Sie müsste wohl jetzt die Fahrt fortsetzen, aber vernünftigerweise sollten sie beide hier die Gelegenheit, die Toilette aufzusuchen, nicht ungenutzt lassen.
"Sam, lass uns jetzt noch schnell zur Toilette gehen."
Sie erntet nur ein Kopfschütteln, bleibt aber eisern.
"Doch, i c h muss jetzt unbedingt. Und ich kann dich hier nicht alleine lassen."
Widerwillig lässt er sich abgurten, ist aber nicht bereit, Rucksack, Jacke, CD und Teddy loszulassen. Also marschieren sie voll bepackt über den Platz, hinein
ins Damen-WC. Er muss jetzt doch, lässt sich aber nicht helfen und will alles alleine machen. Helene fügt sich und wartet vor der Türe. Die Toilettenfrau beobachtet sie, lächelt amüsiert und ruft:
"Ja, ja, diese Kinder heutzutage."
Wenn sie wüsste, denkt Helene, lächelt gequält mit einem Stirnrunzeln zurück.
Wieder beim Auto, bemerkt Helene beim Angurten des Kindes, dass ihm ein paar Tränen über sein blasses Gesicht kullern. Dabei verzieht er keine Miene, gibt keinen weinerlichen Ton von sich.
"Sam, was ist?"
Sie kniet sich vor ihn hin und versucht, ihn in die Arme zu nehmen. Es hat
keinen Sinn, Sam macht sich stocksteif.
Nur ein kleines Streicheln seines Handrückens lässt er über sich ergehen.
Zurück auf der Autobahn sucht Helene im Rückspiegel wieder den Blickkontakt.
Sam hat seine Unterlippe nach vorne geschoben, er ist jetzt puterrot im Gesicht, dessen Ausdruck irgendwie panisch wirkt.
Helene erschrickt.
"Sam, tut dir etwas weh?"
"Nicht fahren!", stößt er hervor.
"Warum nicht?"
"Teddy sterben!"
Helene fährt auf den Seitenstreifen.
Teddy? Wo ist Teddy? Er ist nicht da.
Sam hat ihn wohl in der Toilettenanlage vergessen.
Was tun? Die Familie wartet auf das Kind. Ralph wartet auf sie, mit Karten für`s Kino. Er wird enttäuscht sein, wenn sie nicht rechtzeitig zu Hause ist.
Doch dann erkennt sie die Chance dieser Situation.
"Nein, wir lassen Teddy doch nicht alleine zurück. Wir werden ihn retten, Sam. Du bist ja sein Freund und ich will dir helfen dabei."
Helene fährt bis zur nächsten Ausfahrt, dann den Zubringer zurück in die
Gegenrichtung. Sie spürt, wie ein wenig ihre Zuversicht zurückkommt. Er sorgt sich um seinen Teddy. Er nimmt dieses
Gefühl wahr. Was für ein gutes Zeichen. Seine Bindungsfähigkeit ist nicht ganz erloschen. Wenn es gelänge, dieses zarte Pflänzchen wieder wachsen zu lassen...
Nein, man darf das nicht erwarten.
Nicht bei dieser Biographie.
Aber wünschen, wünschen darf man.
Oh, wie sehr sie ihm das wünscht.
Nur ein klein bisschen was von Michels unbeschwertem Lönneberga.
Irgendwann.