Das Mädchen aus London
„Mutter, es ist Heathfield. Ich bezweifle, dass mir hier irgendetwas passiert, außer dass irgendein Bibelverrückter an meiner Tür klingelt.“
„Das ist nicht witzig Hanna. Du weißt genau, dein Vater und ich wir sind froh darüber, dass du endlich deinen eigenen Weg gehst, aber trotzdem musst du vorsichtig sein. Man weiß nie was passieren kann. Ein Mädchen in deinem Alter muss immer acht auf sich geben.“
Hanna konnte nicht anders als zu lachen. Ihre Mutter hatte wirklich einen Drang für das dramatische.
„Ma‘…ich bin 23. Die ‚Kleines
Mädchen‘-Tage in denen du mir Zöpfe geflochten und Geschichten vorgelesen hast, sind lange vorbei.“
„Nicht für mich. Es ist einfach nur, London ist so weit weg Schatz. Dein Vater und ich vermissen dich. Es ist ungewohnt, dass wir nicht nach dir sehen können. Besonders jetzt machen wir uns Sorgen. Du hast alles hinter dich gelassen. Lisa, diesen John…“
Die Blondine stöhnte genervt auf und erhob sich von ihrem Sofa. Sie machte ein paar Schritte durch das kleine Wohnzimmer bis zur Küchennische, wo sie sich mit der freien Hand ein Glas Milch eingoss.
„Ich bin ziemlich froh, dass ich John
hinter mir gelassen habe Ma‘.“
„Ich fand ihn nett, und dein Vater auch. Ich fand es schön, dass Harold und John miteinander auskamen. Wenn ich dran denke, was mit deinen anderen Freunden war. Dieser Satanist zum Beispiel…“
Hanna setzte das Glas ab und verdrehte die Augen, ehe sie sich auf die Küchenzeile setzte und die Beine baumeln ließ.
„Du meinst Tom? Der war doch kein Satanist! Der war Rocker! Die haben nun mal Tätowierungen und leben einen etwas anderen Lebensstil. Das heißt noch lange nicht, dass sie dem Teufel die Türklinke in die Hand drücken.“
Innerlich musste sie über ihre Mutter
lachen. Sie wusste, dass sie es nicht böse meinte. Hannas Eltern lebten eben noch in einem anderen Jahrhundert und ihre Tochter war ihr Schatz, den sie schützen mussten. Besonders ihr Vater Harold. Sie war sein Augapfel. Sie liebte die beiden über alles, auch wenn sie mit ihrer Fürsorge manchmal übertreiben konnten.
„Hast du schon jemand neuen kennen gelernt?“, wollte ihre Mutter schließlich wissen.
„Nein Ma‘.“
„Ich dachte ja nur.“
Sie schmunzelte. In diesem Moment fehlten ihr die abendlichen Unterhaltungen auf dem Sofa ihrer Eltern ein wenig. Die abendlichen Telefonate
waren zwar ein wichtiges Ritual, konnten aber nicht mit der echten Atmosphäre standhalten, die es gab, wenn sie mit den beiden zu Hause auf dem Sofa saß. Manchmal hatten sie sich stundenlang unterhalten. Oft hatte sie dabei ein Buch gelesen. Irgendwie vermisste sie das. Im Gedanken daran wurde Hanna etwas wehmütig.
„Alles in Ordnung Liebes? Du bist so still.“
„Was ist mit ihr Enid?“, konnte sie ihren Vater im Hintergrund rufen hören. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Es war wirklich komisch, die beiden nicht um sich zu
haben.
„Ich glaub sie hat Heimweh Harold.“
Und wieder hatte ihre Mutter genau ins Schwarze getroffen. Dagegen konnte man nichts tun. Sie hatte eben diesen Sensor, der dafür sorgte, dass sie direkt Bescheid wusste, wenn es ihrem Kind nicht gut ging. Früher hatte sie das den ‚Mama-Radar‘ genannt.
„Gib sie mir mal ans Telefon Schatz.“
Ein kurzes Rascheln war am anderen Ende der Leitung zu hören. Kurz darauf meldete sich auch schon ihr Vater mit sanfter Stimme.
„Hey Liebes. Ich bin es.“
„Hi Paps.“
Eine Träne lief ihr über die Wange. Sie
hätte nicht gedacht, dass es so schwer sein würde, von zu Hause wegzugehen. Sie war jetzt drei Wochen in der Stadt und arbeitete im Gemeindezentrum, um Geld für ihr Studium zu sparen. Zuerst schien alles eine gute Idee zu sein. Eine neue Stadt, neue Erfahrungen und all die damit verbundenen Annehmlichkeiten. Jetzt allerdings, war sie sich nicht mehr so sicher, ob das eine gute Idee war.
„Heimweh hm? Das ist ganz normal. Ich weiß noch zu meiner Zeit. Als ich das erste Mal von zu Hause weg bin dachte ich auch, dass sich jetzt die große weite Welt für mich öffnet. Ich konnte es gar nicht erwarten, mein eigenes Leben zu starten. Ich war so aufgeregt. Die erste
eigene Wohnung und vor allem: Das erste Mal ohne irgendwelche Eltern die mir auf den Keks gehen. Ich mein, Enid kann manchmal ein Besen sein, wenn sie will…“
„Das habe ich gehört Harold.“
„Nur ein Scherz Schatz!“
Hanna musste lachen. Ihr Vater hatte das Talent, ziemlich schnell für gute Laune zu Sorgen. Wenn sie als kleines Mädchen mal Angst hatte, oder sich wehtat, war er direkt zur Stelle. Er erzählte meistens eine Geschichte, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Auch jetzt funktionierte das sehr gut. Das Lächeln hatte seinen Weg zurück auf ihre Lippen gefunden.
„Ach Paps. Du bist mein Held.“
„Ich weiß. Und ich hoffe du weißt, dass du dich immer bei uns melden kannst, wenn etwas ist. Außerdem kannst du uns besuchen kommen. Die Tür steht dir immer offen. Dann mache ich dir Blaubeerpfannkuchen.“
Das war ein schöner Gedanke. Ihre Eltern hatten viele Büsche im Garten. Im Sommer hatten sie immer viel zu tun, wenn es an die Ernte ging. Als kleines Kind hatte sie das gerne gemacht. Sie war mit ihrem kleinen Weidenkorb hinter ihrem Vater her getapst, während er die Früchte von den Büschen pflückte. Das allein hatte ihr stets viel Spaß bereitet,
und das ohne die nachträgliche Sauerei in der Küche. Ihre Mutter bekam deshalb oft einen kleinen Tobsuchtsanfall.
‚Deine Tochter ist genauso ein Ferkel wie du Harold‘, hatte sie stets gesagt. Das Ergebnis war, dass sie und ihr Vater danach stundenlang schrubben mussten, bis wieder alles seine Ordnung hatte. Es wurde ihr sehr warm ums Herz, als sie daran dachte.
„Das wird sicher schön Paps. Ich muss jetzt Schluss machen. Morgen geht es im Gemeindezentrum wieder früh los.“
„Alles klar. Ich glaube Enid und ich werden dich am Monatsende mal besuchen kommen. Dann kannst du mir ja die Stadt zeigen. Vielleicht hast du ja bis
dahin auch einen neuen Freund gefunden. Hoffentlich nicht wieder so einen Satanisten…“
„Paaaaps…“
„War nur ein Witz Liebes. Ich gebe deiner Mutter einen Kuss von dir.“
Sie nickte stumm.
„Gute Nacht.“
Damit war das Gespräch beendet und sie wieder allein. Jedoch fühlte sie sich jetzt schon viel besser. Einen Moment lang hielt die junge Frau Inne und warf einen Blick durch die Wohnung:
Es war kein Palast. Trotzdem hatte sie alles was sie brauchte: Ein Wohnzimmer mit Kochecke, ein Schlafzimmer und ein
kleines Bad. Für sie reichte das. Sie kam gut zurecht. Es sah auch nicht aus, als wäre hier eine Bombe eingeschlagen. Ordnung war das halbe Leben. Das predigte ihre Mutter immer gerne und für sie selbst war es ebenfalls angenehm, wenn sie sich nicht mit einer Seilbahn durch die Wohnung bewegen musste, weil es so chaotisch war. Bei ihren Freunden hatte sie es meist sogar gehasst, wenn sie ein bisschen schlampig waren. Das hatte meist zu Reibereien geführt und war unter anderem einer der Gründe, warum sie sich von ihrem letzten Freund, John, getrennt hatte.
Sie schüttelte den Kopf und rutschte von der Küchenzeile herunter. Sie wollte sich
die gute Laune nicht durch negative Gedanken an ihren Ex verderben. Morgen sah der Tag schon wieder anders aus. Bestimmt.
So schritt sie ins Wohnzimmer, wo sie einen Blick auf die Uhr warf. Kurz nach Neun. Eigentlich noch viel zu früh um schlafen zu gehen. Vor Zehn würde im Gemeindezentrum nicht viel los sein. Allerdings war sie gerne etwas früher da, um den Tagesablauf vorzubereiten. Sie mochte es, wenn sie die Kontrolle hatte, auch wenn das in den Augen anderer etwas seltsam wirkte. Es gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. Daran war gewiss nichts auszusetzen. Hanna war nie der spontane Mensch gewesen. Es bereitete
ihr Unbehagen, wenn sie sich blind in irgendwelche Aktivitäten stürzte. Nein. Sie hatte es wirklich lieber, das Ruder in der Hand zu behalten.
So begann sie ein wenig aufzuräumen. Das letzte Buch, das sie gelesen hatte wanderte wieder zurück in sein Regal. Der Teller vom Abendessen wurde abgespült und wieder sorgfältig im weißen Holzschrank in der Küche verstaut. Fehlte nur noch der Abfall. Sie nahm den Sack aus der Tonne, zog ihre Hausschuhe an und stiefelte nach draußen.
Im kleinen Vorgarten angekommen, nahm sie sich einen Augenblick um die frische
Abendluft einzuatmen. Typisch für den August, war es mittlerweile stockfinster. Daher hatte sie ihre Taschenlampe dabei. Ihr Freund und Helfer in der Dunkelheit. In der Tasche ihrer Jogginghose wartete das Pfefferspray. Nicht das sie es hier brauchte. Die Leute waren nett und höflich. Allerdings würde ihre Mutter einen riesen Aufriss veranstalten, wenn sie ohne aus dem Haus ging. So ging sie langsam an den Büschen vorbei zu den Mülltonnen, wo sie den Abfall entsorgte, ehe sie sich wieder der Haustür zuwandte. Sie fingerte den Wohnungsschlüssel aus ihrer Tasche und schob ihn ins Schloss. Gerade hatte sie die Tür geöffnet, als ein dumpfes
Geräusch hinter ihr ertönte. Erschrocken wandte sich Hanna um und hatte das Pfefferspray gezückt.
„Hallo?“
Mit der Taschenlampe leuchtete sie den kleinen Weg entlang zu den Mülltonnen. Es war niemand zu sehen. Seltsamerweise lag jedoch der Müllbeutel auf dem Boden vor der Tonne. Sie legte den Kopf schief und ließ den Blick durch die Gegend schweifen. Nichts zu sehen.
„Na toll“, sagte sie zu sich selbst und marschierte zurück zur Tonne, um den Sack wieder zu verstauen.
„Wirklich sehr witzig!“, rief sie in die Nacht hinaus. Vermutlich hatte sich eines
der Nachbarkinder einen Scherz erlaubt. Das passierte manchmal. Als sie hierhergekommen war, hatten sie das Haus des Nachbarn mit Eiern beworfen. Das lag aber eher daran, dass er ein Ekel war. Das konnte sie von sich nicht sagen. Naja. Irgendwann gab es für alles das erste Mal.
Sie fröstelte ein wenig, weshalb sie beschloss schnell wieder reinzugehen. In der Wohnung angekommen schloss sie ab und streckte sich. Kurz dachte sie nach und entschloss sich dazu, noch eine heiße Dusche zu nehmen, bevor sie ins Bett ging. Das half ihr, besser einzuschlafen.
So begab sie sich ins Badezimmer, wo
sie sich ihrer Kleidung entledigte und einen kurzen Blick in den Spiegel warf. Sie war hübsch, hatte eine glatte Gesichtshaut. Blaue Augen, kurze blonde Haare und war schlank. Eigentlich ein Schönheitsideal. Dennoch machte sie sich nicht viel daraus. Sie war keines dieser Modepüppchen, die Unmengen von Geld in ihr Aussehen steckten. Das war ihr zu wider. Außerdem wusste sie, dass ihre Eltern dafür sehr dankbar waren. Ein Schmunzeln entkam ihr, als sie so daran dachte, bevor sie in die Dusche stieg und das Wasser einschaltete. Das wohltuende Gefühl von Wärme breitete sich über ihre Haut aus, als die Wassertropfen über ihren Körper liefen. Das war wirklich
nötig gewesen. Es war einer dieser Momente, in denen sie sich wieder völlig unbeschwert fühlte. Es war kein Fehler gewesen, aus London fortzugehen. Das wusste sie jetzt. Die Stadt an sich hatte sie einfach nicht glücklich gemacht, auch wenn es ihr natürlich leidtat, ihre Eltern zurückzulassen. Dennoch wusste sie, dass die beiden gut zurechtkamen. Freunde hatte sie nicht wirklich zurückgelassen. Sie war immer zu sehr mit Schule und Familie beschäftigt gewesen. Deshalb hatte sie auch nie wirklich den Drang dazu verspürt, engere Bindungen zu pflegen. Sie hatte kein Problem damit, allein zu sein. Gut. Es gab die ein oder andere Liaison mit
einem Kerl, aber das war schon alles. Vor allem schienen die Männer nie lange mit ihr auszukommen. Naja. Sie war jung und hatte noch genug Zeit bodenständig zu werden. Andere in ihrem Alter waren bereits Mutter geworden. Sie liebte Kinder, klar, aber man musste auch nichts überstürzen. Sie hatte noch genug Zeit, den richtigen Weg im Leben zu wählen.
So stieg sie wieder aus der Dusche und trocknete sich ab. Währenddessen pfiff sie eines ihrer Lieblingslieder. All i want, von Kodaline. Ein emotionaler Song, der ihr wirklich viel bedeutete. Sie war eine Frohnatur. Es machte ihr nichts
aus, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Andere waren da viel spießiger. Sie lief durch die Stadt, summte und sang wann es ihr gefiel, auch wenn sie manchmal einen seltsamen Blick dafür erntete. Sie kümmerte es nicht. Das war eben ein Teil von ihr. So lächelte sie und warf das Handtuch in den Wäschekorb, ehe sie sich zum Spiegel umwandte und erstarrte.
Dieb
Es war ein einziges Wort, das in dem beschlagenen Spiegel stand. Sie wich zurück. Sofort hatte sie das Pfefferspray aus ihrer Hose geholt. Jemand war im
Haus. Ihr Herz begann wie verrückt in der Brust zu schlagen. Aber wie? In ihrem Kopf ratterte es. Sie horchte auf. Nichts war zu hören. Zumindest für den Moment, ehe sie ein klirrendes Geräusch aus dem Wohnzimmer vernahm. Sie schrie auf. Einbrecher? Unwahrscheinlich. Immerhin gab es bei ihr nichts zu holen. Was sollte sie jetzt tun?
‚Ganz ruhig Han‘. Flipp jetzt nur nicht aus. Geh ins Wohnzimmer, schnapp dir dein Handy und ruf die Polizei. Wenn du jemanden siehst, pumpst du ihn mit Pfefferspray voll!‘
Einfacher gedacht als getan. Sie hatte Angst. Es schien beinahe so, als wolle
sich ihr Körper überhaupt nicht bewegen. Das war das erste Mal, dass sie sich in einer solchen Situation befand. Klar. Sie hatte schon oft davon gelesen: Einsame Junggesellinnen die ihrer Wohnung überfallen wurden. Dass ihr das selber mal passierte, war ihr nie in den Sinn gekommen.
Sie wickelte sich ihr Handtuch um und öffnete langsam die Tür zum Wohnzimmer. Hier war es ruhig. Sie sah sich um und entdeckte den Grund für Geräusch von eben:
Das Familienfoto mit ihren Eltern lag auf dem Boden. Das Glas des Rahmens war zerbrochen. Vorsichtig hob sie es auf, wobei sie sich an einer Scherbe in den
Finger schnitt. Vor Schreck ließ sie es wieder fallen. Dann hörte sie Schritte. Erschrocken wandte sie sich um. Nichts. Sie wich zurück.
„Wer ist da?!“
Langsam bewegte sie sich zur Couch, wo ihr Telefon lag. Schnell hatte sie die Nummer der Polizei gewählt. Es tutete. Von irgendwo her kamen Schritte. Niemand war zu sehen.
„Polizeirevier von Heathfield. Officer Amber am Apparat?“
„Hallo? Hier ist Hanna Newland. Ich wohne am Holly Drive 7. Ich glaube jemand ist in meiner Wohnung.“
Sie presste die Worte stotternd hervor. Noch immer hielt sie das Pfefferspray
fest umklammert, bereit zuzuschlagen, sollte es nötig sein. Wieder hörte sie Schritte.
„Ganz ruhig Miss Newland. Wir schicken ihnen einen Wagen. Suchen sie sich einen Raum, in dem sie sich einschließen können.“
„Ja ich…“
Sie erstarrte. In dem Blut, welches sich durch ihre Wunde auf dem Boden angesammelt hatte, war auf einmal ein Fußabdruck. Vor Schreck ließ sie das Telefon fallen und stolperte nach hinten, wobei sie den Beistelltisch neben dem Sofa umwarf und stürzte. Sie Schlug mit dem Hinterkopf auf dem Boden auf. Panik machte sich breit. Vor ihr nährten
sich nun langsam blutige Fußspuren. Hanna rutschte zurück. Plötzlich, erhob sich die Nachttischlampe wie von Geisterhand. Sie konnte nichts weiter tun, als laut zu schreien, als die Lampe auf sie niedersauste.
„Hallo? Miss Newland? Sind sie noch dran?“
Stille. Die Lampe wurde achtlos zu Boden geworfen. Hanna lag mit weit aufgerissenen Augen auf dem Boden. Vom Kopf tropfte Blut.
„Miss Newland? Melden sie sich!“
Das Mädchen war tot…