Die Hütte war ihr Rückzugsort.
Eingehüllt in eine bunte Patchworkdecke saß Yerola nachdenklich in dem in Regenbogenfarben angepinselten Bauwagen, der deutlich in die Jahre gekommen war.
Das Knattern eines Mopeds weckte sie aus ihren Tagträumen. Kurz darauf hörte sie Petes Schritte, wie immer begleitet vom lauten Baß seiner Kopfhörer. Schwungvoll riss er die marode Fliegengittertür auf. Der plötzliche Luftzug fegte seinen Zigarettenrauch ins Innere der Hütte, bis zu ihr aufs Sofa. Lässig schnippte er den glühenden Stummel draußen in den Sand und stellte
sich grinsend in Pose. Seine große, schlaksige Gestalt füllte den Türrahmen.
„Und? Alles klar, Babe?“
Yerola schüttelte den Kopf.
„Heute nicht, Pete!“
„Hey, habe ich was falsch gemacht?“ Er pustete sich die dunklen Haare aus dem Gesicht, schlüpfte durch den schmalen Eingang und ließ sich neben sie in die Polster fallen. Wie zwei Eisberge ragten seine Knie spitzwinklig nach oben. Er musste schon wieder gewachsen sein. Früher hatte sich der Altersunterschied zwischen ihnen kaum bemerkbar gemacht, doch in den letzten Jahren war Pete unheimlich in die Höhe geschossen. Kameradschaftlich stieß er sie mit der
Schulter an. Vertraute Körperwärme, in die sie sich bis vor wenigen Wochen noch eingekuschelt hätte wie ein Katzenbaby. Doch heute rutschte Yerola zur Seite.
„Lass´die Späße. Mir ist heute nicht danach!“
„Na super! Da bin ich mal eine Woche auf Dienstreise und schon will die Frau meines Lebens nichts mehr von mir wissen!“, schimpfte er mit gespielter Empörung und verschränkte die Arme.
„Okay“, seufzend drehte sie sich ihm halb zu. Er würde nicht lockerlassen, um sie aufzuheitern. Da war es besser, das Gespräch gleich in seine Richtung zu lenken.
„ Wie war die Fahrt in den Süden? Hast du die alte Lady gekauft? Fährt sie überhaupt oder musst du vorher noch viele Reparaturen machen?“ Sie wickelte sich aus ihrer Decke, stand auf und füllte an der kleinen Küchenzeile zwei Gläser mit Wasser. Eines davon reichte sie ihm, blieb aber am Fenster angelehnt stehen. Sie brauchte Distanz.
Pete durchschaute ihr kleines Spiel sofort und sah sie ernst an. „Hör mal, tut mir leid, ich wollte dir nicht zu nahe kommen. Ich hab versprochen, dir Zeit zu geben und das Versprechen halte ich auch.“ Beide Handflächen gen Himmel gerichtet verwies er auf eine Art
göttliche Verbindung bei diesem Vorhaben. „Aber du musst auch mal wieder rauskommen aus deinem Schneckenhaus“ murmelte er in sein Glas hinein, während er einen Schluck daraus nahm. Yerola spürte, wie stark ihm ihr abweisendes Verhalten zu schaffen machte. Sie wünschte sich von Herzen, diesen Zustand beenden zu können. Aber die Ereignisse der letzten Wochen lasteten auf ihr und machten es ihr unmöglich, wieder auf Menschen zuzugehen. Selbst auf Pete.
„Wie bist du denn zurechtgekommen die letzten Tage“, fragte er nun, leiser und vorsichtiger.
„ Kein Problem. Du weißt, dass ich
alleine zurechtkomme.“, antwortete sie, eine Spur zu schnell.
„Das meine ich nicht. Dass du überleben kannst, weiß ich. Das wissen wir alle.“ Unsicher räusperte er sich „ Was ist mit deinen Träumen? Sind sie wieder aufgetaucht?“
Für einen kurzen Moment begegneten sich ihre Augen und Yerola erkannte die Sorge in seinem Blick. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass er von nun an der einzige Mensch war, der ihr wirklich etwas bedeutete. Doch der Schmerz in ihrem Herzen wütete ungeachtet weiter, wollte ihr verbieten, sich ihm gegenüber zu öffnen. Sie holte tief Luft:
„Ich sehe ihn immer noch vor mir.
Hundertmal, tausendmal am Tag. Ich sehe, wie er da liegt. Ohne sich zu bewegen. Und ich kann nichts mehr machen...“
„Hey!“, mit unerwarteter Heftigkeit knallte Pete sein Glas auf den kleinen Tisch und sprang auf.
„Das war nicht deine Aufgabe. Du konntest ihn nicht retten! Niemand konnte das!“ Bebend stand er vor ihr.
„ Du weißt, dass das nicht stimmt!“
„ Doch, Yerola! Du bist 14 Jahre alt! Er war....“
„Wag´es nicht!“
Sie spürte den Zorn, der aus ihrer Brust aufstieg, ihren Körper vibrieren und ihr Gesicht heiß werden ließ.
„ Er war mein Vater!“ zischte sie ihn an.