Ein Tag Im Mai
Ich bremste Konny, denn dieser Stachel saß noch zu tief. Was hatte unser jüngster, Marcus, eigentlich mit den Handschellen angestellt? Er hatte die Dummheit geschafft, sich selber zu verhaften und sich dann fast drei Stunden lang an Balkon festzuketten. Anfangs noch freiwillig. Papa hatte nämlich auf dem Weg zum Dienst seine Handschellen vergessen, die sonst immer neben dem Telefon lagen, wenn er zuhause war.
Ausgerechnet an dem Tag erlag Markus genau diesem Irrglauben, legte sich die Handschellen genüsslich an sein
Handgelenk. Es machte dieses typische, knackende Geräusch, als sich die Handschelle an seinem rechten Arm schloss. Dabei grinste er. Dann hüpfte er freudig durch das Wohnzimmer zum Balkon und schloss die zweite Schelle am Geländer fest. Erneut erklang dieses satte Knacken. Nach einiger Zeit wurde ihm langweilig und er wollte wieder raus aus den Handschellen. Er rief nach unserem Vater. Meine Mutter fiel fast in Ohnmacht, denn der Schlüssel war mit unserem Vater im Dienst - mitten im Zentrum Hamburgs.
Wir wohnten damals noch „auf dem Dorf“. Das Telefonieren war Anfang der
1970er noch gar nicht so einfach. Damals gab es nur die „Post“ und die Begriffe Mobilfunk, Internet, SMS oder Smartphones waren schlichtweg unbekannt. Und es gab natürlich nur Telefone mit Wählscheiben! Es wurde eine interessante Rettungsaktion. Zumindest für Konny, Anna und mich.
„Und dann hat unsere Mutter in der Polizei-Außenstelle bei uns im Dorf angerufen“, sagte Konny, „bei den Dorf-Sheriffs“. Wir lachten auf der Terrasse.
„Ja und die Beiden kamen mit Blaulicht im Käfer die 700 Meter Hauptstraße hochgejagt und dann passte der Schlüssel
nicht zu den Handschellen“ entgegnete ich ihm. „Die hatten damals tatsächlich unterschiedliche Handschellen-Modelle“. Wir lachten weiter und entspannten uns.
Für Markus war die Situation wirklich doof, denn er hing bereits 1 ½ Stunden auf dem Balkon fest und es war weit und breit keine Rettung in Sicht. Die „Dorf-Sheriffs“ waren aber richtig gut, über Polizeifunk ließen sie meinen Vater über die Zentrale informieren, dass er einen Notfall zuhause hatte. Einer seiner Söhne hatte sich selber verhaftet und hing auf dem Balkon fest. Ein Fluchtversuch war definitiv zwecklos! Nach knapp drei Stunden war Markus erlöst, aber unser
Vater war stocksauer und fuhr danach wieder zum Dienst.
Abends brachte ich Konny zum Bahnhof, er war ja nur für ein verlängertes Wochenende aus seiner Studienstadt gekommen. Wir konnten Beide nicht noch mehr Vorlesungen schwänzen. Er würde jetzt fünf Stunden nach Hause benötigen. Wir verabschiedeten uns von unserem Vater. „Bis bald“, sagte Konny, „bis nachher“ sagte ich. Dann gingen wir schweigend zum Bus und fuhren zum Bahnhof. Eine knappe Stunde nach der Abfahrt des Zuges war ich wieder zurück, ich musste aber noch 10 Minuten vom Bus zu Fuß nach Hause gehen. Kurz
vor unserem Haus ist eine kleine Anhöhe, dort führt eine Brücke über eine kleinen Bach. Als ich oben ankam, sah ich den Peterwagen an der Strasse stehen, in unserer Garageneinfahrt stand ein dunkles Auto, das kein Mensch gerne sieht.
„Bereitet Euch vor“, hatte der Seelsorger in den vorangegangen Monaten uns immer gesagt. Wann ist ein Mensch vorbereitet? Sind fünf Monate ausreichend? Es war ein Tag im Mai, und es war am Ende des Tages.
Epilog: Meine Schwester Anne behauptet immer, dass jeder im Himmel mindestens
einmal Handschellen tragen muss. „Seinetwegen“ und lächelt dann. Ich werde dann immer nachdenklich und sehr traurig.