Plaschke
Frau Angela Plaschke war stolz auf sich. Sie hatte gerade einen Computerkurs absolviert. Was hatte sie da alles gelernt!
Sie konnte einen Computer einschalten und dann wusste sie, dass das Betriebssystem „booten“ würde. Sagenhaft, diese Fachsprache! Dann anklicken und Word aufrufen. Das war nicht 'Hallo' sagen, sondern das hieß wirklich so, aufrufen. Man konnte Schreiben ohne Zeilenschaltung! Kein Zurückschieben des Wagens, sondern einfach so tippen. Dann musste man „markieren“.
Sie hatte sich das immer mit einer Eselsbrücke merken können, weil sie an den verhassten Hund Ringo von Säbelhubers im dritten Stock dachte,
der an die Hauswand zu pinkeln pflegte.
Und dann konnte man die Schrift verändern, ganze Texte kopieren, usw. Mann, was waren das für neue Zeiten!
Sie hatte sogar mit lachen können, als der Witz erzählt wurde:
„Was macht man, wenn das Auto nicht mehr funktioniert? Fenster runter, Fenster rauf, zur Not neu booten.“
Was hatten sich alle Teilnehmer amüsiert.
Frau Plaschke war verheiratet und der normale Alltag floss in fest zementierten Abläufen dahin. Mittags, um Punkt 12 Uhr, gab es Mahlzeit und um 18:00 Uhr Abendbrot. Das Frühstück nahm ihr lieber Georg immer in der Werkstatt ein. Ja, Georg war Handwerker, Buchbinder. Diese Kunst
betrieb Georg Plaschke schon seit 40 Jahren. Nun wurden die Aufträge weniger, aber es reichte für ein normales Auskommen. Es lohnte sich immer noch auf Althergebrachtes zu setzen. Bibliotheken, Sammler und Liebhaber wussten bei wem sie anklopfen mussten, um wertvolle Einbände, oder zerfledderte Werke restaurieren zu lassen. So hatte die Werkstatt im Keller wertvolle Lederteile, alte Pergamentstücke, seltene geschöpfte Papiersorten aufzuweisen. Das Handwerk war äußerst vielseitig. Es ging nicht nur um Lederdruckverfahren, sondern auch um das Buchbinden selbst. Außer individuellem Werkzeug hatte Georg Plaschke nur eine Fadenheftmaschine in Betrieb. Die machte leider ziemlich Krach.
Eines Tages rief sie pünktlich fünf vor 12 zum Mittagstisch. Das dauerte dann höchstens drei Minuten und zwanzig Sekunden, bis Georg die Treppe hinauf eilte und zu der Essecke stürmte, denn er war ein guter Esser.
Diesmal allerdings erschien er nicht. Angela wurde misstrauisch und vermutete, das es wieder einmal die krachende Fadenheftmaschine war, die alles übertönte.
Sie lief nach unten und da lag ihr guter Georg am Boden. Ein Finger war blutig. Sie zückte ihr IPhone. Nach diesem sensationellen Computerkurs war die Technik für sie kein Problem. Sie wischte. Die Notrufzentrale war dran
„Hier Buchbinderwerkstatt Plaschke,
Weserstraße 15“, erklärte Angela. „Können sie mich orten?“
Es war doch ein Gutes, was sie alles über den Kurs hinaus gelernt hatte.
„Wir kommen!“
Sehr schnell waren die Helfer da und kümmerten sich um Georg. Er hatte schon einmal einen Herzinfarkt gehabt. Damals hatten die Helfer auf den Brustkorb gepumpt, um ihn wieder zu beleben. Jetzt wurden Georg Dioden angepappt und dann irgendetwas gespritzt. Sie wurde wieder nach oben gescheucht und hörte nur wie jemand rief. "Weg von ihm!"
Kurz darauf wurde Georg auf einer Trage hinaus bugsiert. Der eine Helfer lächelte. „Wir haben ihn wieder, aber er ist noch nicht über dem Berg.“
Sie bewunderte die modernen Zeiten. Nur Dioden anheften und gut ist’s. Irgendwie hatten sie markiert. Der Notarzt düste ab.
Eine Stunde später knetete Frau Plaschke im Gang des Krankenhauses mit den Händen, als der Arzt auf sie zukam.
„Es war eine schwere Herzattacke. Wir konnten ihn jetzt notdürftig stabilisieren. Die Lage bleibt aber ernst, leider.“
„Kann ich ihn sehen“, bettelte sie mit Tränen in den Augen.
Der Arzt überlegte und rang mit sich. Vielleicht würde sie ihn zum letzten Mal lebend sehen. „Na gut, aber nur für ein paar Minuten.“
Frau Plaschke saß am Krankenbett. Georg war
x-fach verkabelt und ein Schlauch führte in seinen Mund.
Der Arzt war im Kontrollraum. Was macht Plaschke“, fragte er. Die Ärztin an den Kontrollschirmen sah angestrengt auf die Werte. „Er scheint sich wirklich wieder zu erholen. Das sieht verdammt gut aus. Ich gebe bei der Maschine noch etwas Gas.“ Damit meinte sie bei der Herz-Lungen-Maschine am Bett von Plaschke etwas mehr den Durchlauf zu erhöhen.
Auch Angela bekam die Veränderung an dem Gerät neben Georg mit. Da stimmte doch etwas nicht! Fenster runter, Fenster rauf. Ging hier nicht. Diese Monitore waren so ganz anders, als die im Seminarraum. Farbige Linien liefen mit
irgendwelchen Ausschlägen und an der anderen Mattscheibe liefen Zahlen durch.
Weiße Ziffern auf schwarzem Grund!
Einer der Anzeigefenster war sogar Blau!
Es piepte.
Oh Gott, das System, so sagt man doch, hatte sich aufgehängt. Vielleicht eine dll umgekippt, eine Anweisungsdatei.
Ja, sie hatte bei der Schulung aufgepasst. Der gefürchtete blaue Bildschirm von Windows! Da half nur neu booten! Doch wo? Wo konnte man ein und ausschalten?
Sie fand nichts.
Mutig stürzte sie hinter die Gerätschaften und zog den Stecker. Die Lichter gingen aus und die brummende Tätigkeit der Gerätschaften fiel in sich zusammen. Das empfand Angela so
angenehm, wie wenn sie die Fadenheftmaschine ausgeschaltet hätte.
Stecker raus und dann…
Sosehr sie helfen wollte, sie wusste, dass sie mindestens 8 Sekunden lang abwarten musste, bis der sogenannte RAM Speicher auch wirklich geleert war. Sie wartete tapfer ab, dann hielt sie den richtigen Zeitpunkt für gekommen und steckte wieder ein, weil die ganze Maschinerie still geworden war.
Danach richtete sie sich wieder auf.
Der ganze Raum war still, bis auf das erste rote Lämpchen, das bei einer Konsole aufleuchtete.
Georg lag sehr friedlich und ruhig da, als die Ärzte hektisch ins Krankenzimmer stürzten.