Die Frau, die Liebe suchte
Aufmerksam betrachte ich die Frau, die ihren Zenit schon längst überschritten hat.
Ich beobachte sie schon seit sehr langer Zeit, genau genommen, seit sie diese Welt betrat.
Immer wenn ich davon überzeugt bin, jeden Wesenszug von ihr zu kennen, vermag sie es, mich zu überraschen. Gerade dann, wenn es den Anschein hat, dass sie ihren Weg konsequent verfolgt und das Ziel schon lange vor Augen hat, verlässt sie vertraute Pfade, wendet sich Neuem zu und veranlasst mich, noch genauer
hinzusehen.
In ihren jungen Jahren zeigte sie immer wieder Bedürftigkeit, die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, nach Anerkennung, nach Liebe. Diese Sehnsucht war ihre Antriebsfeder und gleichzeitig ihr Hemmschuh.
Denn zur Sehnsucht gesellte sich die Angst.
Angst, dass sich ihre Sehnsüchte erfüllen und sie deshalb ihren Antrieb verliert. Auch die Angst vor Enttäuschungen und Verletzungen.
Deshalb erschien sie oft abweisend, unzugänglich, kühl und distanziert. War sie verletzt und vergoss bittere Tränen, konnte sie nur schwer Trost annehmen, denn sie hatte eine Schutzmauer um sich erbaut, die nur schwer zu durchdringen war.
So hätte man meinen können, sie sei eine starke und robuste Frau, die so leicht nicht umzuwerfen war.
Doch wer genau hinsah, konnte ihre Seele aus diesem sehr feinen Porzellan erkennen, und auch die feinen Risse darin, weil dieses Porzellan schon so oft zerbrochen war.
Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ihre Seele hinter dieser Mauer kauerte und wie oft ich sie wieder aufrichtete und ihr dabei half, die Bruchstücke zusammenzufügen.
Es brauchte Jahre, bis sie die Mauer abgetragen hatte. Bis sie das Risiko einging, verletzt zu werden, enttäuscht zu werden.
Genau so lange brauchte es, bis sie sich zugestehen konnte, es Wert zu sein, geliebt zu werden. Vor allem sich selbst zu lieben.
Es brauchte weitere Jahre, bis sie zu der Erkenntnis gelangte, dass nur die Liebe zu sich selbst Voraussetzung ist, auch Liebe zu schenken.
In all der Zeit, die ich sie schon beobachte, habe ich festgestellt, dass sie nie imstande war, irgendwelche Masken zu tragen. Dazu war sie viel zu ehrlich und vertrauensselig. Vielleicht war sie aber auch nur untalentiert, wenn es darum ging, ihren Mitmenschen etwas vorzugaukeln.
Ansonsten war sie mit sehr vielen, fast
ungerecht vielen Talenten gesegnet, die sie selbst gerne auch als Intelligenz betrachtete. Wirklich viel Kapital hat sie allerdings aus diesen vielfältigen Talenten nicht geschlagen. Ich bin versucht, es ihrem Perfektionismus zuzuschreiben, dass sie in dieser Hinsicht wenig erfolgreich war.
Jetzt ist sie gereift.
Gereift am Schmerz, am Verlust, an all den Erfahrungen,die die Zeit mit sich brachte.
So steht sie mir gegenüber, entblößt und blickt mich mit ihren grünen schillernden Augen an. Still betrachte ich sie und erinnere mich an ihre Schönheit in jungen Jahren, ihre Ausstrahlung, derer sie sich selbst gar nicht
bewusst gewesen war und um derentwillen sie auch nicht geliebt werden wollte.
Sie wollte ob ihrer Seele, ihrer Ideale und ihrer Ehrlichkeit geliebt werden, denn schon damals war ihr klar, dass äußere Schönheit vergänglich ist.
Auch das hat sich mit der Zeit verändert. Wo der Wunsch war, Liebe zu empfangen, trat der Wunsch ein, Liebe zu geben.
All das war der Schlüssel zu ihrem Herzen, in dem es viele Kammern gab, die von Menschen bewohnt waren, die ihr etwas bedeutet hatten und noch bedeuten. Nur diese eine Kammer, die so lange schon leer gestanden hatte, ist erst jetzt, da sie längst über ihre Lebensmitte hinaus ist, bewohnt.
Bewohnt von ihr selbst.
Und ich schaue zu, wie sie in ihrem Schaukelstuhl sitzt, in dieser Kammer. Wie sie in ihren Büchern blättert, eingehüllt in eine weiche Decke, den dampfenden Gewürztee in kleinen Schlucken trinkend und im gleichmäßigen Rhythmus sanft schaukelt. Es ist, als sei der Gleichklang des Schaukelstuhl ihr Herzschlag.
Lächelnd blickt sie mich über den Rand ihrer Lesebrille an und ich lächle zurück.
Zufrieden drehe ich mich um und kehre meinem Spiegelbild den Rücken zu, schaue über die Schulter und mich durchflutet Wärme. Kaum hörbar flüstere ich der Frau im Spiegel
zu:
"Allmählich fange ich an, dich so zu lieben, wie du bist, mit all deinen Fehlern und Schwächen, deinen liebenswerten Macken, deiner Neugier, dem Wissenshunger, deinem Wechselbad zwischen In-sich-gekehrt-sein und Aus-dir-herausgehen, deiner Empathie, deinem ewig zerzausten Haar, den Spuren der Zeit in deinem Gesicht und der grenzenlosen Liebe, die du zu geben vermagst.
Ich danke dir, dass du sie endlich auch mir bedingungslos gibst."
(c) LightningDream, November 2017
überarbeitet, Dezember 2018