„Mäuschen, nun komm schon!“ Genervt wackelt die Mutter mit dem Schlüssel. Das Mäuschen hingegen denkt gar nicht daran, sich zu beeilen. Der Klettverschluss an seinen neuen Schuhen muss hingebungsvoll befühlt werden.
„Jetzt mach die Schuhe bitte zu!“ Die Stimme der Mutter bekommt nun schon diesen seltsamen Ton, den das Mäuschen nur all zu gut kennt. Jetzt heißt es, konsequent den Blickkontakt zur Mama vermeiden und Schmollmund aufsetzen.
„Soll ich dir helfen?“ Aha, da ist es schon, das kitzelige Vibrieren in Mamas Stimme. Erstaunlich, wie vorhersehbar sich die Dinge doch immer wieder entwickeln! Das Mäuschen findet
Gefallen an diesem Spiel und lässt nun den Schmollmund zittern. Nur ganz leicht.
„Lia, bitte!“ Mamas Stimme bröckelt. Kleine, purzelnde Steinchen landen vor Lia auf dem Fußboden. Nicht aufsammeln. Liegen lassen. Befehl an Kopf und Arme: Kopf einziehen, Arme bedeutungsvoll drüber falten. Erste Schluchzer in der Kehle sammeln.
„Lia?“, Mamas Stimme leise und unsicher. Lia hasst das. Aber das Spiel wird seinen Lauf nehmen. Den Kopf immer noch unter den Armen vergraben, lässt sie erste Schluchzer ihren herzförmigen Lippen entfleuchen. Fast muss sie tatsächlich weinen. Hört sich
wirklich verdammt traurig an!
„Lia!“ Mamas Stimme kaum noch zu hören. Ohne aufzusehen weiß Lia, dass sich ihre Mutter jetzt an die Tür lehnt und regungslos auf ihre Füße starrt.
Die Zeit dehnt sich wie Kaugummi in die Länge. Lia hört das Pochen ihres kleinen Kinderherzchens. Es kribbelt in ihrem Bauch und sie springt Trampolin auf einem dichten Netz. Dem Netz von Mamas Nerven.
Wenn sie schon zählen könnte, würde sie das nun tun. Abwärts. Von der Zehn.
Es ist still geworden im Flur. Dann plötzlich weiß Lia, was kommen wird:
„LIAAAAAAA!“
Dieses Mal wird Mamas Schrei bestimmt auch die Fußgänger auf der Straße erreichen...