Titel
1
Sie war die beste Schülerin, die ich je erlebt hatte. Immer kam Sie zwanzig oder dreißig Minuten zu früh und wenn es jemand anderes wäre, würde ich ihn im Flur warten lassen, bis ich mit einem anderen Studenten fertig bin. Doch wenn SIE kam, fühlte ich mich schuldig und war dazu gezwungen, andere Studenten fünfzehn Minuten zu früh zu entlassen. Ich würde die gerne sofort verjagen, sobald ich ihre Schritte hinter der Tür hörte. Weil, ehrlich gesagt, ich wartete immer nur auf sie…Ich öffnete die Tür
und sie kam hinein. Langsam näherte sie sich dem Klavier an, rückte den Stuhl heran und fing an zu spielen. Obwohl die Technik schlecht war, hatte die Musik ihr eigenes Charakter, führte ihr eigenes Leben. Das war ein lebendiges Wesen, die unter ihren Bewegungen in einem tiefen Schlaf versank, aufwachte, schrie und wieder einschlief. Das, was den anderen fehlte und was die anderen nie haben würden, hatte sie. Chopin, Schubert, Bach, Mussorgski, Rachmaninow – so klein schienen sie in den Händen dieses großen Kindes!
Später bemerkte ich aber, dass meine Schülerin einen “Defekt“ hatte. Sie konnte nicht gelehrt werden. Zuerst
dachte ich, dass es eine Zufälligkeit war. Wenn ich etwas von ihr wollte, spielte sie auf ihre eigene Art. Auch, wenn ich ihr mehrmals zeigte, wiederholte sie nicht. Es sah so aus, als ob der Rhythmus angeboren war, tief in ihrem Kopf eingewurzelt. Am Ende trat alles an den Tag. Zu Hause hatte sie nur ein bestimmtes Stück bis in die tiefe Nacht antrainiert, bis sie schließlich keinen Fortschritt machen konnte. Enttäuscht war ich allerdingst nicht. Doch jetzt verlor ich das frühere Interesse. Tief im Inneren meines Herzens war ich sogar geschmeichelt, dass sie mich beeindrucken wollte. Sonst nichts. Wenn sie früher kam, wartete sie im Flur, wie
die anderen. Wenn sie spielte, zeigte ich keine Emotionen. Manchmal sah sie mich an, als ob sie mein Lob erwartete. Ich blieb aber unbefangen, auch wenn sie es wirklich verdiente.
Wenn die Ferien zu Ende waren, sah ich sie nicht mehr.
2
Am Ende trat alles an den Tag. Zu Hause hatte sie nur ein bestimmtes Stück bis in die tiefe Nacht antrainiert, bis sie schließlich keinen Fortschritt machen konnte. Enttäuscht war ich allerdingst nicht. Ich lachte, als ich sie am Morgen im Flur sah. „Komm rein, ich zeige dir
was.“ Sagte ich. Sie war die erste heute. Von jetzt an war sie immer die erste. Ich hatte keine Ahnung, warum sie immer so früh ankam und, die Wahrheit zu gestehen, hatte ich Angst, sie danach zu fragen. “Heute sogar eine Stunde zu früh“, schmunzelte ich. „Aber nicht übertreiben, sonst habe ich keine Zeit zum Schlafen.“ Sie lächelte und nickte.
Ich setzte mich neben ihr ans Klavier und öffnete den Notenband. Das war “Ständchen“ von Schubert, das Stück, das sie auswendig wusste. Ich begann zu spielen. Ich war wunderbar und sie runzelte die Stirn. Dann machte ich einen Fehler und sie wurde aufmerksamer. Ein zweiter Fehler, ein dritter …. Wir
lachten jetzt zusammen und spielten. Je schlechter unser Spiel war, desto glĂĽcklicher sah sie aus.
Im April spielte sie auf dem Konzert. Ich saĂź in der ersten Reihe und klatschte, als sie in ihrem winzigen bunten Kleid vom Stuhl hochsprang und sich verbeugte.
Wie ein Schmetterling.