Endlich kam die ersehnte Nachricht, dass die Spritze gewirkt hatte.
Er musste unwillkürlich lächeln beim Gedanken daran, SIE in diesem unbequemen Zahnarzt-Stuhl sitzen zu sehen. Nicht etwa, weil SIE eine komische Figur abgegeben hätte. Oh nein, im Gegenteil. SIE war nur einfach das Gegenteil eines Menschen, der sich gerne etwas sagen ließ.
Als er die Worte auf dem Display seines Handys bläulich schimmern sah, fiel die Anspannung von ihm wie vergilbtes Herbstlaub von den Bäumen. Er verspürte die unbändige Lust, SIE an den Händen zu fassen, ihren leichten Körper anzuheben und im Kreis um sich zu
schwingen. Drehen, einfach nur drehen, voller Freude, wie sie das so oft taten, wenn sie alleine in der Natur unterwegs waren.
Er tippte die lang überlegte Antwort ein: „Freut mich! Ruh´dich noch etwas aus. Die Betäubung lässt nach zwei Stunden nach. In der Schublade sind Schmerztabletten.“
Er hatte also noch zwei Stunden Zeit.
Genüsslich nahm er einen großen Schluck aus der dickrandigen Kaffeetasse, wog das leere Gefäß noch ein paar Sekunden in seinen Händen hin und her, bevor er seinen massigen Körper aus dem Sessel wuchtete und das gebrauchte Geschirr zum Tresen brachte.
Die nette Frau an der Kasse lächelte ihm dankbar zu. Das wäre nicht nötig gewesen! Gedankenverloren verließ er das kleine Café. Noch hatte er Zeit, die Vor- und Nachteile seines Vorhabens gründlich abzuwiegen.
SIE würde also noch ein wenig sprachlos sein und das wollte er ausnutzen. Normalerweise kommentierte sie alles, mal lustig, mal ironisch, dann wieder süffissant – oder eben auch, wie meistens, hoffnungslos ehrlich.
Die Fußgängerzone um ihn herum gähnte ihn noch müde an und ihm kam der Gedanke, dass die Angst vor der eigenen Courage vielleicht dem Umstand geschuldet war, dass durch ihre
ungewollte Worthemmung nun ein erschreckender, emotionaler Stillstand zwischen ihnen beiden eintreten könne. Ohne Zweifel – SIE war die Aktive in ihrer Beziehung, hatte ständig neue Ideen, während er sich eher gemächlich zurücklehnte. An der neuerbauten Einkaufspassage wagte er einen kurzen Blick auf sein Spiegelbild in den langgezogenen Schaufenstern. Nun, er gehörte bestimmt nicht zu den Frauenhelden, rein vom Äußeren her. Aber er hielt sich sehr gerne in ihrer Nähe auf, war durchaus beliebt bei ihnen. Sie mochten seine ruhige, bedächtige Art. Anders als bei Männern wurde er nicht ständig in irgendwelche
Konkurrenzkämpfe gezogen. Den Frauen ging es um etwas anderes. Um was, war ihm nicht immer klar und so nutzte er seine Beliebtheit bei den Frauen im gemeinsamen Freundeskreis, um zuzuhören und sie besser verstehen zu lernen. So konnte er sich auch ein besseres Bild über SIE machen - was seinen Plan schließlich erst in diese ausgeklügelte Form gebracht hatte.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er noch eineinhalb Stunden hatte. Dann würde die Betäubung endgültig nachlassen und SIE würde wieder zu rhetorischer Hochform aufdrehen. Er musste sich also beeilen.
Zwei Stufen auf einmal nehmend,
schnellte er die Treppen des Eckhauses mit einer ihm ungewohnten Leichtigkeit hinauf. Oben, im dritten Stock, wohnten sie nun schon seit fast einem Jahr zusammen.Glücklich, wie sie beide fanden.
Nur Mut, sagte er sich immer wieder und befühlte hoffnungsfroh die Ringe in seiner Jackentasche.
SIE würde sprachlos sein...