Das Versprechen
Immer wieder gleiten meine Gedanken zum geöffneten Fenster hinaus. Ein Sommertag wie aus einem Urlaubskatalog beginnt sich dort draußen zu entfalten. Ein Tag, der einlädt, an den See zu fahren oder in die Berge. Dort oben die Weite genießen, das wäre sicherlich sehr befreiend. Oder sich treiben lassen im kühlen Wasser, Schwerelosigkeit fühlen und danach in der wärmenden Sonne liegen und träumen. Zu lange ist das alles her.
Leise seufzend beende ich die verlockende Illusion und sammele meine Gedanken wieder hier in diesem Zimmer. Mein Blick bleibt an dem kleinen braunen Fleck hängen, der sich ungewollt erneut in mein Sichtfeld drängt. Ich
weiß nicht, wie er an die Wand gekommen ist, aber er ist lästig, lenkt meine Konzentration immer wieder ab. Auch die flirrenden Schatten, die die Sonne durch den Baum vor dem Fenster an der Decke erzeugt, strengen mich an. Im Grunde zerrt jeder Reiz an meinen Nerven. Ein Zeichen dafür, dass ich mich schon viel zu lange in diesem Zimmer aufhalte.
Ich bin krank. Mit 34 Jahren so krank, dass ich mit ziemlicher Sicherheit meinen 35. Geburtstag nicht mehr erleben werde. Eine Krankheit, die mich an dieses Zimmer fesselt und alles, was sich vor dem Fenster abspielt zu einer unrealen Farce mutieren lässt. Inzwischen ist mein Zustand soweit fortgeschritten, dass ich nur noch wenige
Schritte ohne fremde Hilfe bewältigen kann. Meine Kraft schwindet immer mehr und ich benötige rund um die Uhr ein Sauerstoffgerät.
Drei Jahre nach der Diagnose stelle ich die Frage ‚Warum gerade ich?‘ schon lange nicht mehr. Die Verbitterung ist gewichen, die Träume vom Familienglück im Einfamilienhaus, vom Weltenbummeln und vom Erfolg im Beruf wurden schon lange vor mir begraben.
Die Frage ‚Warum darf ich nicht selbstbestimmt über mein Leben entscheiden?‘, ist geblieben.
Warum wurde ich in einem Land geboren, in dem das Gesetz, beschlossen von gesunden Politikern, verbietet, über mein Leben und mein Lebensende selbst zu entscheiden? Wut,
Ärger, Enttäuschung und beginnende Schmerzen, erzeugt durch die Anstrengung, die all die Gefühle in mir auslösen, lassen mich erneut in meinem Sessel zusammensinken. Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn und rinnen juckend über mein Gesicht. Mühevoll wische ich sie ab. Es fällt mir schwer, den Arm soweit zu heben. Wie deprimierend wird es sich anfühlen, wenn ich diese kleine Bewegung nicht mehr bewältige? Wenn ich sogar zum Kratzen im Gesicht Hilfe benötigen werde?
Ich bin klar bei Verstand, wie mir jeder Arzt bestätigt, aber ich werde körperlich immer mehr verfallen, da meine Muskeln nicht mehr gesteuert werden. ALS nennt sich diese Krankheit, aber das ist egal. Am Ende werde
ich ersticken und ich habe Angst davor. Viel mehr Angst, als vor dem Tod selbst, denn der bedeutet Erlösung.
Hier in der Klinik werde ich gut versorgt und betreut, es gibt ein großes Team von Medizinern und Psychologen, die uns Kranken das „Leben“ so angenehm wie möglich machen, oder es zumindest versuchen. Sie versprechen zu helfen, damit das Ende schmerzfrei verläuft, ohne zu wissen, ob es dann wirklich so geschieht. Es hat hinterher noch niemand darüber berichtet.
Mit mitfühlender Miene sitzen sie am Bett, stellen immer neue Medikamente vor, beraten, trösten, verstehen, lachen und weinen mit uns Patienten … aber … sie dürfen uns nicht helfen, unseren letzten Tag würdevoll und
selbstbestimmt festzulegen. Schon wieder stöhne ich und bin gleichzeitig froh darüber, dass ich das immer noch kann.
Amelie kann nicht einmal mehr das. Ich ergreife ihre Hand und schaue sie zum bestimmt einhundertsten Mal in der letzten Stunde an. Heute ist ihr - unser Tag.
Meinen Sessel musste ein Pfleger ganz dicht an ihr Bett schieben. Natürlich hat er das ohne Fragen für mich erledigt, denn Amelie ist meine Ehefrau. Sie teilt mit mir die gleiche Krankheit und da wir verheirate sind, auch das selbe Zimmer.
Vielleicht wäre unter anderen Umständen aus uns ein glückliches Paar geworden. Als wir uns hier in der Klinik kennen lernten, war mit uns schon nicht mehr viel los. Kein Date, wie
das bei jungen Leuten üblich ist, keine Unternehmungen, keine körperliche Liebe. Uns verbanden von Anfang an Sauerstoffgeräte, Medikamente, Depressionen und Hilflosigkeit. Hilflosigkeit und Wut über unseren fremdbestimmten Krankheitsverlauf. Geheiratet haben wir nicht aus Liebe, aber unser Eheversprechen, das wir uns in der winzigen Klinikkapelle ganz ohne Gäste gaben, war dennoch ein Versprechen. Ein Versprechen an die Zukunft, die wir beide nicht mehr haben. Die Zeit sollte
entscheiden.
Wieder drängen meine Gedanken fort, aber die ungleichmäßigen Geräusche der Überwachungsgeräte, die Amelie am Leben erhalten, holen mich zurück.
Ich schaue in das Gesicht meiner Frau. Wer ist sie? Warum kommt auch ihre Familie nicht? Hätte ich sie jemals lieben gelernt? Fragen, auf die ich keine Antwort mehr bekommen werde.
Auch sie schaut mich inzwischen an, hat die Augen geöffnet.
Als sie ganz leicht mit dem Kopf nickt, streiche ich sanft über ihr Gesicht und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Bis bald!“, flüstere ich leise. Dann ziehe ich den Stecker über ihrem Bett.
© Memory