HELLA
Hella kommt mit dem Zug am späten Nachmittag in der Ostseestadt an und fährt mit dem Taxi in das kleine Hotel in der Hafenstraße. Das Zimmer, das ihre Firma für sie gebucht hat, ist eines von der besseren Sorte, aber ansonsten identisch mit den vielen Hotelzimmern, in denen Hella seit Beginn diesen Jahres genächtigt hatte. Bett, Schrank, Sessel, Schreibtisch mit integrierter Minibar, darüber der Fernseher. Kein Ort zum Koffer auspacken, nur ein Raum zum Kommen und Gehen. Dazwischen schlafen, am nächsten Morgen Kunden besuchen, nach einem kleinen Imbiss in irgendeinem neonbeleuchteten
Kaufhausrestaurant schnell zurück ins Hotel, die Abschlüsse listen und an die Zentrale melden. Danach ins Bett, um am nächsten Morgen möglichst
ausgeschlafen zu sein. Denn dann ging es
weiter in die nächste Stadt, zum nächsten
Hotel, zum nächsten Kunden.
Sie hatte es so gewollt, nach dem großen Unglück. Weg, nur schnell weg von allem, was ihr Leben ausgemacht hatte und was es so nicht mehr gab. Weil es Steffen nicht mehr gab, weil es Alina nicht mehr gab. Weil alles, was in irgendeiner Weise für Hellas Leben von Bedeutung gewesen war, mit den beiden ausgelöscht wurde. An jenem nebeligen
Oktobermorgen an der Kreuzung, keine fünfhundert Meter von ihrem Gartentor entfernt.
Entsetzen in Sichtweite.
Entsetzen, das kein Ende nahm.
Hella war in den Tagen nach der Beerdigung in eine depressionsartige Schockstarre gefallen. Sie verbarrikadierte sich vor ihren Nachbarn und Freunden, steckte Kondolenzbriefe ungeöffnet in eine Schublade. Sie ließ keine Trauer zu. Ein Arzt, von dem sie eigentlich nur ein starkes Schlafmittel verschrieben haben wollte, bescheinigte ihr eine dissoziative Störung, was nichts anderes bedeutete, als dass sie diese schlimmen Gefühle im Zusammenhang
mit dem Unglück abspaltete. Sie wurde sich fremd. Wenn sie vor dem Spiegel stand, sah ihr eine unbekannte Person entgegen, die keinerlei Empfindung bei ihr auslöste. Keine Vertrautheit, keine
Übereinstimmung. Leere. Das Haus wurde zu ihrem Feind, denn überall lauerten Erinnerungsstücke, die in der Lage waren, unvermittelt zuzuschlagen und ihr dolchartige Stiche zuzufügen. Und so fasste sie den Entschluss, dem zu entfliehen. In der Zeitung war sie dann auf das Inserat einer Versicherungsgesellschaft gestoßen, die eine ortsungebundene Mitarbeiterin suchten.
Es ist Abend geworden in der Ostseestadt. Hella hat den Tag über ihr Pensum abgearbeitet, die Liste der unterschriebenen Abschlüsse liegt bereits im Postausgangsfach. Sie fährt ihren Laptop herunter und zieht den Stecker aus der Steckdose. Dann sitzt sie noch eine Weile da und starrt auf den schwarzen Bildschirm. Wie einfach, denkt sie, man muss nur den Stecker ziehen und dann ist es gut. Dann ist Ruhe. Mit dem Wasserglas in der Hand geht sie ans Fenster, ihr Blick wandert über ein nahegelegenes großes und hellerleuchtetes Backsteingebäude zu den vielen Schiffen und kleinen Booten, die wie an einer Kette aufgereiht, nahe der
Ufermauer liegen. Der Abendwind schaukelt sie hin und her und das Wasser entlang der Promenade glitzert im Schein der Laternen. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten entschließt sich Hella, noch einmal nach draußen zu gehen.
Sebastian
Sechshundert Menschen im Saal des roten Backsteingebäudes. Zu kleinen Grüppchen versammelt um in gestärktem Damast gehüllte Stehtische. Alle starren wie gebannt auf die überdimensional große Leinwand an der Stirnseite des Raumes. Noch präsentiert sie sich
vollkommen neutral in unschuldigem Weiß. Von seinem exponierten Platz auf dem mit rotem Velourteppich ausgelegten Podium überblickt Sebastian die ganze Szenerie. Kollegen, Freunde, Wegbegleiter. Sie haben alles auf eine Karte gesetzt. Sie haben auf ihn gesetzt. Jetzt fiebern sie dem Lohn für ihren Einsatz entgegen. Jetzt erwarten sie seinen Sieg, der dann gleichzeitig auch ihr Triumph sein wird.
Mit zusammengekniffenen Augen sammelt der Jungpolitiker die vom Erfolg überzeugten Blicke und zum Siegeszeichen erhobene Daumen ein, wie in den Wochen und Monaten zuvor die
Likes auf seiner Facebookseite. Du bist der Größte, du bist der Beste. Du wirst der Gewinner sein, sagen sie ihm. Du bist unser Hoffnungsträger, der alles, was wir in den Jahren davor verbockt haben, wieder heil machen wird. Und was, wenn nicht? Sebastian versucht, sich aufkeimenden Zweifel zu verbieten.
Wie von Geisterhand geregelt senkt sich der Lärmpegel auf null. Jetzt könnte man eine Nadel fallen hören. Nur ein nervöses Hüsteln durchschneidet die Stille, kurz bevor die Balken nach oben gehen. Ungläubige Blicke, wellenartiges Raunen, blankes Entsetzen.
Enttäuschung flutet den Raum.
Aus freundlich zugewandten Blicken werden ausweichende mitleidige Blicke.
"Sebastian, die Presse wartet. Denk daran, du darfst bei deinem Statement die Partei nicht beschädigen. Du musst für dieses Ergebnis die Verantwortung übernehmen. Lass uns aus dem Spiel."
Es ist nicht irgendeiner, es ist Frank, der das sagt. Frank, der Mentor Sebastians.
In dem Moment weiß Sebastian, dass er hinters Licht geführt wurde. Eine nicht mehr kontrollierbare Wut überkommt ihn. Ich drehe ihnen die Hälse um, all denen, die mir das hier eingebrockt haben, wütet es in ihm. Ich spucke ihnen ihre verlogenen Slogans, mit denen sie
mir während der vergangenen Monate den Mund vollgestopft haben, in ihre maskenhaften Gesichter. Da habt ihr sie zurück, seht nun selbst, was ihr damit anfangen könnt. Geht hinaus zu den Leuten auf die Straße und sagt ihnen, dass ihr sie betrogen habt. Aber lasst mich in Ruhe. Lasst mich gehen. Er löst das Mikro, mit dem er verkabelt war, von seinem Revers, zieht den Stecker heraus und steht auf. Die Ellenbogen einsetzend, bahnt er sich einen Weg durch den Pulk der Stiefellecker und Schulterklopfer hinaus ins Freie.
Schrei, Seele, schrei!
Sebastian läuft die Uferstraße hinauf, immer weiter, immer weiter, und hält erst an, als er bei der Absperrung angekommen ist, dort wo das offene Meer beginnt. Tränen laufen über seine Wangen, als er aus voller Kehle seinen Frust gellend hinausschreit. Wie Kanonenschüsse feuert er seine Wut in die Stille der Nacht. Doch plötzlich hört er eine zweite Stimme, die schreit. Erst jämmerlich, dann klagend, dann wütend. Immer lauter, immer heftiger. Und voller Trauer. Sebastian springt über die Absperrung, läuft die Uferböschung hinab und setzt sich zu der Frau, die nahe dem Wasser am Boden kauert.
"Ich wollte nicht mehr, ich wollte einfach den Stecker ziehen,", flüstert sie, vom vielen Schreien entkräftet.
"Und Sie?"
Sebastian schüttelt den Kopf und hört zu, wie sie ihm ihre Geschichte erzählt.