Titel
Die Narben, auf meinem Arm, sind alles, was ich habe. Mit fünfzehn habe ich damit angefangen. Für jedes Mal, wenn mir mein Vater wieder an den Kopf klatschte, das ich ein Unfall bin, ging ich aufs Klo und hab mich geritzt. Er sah meine Narben nicht.
Meine Schwester hat oft ihre Laune an mir ausgelassen. Immer wieder hatte ich mich gefragt, ob ich ihr überhaupt was recht machen kann. Nicht selten trug ich blaue Flecken davon. Ich tötete den Schmerz, in dem ich mich ritzte. Niemand sah, das sie mich schlug und niemand sah meine
Narben.
Während meiner Schulzeit wurde ich öfter gemobbt. In den Pausen ging ich deshalb aufs Klo und setzte die Rasierklinge an. Niemand sah meine Narben.
Nach Abschluss meiner Lehre war ich fast zwanzig. Ich hatte starken Bartwuchs. Auch an meinen Beinen und anderen Körperstellen sprossen die Haare. Sogar als ich dann Vater war, sagte sie immer noch zu mir, das ich erst noch ein Mann werden will. Die Rasierklinge schnitt tief. Doch nicht tief genug. Niemand sah meine Narben.
Ich hatte nicht viele Beziehungen. Und wenn ich mal das Glück hatte, das sich
eine Frau für mich interessierte, dauerte es nicht lange, bis sie wieder das Weite suchte. Aber ich liebte intensiv. Um so größer war der Schmerz, wenn sie mich dann verließ. So sehr ich mich auch dagegen wehrte, die Rasierklinge war stärker. Niemand sah die Narben.
Mir wurde oft gesagt, das ich hässlich bin. Von Kindern, von Gleichaltrigen, von Frauen, so wie von Männern. Das fegte meinen allerletzten Funken Selbstbewusstsein weg und ich ritzte mich. Niemand sah meine Narben.
Jedes mal, wenn mir die Mutter meiner Kinder, unsere Kinder vorenthielt, wurde ich traurig und ritzte mich in den Oberschenkel. Niemand sah meine
Narben.
Immer wieder verglich mich meine Großmutter mit meinem Cousin. Wir waren etwa im Selben Alter. Ich ging in eine Realschule und hatte einen Dreierdurchschnitt. Er ging auf eine Förderschule und brachte vermehrt Zweien nach Hause. Sie wollte nicht verstehen, das das Niveau sehr unterschiedlich ist. Ich ritzte mich. Sie sah nie meine Narben.
Immer wieder jammern mir die Leute die Ohren voll, berichten mir endlos von ihren Problemen. Wenn ich versuche zu reden, hört mir keiner zu. Deshalb ritze ich mich. Und niemand sieht meine
Narben.
Ich glaubte an das Gute im Menschen. Immer wieder fiel ich damit auf die Fresse und ritzte mich. Und niemand sieht meine Narben.
Meine Haut ist mein Tagebuch. Jede Narbe steht für eine Verletzung, die mir zugefügt wurde; ob körperlich oder seelisch. Ich bekämpfe Schmerz mit Schmerz. Und so lange ich noch den Schmerz fühle, den ich mir selbst zufüge, weiß ich, das ich noch lebe. Ohne Selbstbewusstsein und ohne Sinn.