Der Baum
Es war einmal ein Baum. Umgeben von Feldern und Wiesen, die bis an den Horizont reichten und ihre Farben mit den Jahreszeiten wechselten, war seine Krone weithin sichtbar. Im Sommer trug er dichtes Laub, in dem die Kinder herum kletterten oder Liebespaare Schatten suchten. Im Winter stach sein schwarzes Geäst von der Umgebung ab. Dann war es wieder ruhig um ihn.
Wer ihn genauer betrachte, weil er vielleicht während eines Spaziergangs auf seiner Bank Rast machte, erkannte Namen oder Herzen, die manches
Liebespaar schon in seine Rinde geritzt hatten. Bei einigen stand auch das Datum dabei; viele dieser Angaben waren schon Jahrzehnte alt, die wenigsten erst wenige Wochen.
Den Baum schien das nicht weiter zu stören, er stand tagaus tagein fest in der Erde. Nicht einmal die herbstlichen Stürme, die an dem Stamm und dem Laub rüttelten, oder der Schnee, der manches Jahr die Landschaft mit einem dicken weißen Tuch bedeckte, konnten ihm etwas anhaben.
Wenn ein liebendes Paar sich unter ihm sich ewige Treue schwor, weinte er leise in sich hinein, weil er um diese fromme Lüge wusste, die sie so gern glaubten,
weil sie sie glauben wollten. Viele der in seine Rinde geritzten Herzen, Daten und Namen gehörten längst der Vergangenheit an. Wenn er eine Stimme gehabt hätte, wer weiß, ob die Menschen ihn überhaupt hätten verstehen wollen.
Er betrachte erfreut das Treiben um sich. Unter seinem kühlen Schatten saß ein kleines Mädchen mit luftigem Kleidchen. Sie zupfte Gänseblümchen und wand sie zu langen Ketten. Dann erhob sie sich und tanzte fröhlich singend um ihn herum, in immer größeren Kreisen.
Plötzlich hielt sie inne und sah, wie der Baum von schwerer Axt getroffen auf sie hernieder sank. Ein Gänseblümchen bemerkte zuerst, wie aus ihrem Kopf das
Blut auf die Wiese tropfte, und der Wind spielte mit seinen Blättern.