"Und es gab so viele Schiffe! Keira, du hättest die riesigen Segel sehen sollen und die hohen Masten. Die waren so gross wie ein Riese!", ruft Glen und wirft seine kleinen Hände in die Luft. Lächelnd streicht Keira über seine blonden, gelockten Haaren und hört den spannenden Erzählungen über Armor zu. Noch gut kann sie sich an ihren ersten Besuch erinnern. Staunend stand sie am Pier und beobachtete die vielen Schiffen, die mit wehenden Fahnen in den Hafen eintrafen. Majestätisch sahen die grossen Konstruktionen aus, wie sie auf dem endlos scheinenden Meer dahin segelten,
sich mutig den Wellen stellten und den reissenden Strömungen trotzen. Wahrlich, damals war das Meer ein Traum für Keira. "Schau mal was ich dir mitgebracht habe!" Die aufgeregte Stimme von Glen reisst sie aus ihren Gedanken, welche ihr mit strahlenden Augen eine Figur entgegen streckt. "Ich hoffe sie gefällt dir!", murmelt er und blickt sie erwartungsvoll an. Gerührt betrachtet sie den Schwan, der aus hellem Birkenholz gefertigt und mit kleinen Steinen verziert ist, welche im Licht der Sonne in allen Farben glitzern. Wenn man auf einen kleinen Knopf drückt, öffnet sich sein Gefieder und ein kleiner Kompass kommt zum Vorschein.
"Danke! Er ist wundervoll!", stottert sie und nimmt ihren kleinen Halbbruder in die Arme. "Eine alte Frau hat ihn mir auf der Strasse gegeben. Sie hat gesagt, dass er mich von allen Gefahren schützt und mich immer nach Hause bringt! Aber ich finde, er passt besser zu dir!", nuschelt er. "Aber jetzt muss ich zu Alan und Marlo. Die werden neidisch auf mein Schiff sein!" Mit lautem Lachen verlässt der kleine Knirps mit seinem neuen Holzschiff in der Hand, das Haus und Keira blickt ihm lächelnd nach. Vater macht ab und zu Andeutungen, dass ihre Mutter genau so fröhlich, aufgestellt und strahlend war, wie Glan. Und obwohl
Keira sie nie kennen gelernt hatte, glaube sie den Worten ihres Vaters. Es war das einzige, was er ihr über sie erzählt hatte und obwohl Keira so viele Fragen auf der Zunge brennen, akzeptiert sie seine Verschwiegenheit. Sie ist glücklich hier, mit ihren drei Halbbrüdern und Trista, welche für sie wie eine Mutter ist und manchmal ist es gut, wenn man die Vergangenheit ruhen lässt. Für einem Moment schliesst Keira ihre Augen und ordnet ihre Gedanken wieder, ehe sie ihre kleine Tasche vom Bett schnappt und den hölzernen Schwan sachte hineinlegt. Gestern Abend hat sie sich, trotz den mahnenden Worten von Bradin und Caden, dazu entschieden,
Vater besuchen zu gehen. Prüfend blickt Keira aus dem Fenster und stellt missmutig fest, dass der Himmel mit dunklen Wolken bedeckt ist und bereits einige Regentropfen aufs Fenster prallen. Vielleicht schafft sie es noch, bevor das Unwetter über die Stadt einbricht. Mit schnellen Schritten verlässt sie ihr kleines Zimmer und bleibt in der Küche kurz stehen. "Warst du bereits bei Vater?", fragt Keira Trista, welche am Spinnrad sitzt und die frische Wolle auf die Spule aufwickelt. Ohne von ihrer Arbeit aufzublicken schüttelt sie ihren Kopf. "Nein. Er hat mir nur einen Brief hinterlassen, dass es eine dringende Angelegenheit gab und
ich mir keine Sorgen machen muss. Er sei in drei Tagen wieder zurück!" Mit einem leisen Seufzen bleibt Keira unschlüssig stehen. Es sind bereits vier Tage vergangen, seitdem sie ihren Vater im Lazarett besucht hatte. Er hätte sich schon längst bei ihr gemeldet, ausser wenn ihm etwas zugestossen sei. Keira war seit ein paar Tagen nicht mehr in der Stadt gewesen und doch hat sie immer wieder von tödlichen Angriffen und Unruhen gehört. Irgendetwas ungutes geht in der Stadt vor! Hastig verdrängt Keira diesen düsteren Gedanken und blickt Trista besorgt an. "Caden hat mir von deinem Vorhaben erzählt. Geh nur, ich halte dich nur auf. Vielleicht ist es
sogar besser, wenn du ihn besuchst!", sagt sie mit leiser Stimme und ihre Augen glänzen traurig. Verwirrt über ihre Reaktion nickt Keira und verlässt eilig das Haus. Erstaunt stellt sie fest, das die braune Stute von Vater bereits gesattelt vor dem Stall steht und unruhig mit den Hufen scharrt. "Ich war mir sicher, dass du dich nicht von deinem Plan abbringen lässt, störrisches Mädchen!", ertönt die höhnische Stimme von Caden, welche mit einem breiten Grinsen hinter dem Pferd hervor tritt. "Dann hättest du mir aber besser einen Esel gegeben!", ruft Keira lachend, währendem sie sich auf den Rücken des Pferdes schwingt. "Dankbarkeit ist wohl auch nicht deine
Art, was?", brummt er und reicht ihr die Zügel. "Ich danke ihnen, gnädigster Herr, für ihre Grosszügigkeit!", kichert sie und funkelt Caden glücklich an. "Oh, ehe ich es vergesse. Übergib Vater doch noch diesen Brief!", sagt er und drückt ihr einen kleinen Umschlag in die Hand, welche mit dem Siegel vom König verziert ist. Verwirrt blickt Keira ihn an und Caden zuckt nur mit den Schultern. "Ich weiss auch nicht mehr. Wehe du öffnest ihn, Fräulein. Du kennst Vater ja!", ermahnt er sie und schnalzt dann mit der Zunge. "Pass auf dich auf und sei vor Sonnenuntergang wieder da, ja!" "Du klingst wie deine Mutter!", ruft Keira ihm zu, ehe sie aus dem Hof
prescht. Ein starker Wind weht durch ihre Haare und die Kälte nagt an ihrem Körper. Keira drückt sich an den warme Hals der Braunen, um sich so ein wenig vom stärker werdenden Regen zu schützen. Es ist das erste Mal seit langem, dass sie mal wieder auf dem Rücken eines Pferdes sitzt und sie hat es wirklich vermisst. Als sie klein war, ritt sie fast den ganzen Tag durch die Felder und besuchte ihre Verwandten in den umliegenden Dörfern. Das waren noch schöne Zeiten! Als Keira sich den Stadttoren langsam nähert, steigt ihr ein widerlicher Geruch nach Verwesung in die Nase und lässt sie
würgen. Mit leisem Worten befielt sie der Stute langsamer zu gehen und nimmt die Zügel fester in die Hand. Am Strassenrand erkennt sie dutzende von Männern, welche mit Schaufeln in der Hand wohl irgendwelche Löcher graben und daneben stehen einige hölzerne Ladebarren, die Keira schrecklich bekannt vorkommen. Ein Schauer jagt über ihren Rücken, bei dem Gedanken, was wohl passiert sein könnte und sie überlegt sich, nicht wieder kehrt zu machen. Doch wenn wirklich etwas so derart schreckliches passiert ist, braucht Vater ihre Hilfe! Tief atmet Keira durch und gibt dem Pferd die Sporen, ehe sich sie mit
halsbrecherischen Geschwindigkeit durch das Stadttor prescht. Aus dem Augenwinkel erkennt sie noch einen leichenblassen Körper, welcher mit unnatürlich verformten, blutüberströmten Gliedmassen auf der Ladebarren liegt und die schreckliche Befürchtung befürwortet sich. Erst als sie den grossen Platz erreicht hat, steigt Keira vom Pferd ab und hastet mit den Zügeln in der Hand durch die Ansammlung von Menschen. Für einen kurzen Moment bleibt sie stehen und lauscht den Worten eines Mannes, wahrscheinlich ein Bote des Königs, welcher mit einem Pergament in der
Hand auf dem Podest steht und lautstark die Worte verkündet. "Für die tödlichen Angriffe macht König Reidros die "Scáth Dúil" verantwortlich! Noch heute Abend werden die Schuldigen hingerichtet und bereits morgen brechen hunderte von Soldaten zum Krieg gegen sie auf! Wir werden die Toten rächen!" Die Menge brüllt zustimmend und Fäuste werden in die Luft gestreckt. Nur Keira steht stumm da und blickt den Mann perplex an. Wie kann das sein? Caden hat ihr als klein immer die schrecklichen Geschichten von den berüchtigten Schattenwesen erzählt. Ein Volk aus vergessener Zeit, die in der Wildnis wie Tiere leben. Verwirrt schüttelt sie den
Kopf - das sind bloss Geschichten! Doch wenn es so viele Angriffe gegeben hatte, braucht Vater dringend ihre Hilfe! Voller Sorge wie es ihm wohl ergeht, schwingt sie sich wieder auf ihre Stute und reitet durch die engen Gassen in Richtung Lazarett. Je weiter sie in die ärmere Gegend von Seydar vordringt, desto stärker wird der Geruch nach Verwesung. Schwarz gekleidete Frauen knien mit geröteten Augen und nassem Gesicht auf den Treppen und beten flehend zu den Göttern, dass sie ihre Liebsten zurück bringen. Wo sich sonst die Kinder lachend gejagt oder mit Dosen gespielt haben, herrscht absolute Stille und Leere. Die meisten sitzen nun
eingesperrt in ihren Zimmern und zittern voller Angst vor den Schattenwesen. Doch Keira wehrt sich gegen die Worte des Königs. Scáth Dúil galt für sie nur als ein simples Ammenmärchen. Doch wer würde die Stadt Seydar angreifen wollen? Seit Jahrhunderten leben die Königreiche von Siar in Frieden und die meisten Wildlinge und Barbaren wurden in den Norden vertrieben. Als sie beim Lazarett angekommen ist, herrscht ein Chaos an Menschen, die flehend, weinend und schreiend um Einlass bitten. Viele von ihnen stützen einen Schwerverletzten auf ihren Schultern und diskutieren heftig mit den
Soldaten, welche die Tore versperren. Voller Sorge springt Keira vom Pferd und eilt zu einer alten Frau hin, welche blutend auf dem dreckigen Boden liegt. Ohne darüber nachzudenken, reisst Keira ein Stück Stoff von ihrem Rock ab und drückt es auf die Wunde. Die alte Frau keucht leise auf und blickt Keira aus trüben Augen an. "Die Scáth Dúil! Sie kommen uns allen holen!", krächzt sie mit bebender Stimme und ihre Augenlider flackern. Mit blutverschmierten Händen drückt sie Keira einen kleinen Gegenstand in die Hand, ehe sie mit einem letzten Aufbäumen regungslos liegen bleibt. Tränen rinnen über Keiras Wangen und
mit zitternden Händen schliesst sie die Augen der alten Frau. Wie konnte sie bloss vergessen, wer sie war. Jeden Tag verkaufte sie auf dem Marktplatz ihre Weidenkörbe und strahlte so viel Freude aus. Sie hatte dieses Schicksal nicht verdient! Wut steigt in Keira auf. Kein Mensch hat es verdient, draussen auf dem dreckigen Boden, zu sterben. Aufgebracht zwängt sie sich durch die Menschen und wird sogleich von einem Soldat brutal nach hinten geschupst. "Was bilden sie sich eigentlich ein?", schreit Keira mit erzürnter Stimme. "Sehen sie die Verletzten hier nicht? Die brauchen Hilfe!" "Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden, Weib!", ruft
der Soldat und verpasst Keira eine heftige Ohrfeige. Ein schmerzerfülltes Keuchen entfährt ihr und für einen kurzen Moment sieht sie nur schwarz. Entgeistert blickt sie den Soldat an, welcher sie mit abschätzigem Blick mustert und seine Hand für einen weiteren Schlag bereit hält. "Möchtest du noch mehr, du dreckiges Stück?", knurrt er und spuckt vor ihre Füsse. Keiras Körper erzittert und ihre Hände ballen sich zu Fäusten. Mit langsamen Schritten torkelt sie rückwärts und der Soldat blickt seine Kumpanen belustigend an. "Frauen - eine grosse Klappe, aber nicht den Mut mal rein zuschlagen! Hinter den Herd und ins
Bett gehören sie. Für etwas anderes sind sie nicht zu gebrauchen. Merk dir das, Süsse!", knurrt er und bricht in lautes Lachen aus. Beschämt blickt Keira zu Boden. "Was ist den hier draussen los?", durchbricht die schneidende Stimme das schäbige Gelächter und er verstummt sofort. "Diese kleine Göre hat sich gegen die Befehle von König Reidros widersetzt!", erklärt er hämisch und zeigt auf Keira. Panik breitet sich in ihr aus. Hätte sie gewusst, das dies ein Befehl vom König war, hätte sie nie so gehandelt. Zu gut weiss sie, was mit Bewohner passiert, die sich dagegen auflehnen. Beschämt senkt sei ihren Kopf. Doch zu ihrem Erstaunen ertönt
ein lauter Schlag, gefolgt von einem schmerzerfüllter Aufschrei. "Komm Keira. Dein Vater wird sich über deinen Besuch freuen!", ruft die Stimme und Keira blickt überrascht auf. Nun erkennt sie den älteren Mann, mit den leicht ergrauten Haaren, seinem weissen Stoppelbart und den eisblauen Augen. "Meister Bairre!", wispert Keira erstaunt und verneigt sich leicht. Ihr Blick fällt auf den Soldat, welcher sie mit blutverschmierter Nase hasserfüllt anfunkelt. Voller Genugtuung geht sie mit erhobenem Kopf an ihm vorbei und die schweren Türe schliessen sich knarren hinter ihr. Erstaunt schnappt Keira nach Luft, als sie das Chaos im
Lazarett erkennt. Der Raum ist überfüllt mit verletzten Menschen, wobei die meisten am Boden liegen, da sie nicht genug Betten zur Verfügung haben. Schwestern mit blutverschmierten Kleidern und verschwitztem Gesicht eilen ununterbrochen von einem Patient zum Anderen und versuchen die Verletzungen zu heilen. Mitten im Gewühl erkennt sie die schwarzen Haaren von Kian, welcher gerade mit einer blutverschmierten Säge in der Hand am Bett steht. Das verheisst nichts Gutes! "Keira, du solltest nicht hier sein!", ruft er ernst, als er seine Tochter erkennt, doch sein Lächeln verrät seine Freunde
über ihr Kommen. "Vater, was ist hier los?", flüstert sie und ihr Blick fällt auf den Mann, welcher mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Bett liegt und auf seine Beine, wobei das Linke nur noch aus einem Stumpf besteht. Kian blickt vergewissernd zu Meister Bairre, welcher wissend nickt und er atmet erleichtert aus. "Gut, Keira. Komm mit!", sagt er und packt seine Tochter zärtlich an der Hand. Gemeinsam betreten sie einen kleinen Raum, welcher mit einem langen Tisch und Stühlen ausgestattet ist und an den Wänden hängen vergilbte Pergamentzeichnungen, welche die Anatomie des Menschens
darstellen. Fasziniert bleibt Keira stehen und mustert die alten Zeichnungen. "Ein Bote hat sie uns vor Längerem bereits von Armor überbracht. Sie haben uns in den letzten paar Tagen sehr geholfen!", sagt Kian stolz und mustert seine Tochter. "Du hast bestimmt viele Fragen!", sagt er und lässt sich seufzend auf einen Stuhl fallen. Keira tut es ihm gleich und blickt ihn fordernd an. "Stimmen die Gerüchte?", fragt sie zögerlich und spielt nervös mit ihren Haaren. Kian fährt sich zögerlich durch seine Haare. "Es sieht wohl so aus. Es blieb nicht bei einem Angriff, wie du gesehen hast. Dutzende von Bewohner wurden angegriffen und verstümmelt
zurück gelassen. Kein Tier würde so etwas mit seiner Beute machen!" Keira nickt zustimmend. "Aber ich dachte, die Scáth Dúil gäbe es nur in Geschichten!", murmelt sie nachdenklich. "Ich glaube das dachte jeder. Auf meinen Reisen habe ich ein einziges Mal ein derartiges Wesen gesehen. Besser gesagt nur seinen Kopf. Aufgespiesst haben sie ihn auf der Mauer. Sein Gesicht erinnerte mich an eine Schlange!", erzählt er mit trüber Stimme. "Aber was wollen sie von uns? Wieso ausgerechnet jetzt?", fragt Keira nach einer Weile und Kian zuckt mit den Schultern. "Ich habe mich mit einigen Gelehrten unterhalten. Sie vermuten, dass die Scáth Dúil nach etwas
Wertvollem suchen, was in dieser Stadt zu finden ist. Macht, Geld oder Besitz interessieren sie nicht. Es muss etwas Uraltes sein!" Ein lautes Klopfen unterbricht die Erzählungen von Kian, welcher erleichtert aufatmet. "Ich hoffe ich konnte dir einige Fragen beantworten, aber nun ist Zeit zu gehen! Mach dir keine Sorgen um mich, Keira!", sagt er mit ernster Stimme und öffnet die Tür, wo Mael bereits mit bleichem Gesicht wartet. Verdutzt blickt Keira ihn an. "Aber Vater, ich möchte dir helfen!", ruft sie bockig, doch Kian unterbricht sie. "Du kannst mir nicht helfen. Hör auf deine Brüder und pass auf dich auf!", murmelt er und drückt Keira bestimmt
aus dem Zimmer hinaus. "Pass auf dich auf, mein Kind!" Die lauten Töne der Fanfaren hallen über Seydar und ein Schwarm von Krähen erhebt sich kreischend in die Lüfte. Eine grosse Menge hat sich bereits auf dem grossen Platz versammelt und wartet gespannt auf die bevorstehende Hinrichtung. Nur mit Überzeugungskraft konnte Mael Keira dazu überreden, sich diese anzusehen, ehe sie zur Arbeit muss. Nervös steht sie da und beobachtet, wie der König von der jubelnden Menge Willkommen geheissen wird. Auch Mael stimmt in das Rufen ein und sein Gesicht strahlt voller Bewunderung. "Wir können
uns glücklich schätzen, dass wir einen so guten König haben, oder?", ruft er erfreut und blickt Keira prüfend an. Sie nickt zustimmend und verfolgt das Geschehen auf der Tribüne. Obwohl sie solche öffentlichen Hinrichtungen hasste, spürt sie doch eine gewisse Neugier auf die Schattenwesen. Noch nie hatte sie welche gesehen und kannte sie nur aus den Geschichte, die ihre Brüder ihr erzählt haben. Caden hat immer von Missgeburten gesprochen. Gewisse hätten spitze Hörner, scharfe Krallen oder ihre Haut würde aus Schuppen oder Feder bestehen. Die Götter hätten sie so gestraft für ihr sittenloses und bestialisches
Verhalten. Sechs blutverschmierte Männer werden in Handschellen hinauf geführt und die Menschen beginnen voller Hass faules Gemüse zuwerfen. Erstaunt keucht Keira auf, als sie die schlangenähnliche Gestalten erkennt. Ihre Haut hat einen grünlichen Ton, ihre Zunge ist gespalten, ihre Augen glühen gelblich und ihre Pupillen sind zu Schlitzen gefolgt. Das hat Vater gemeint! Voller Grauen schüttelt sie den Kopf. "Es stimmt also! Mael die Geschichten sind wahr!", ruft sie und ihre Hände verkrampfen sich. "Natürlich sind sie wahr. Sieh sie dir an. Gestraft von den Göttern.", antwortet Mael gehässigt. "Wie kann das sein...",
murmelt sie und ein Schauer jagt über ihren Rücken. Je länger sie diese unmenschlichen Gestalten anschaut, desto mehr verstärkt sich ihr ungutes Gefühl. Ihr Kopf beginnt zu schmerzen und eine Unruhe breitet sich in ihrem Körper aus. "Ruhe!", ruft der König mit lauter Stimme und die Menge verstummt. "Diese sechs Kreaturen gehören dem Stamm Scáth Dúil an, welche für die Gräueltaten verantwortlich waren, die uns die letzten Tage geplagt haben!" Erzürnte Rufe ertönen und wüste Beschimpfungen und Flüche werden gegen die Wesen gesprochen. "Und hiermit verurteile ich, König Reidros,
die Mörder, Entführer und Vergewaltiger zum Tode durch Erhängen. Ihre Leichen werden beim nördlichen Stadttor als Warnung aufgehängt. Jeder Reisende, jeder Vagabund und jede Missgeburt soll sehen, was mit solchen Kreaturen geschieht!" Tosender Applaus unterstreichen die Worte des Königs und der schwarz gekleidete Scharfrichter betritt die Bühne. Angst steigt in Keira hoch und sie klammert sich an Maels Arm, welcher sie liebevoll mustert. "Sie machen mir Angst. Wir sollten nicht hier sein!", erwidert sie zitternd. Als die Schlingen über die Köpfe der Wesen gezogen werden, ertönt ein lautes, unmenschliches Zischen und so manches
Kind beginnt voller Angst zu Schreien. Eine unangenehme Ruhe breitet sich über den Schauplatz aus und alle blicke wie gebannt auf die sechs Kreaturen, welche in einer alten Sprache irgendwelche Worte in den Himmel schreien. Gerade als der Scharfrichter den Hebel betätigt, dreht einer der Wesen den Kopf in Richtung der Menge und Keira hätte schwören können, dass seine gelb leuchtenden Augen auf ihr ruhen und sein Mund sich zu einem hämischen Grinsen formt, ehe er nach unten fällt. Ein lauter Schrei entfährt Keira und sie starrt zitternd auf den leblosen Körper, ehe Mael sie besorgt an der Hand packt und von dem schrecklichen Ort
wegzieht. Ein heftiger Sturm zieht am späten Nachmittag über Seydar und doch herrscht in der Taverne eine ausgelassene Stimmung. Viele Bewohner sind gekommen, um die Hinrichtung von den Scáth Dúil Anhängern zu feiern und Keira war froh über die viele Arbeit. Noch immer sieht sie das grässliche Grinsen vor sich, die toten Körper, die im Winde baumeln und die lauten Schreie hallen durch ihren Kopf. Mit zitternden Händen schenkt sie sich ein Glas Wein ein und trinkt es in einem Zug leer. "Ich habe dich wohl auch noch nie trinken gesehen!", murmelt Birgit und
beobachtet Keira argwöhnisch, welche sich ein weiteres Glas Wein einschenkt. "Ach weisst du, manchmal braucht es das!", nuschelt sie und ihre Wangen erröten leicht. "Ich seh doch, dass es dir nicht gut geht. Aber deine Sorgen mit Wein zu ertränken, macht auch keinen Sinn!" Mit einem aufmunternde Grinsen packt Birgit Keira an den Händen und zieht sie in den Kreis von tanzenden Menschen. Keira blickt sie genervt an, doch nach einige Umdrehungen, lacht auch sie und die beiden jungen Frauen bewegen sich elegant mit den Klängen der Geigen und Bläser. Ausgelassen wirbelt sie über den Boden und klatscht im Takt der
Trommeln. Sie schliesst glücklich die Augen und lässt sich für einen Moment von der Musik treiben. Immer schneller werden ihre Schritte und ihr rotes Kleid weht durch die Luft. Plötzlich öffnet sich die Tür und ein kalter Luftzug lässt die Tanzenden innehalten. Verwirrt blickt Keira zu den grossen Gestalten, welche mit triefenden Kleidern und gezückten Schwertern den Raum betreten. Die Musik verstummt und alle Blicke sind auf die drei Männer gerichtet, welche langsam ihre Waffen wegstecken und sich auf die nächstgelegene Bank sitzen. Für einen kurzen Moment herrscht eine unangenehme Stille, ehe die Musiker wieder zu spielen beginnt und die Leute
lachend ihre Becher auf König Reidros erheben. Glück durchströmt Keira, als sie von draussen die Kirchenglocken zwölf schlagen hört. Birgit musste frühzeitig die Taverne verlassen und so blieb die ganze Arbeit an Keira hängen. Müde reibt sie sich die Augen und gesellt sich zu dem jungen Mann, welcher mit glasigem Blick an einem Tisch sitzt. Wage kann sie sich an seinen Namen erinnern und ein leichtes Lächeln huscht über ihr Gesicht. Der arme Mann ist unsterblich in Birgit verliebt und sitzt jeden Abend am gleichen Tisch und schmachtet seine heimlich Geliebte an.
Doch Birgit interessiert sich nur für starke und reiche Männer und er war nunmal nur ein Schuhmacher. "Es ist bereits spät draussen und Birgit ist bereits gegangen. Du solltest nun gehen!", sagt sie mit liebevoller Stimme und zieht dem Mann sein noch volles Weinglas weg. Fast drei Krüge hat er alleine getrunken und wenn er nicht gleich auf der anderen Strassenseite wohnen würde, hätte sie ihn natürlich nach Hause begleitet. Ein zustimmendes Gebrummel kommt von ihm und er erhebt sich schwerfällig. Mit schlurfenden Schritten und traurigem Blick torkelt er aus der Taverne heraus und Keira atmet erleichtert auf. Liebe ist schon
schmerzhaft. Kopfschüttelnd begibt sie sich hinter den Schanktisch und beginnt die dreckigen Kelche zu waschen. Als sie endlich den Boden geschrubbt hatte und alles ordentlich wirkte, schnappt Keira ihre Jacke und verlässt mit schweren Herzen die warme Taverne. Draussen regnet es in Strömen und ein eiskalter Wind weht durch die menschenleeren Gassen. Immer wieder erhellen Blitze die rabenschwarze Nacht, gefolgt von ohrenbetäubenden Donnern. Hastig verschliesst sie die Türe, als sich plötzlich eine eiskalte Hand auf ihre Schultern legt. Mit einem leisen Schrei wirbelt sie herum und blickt in die rabenschwarzen Augen einer jungen
Frau. Ihre bereits weissen Haare wellen sich über ihre Schultern und nur ein einfaches Leinengewand schützt sie vor dem Regen. Verwirrt macht Keira einige Schritte zurück und ihre Hände verkrampfen sich um das kleine Messer, das sie immer in ihrer Jacke hatte. "Hab keine Angst, inianà!", flüstert die Frau mit heller Stimme und blickt sie voller Liebe an. "Du bist wunderschön geworden, Keira!" Verwirrt schüttelt Keira den Kopf. "Woher kennen sie meinen Namen?", fragt sie erstaunt und Angst breitet sich in ihr aus. "Ich weiss viel mehr, als du denkst. Aber deswegen bin ich nicht gekommen!", antwortet sie und ein
dunkler Schatten legt sich über ihre Augen.
Wie zur Bestätigung hört man von Weiten das laute Krächzen der Raben und die junge Frau blickt besorgt in den Himmel. "Pass auf dich auf, inianà! Beschütz ihn mit deinem Leben! Das Schicksal vieler steht auf dem Spiel", murmelt sie voller Sorge und drückt Keira einen kleinen Beutel in die Hand. Liebevoll streicht die Frau über ihr Haar und haucht ihr einen feinen Kuss auf die Stirn. Verdattert bleibt Keira stehen und beobachtet, wie die Frau sich ein letztes Mal zu ihr umdreht und dann im Schatten der Nacht verschwindet.
Hi! Diese Geschichte ist ein Teil von meiner Abiturarbeit. Da es erst die Rohfassung ist, wäre ich über konstruktive Kritik sehr froh! Liebe Grüsse und viel Spass beim Lesen Michelle
>