Als man dich mir zu lieben gab, wollte ich zunächst nichts von dir wissen.
Du warst laut.
Du warst fordernd.
Ich war dich nicht gewohnt.
Ich schlug die Hände über dem Kopf zusammen und ergriff die Flucht.
Ein Jahr später kehrte ich zurück.
Ich grub meine nackten Füße in ein Fleckchen Erde, das so blutend und offen vor mir lag und dem man mit einer Brutalität, wie sie nur Menschen zu eigen ist, seine letzten, geheimnisumwitterten Zeugnissen entrissen hatte.
Dein erdig-modriger Geruch drang ungefragt ein in jede meiner Poren und ließ Bilder entstehen, tief in meinem Inneren.
Bilder aus Hoffnung und Vergänglichkeit.
Und als der Windstoß kam, um Schutt und Asche der Vergangenheit beiseite zu fegen, vernahm ich ein Flüstern hinter deiner lauten, stadtumwölkten Stimme:
Dein wildes Herz, so dein Wispern, sei dir aus dem schützenden Rippengewölbe der Natur gerissen, doch – und hier nahm ich undeutlich deinen Augenaufschlag in meine Richtung wahr – es könne wieder nachwachsen!!!
Und ich lauschte deinen Geschichten über erste, mauerähnliche Klostergebilde, die du so stolz getragen, Kriege und Verwüstungen, die du erlebt und über den Geruch der Lederfabrik, deren festes Fundament du lange Zeit gebildet hast, bis auch diese im ewigen Wechsel von Werden und Vergehen ihren letzten Atemzug über dich ausgehaucht hatte.
Es sei nur eine Frage der Zeit gewesen, meintest du und nicktest wissend, bis der Mensch wieder Hand angelegt hätte an dir.
Es sei dein Schicksal, von Menschenhand bebaut, gepflügt und geerntet zu werden.
Da war es um mich geschehen und ich verliebte mich in dich.
Ich ließ mich ein, auf dich, mein Fleckchen Erde, und wir wuchsen zusammen.
Bereitwillig strecktest du mir den festen Boden entgegen auf dem ich, nach langen Jahren des unsicheren Schwankens, endlich wieder zum Stehen kam.
Und ich hielt mein Versprechen: Aus all den Mauern, die plötzlich scharfkantig aus deinem Innersten hervorstachen,
wollte ich wieder Orte des natürlichen Wachstums entstehen lassen. Der Verbindung zwischen Natur und Kultur meine Ehre erweisen.
Nachdem die menschlichen Bauwerke schließlich zu ihrer Vollkommenheit gelangt , die lästigen, bürokratische Arbeiten für unsere Verbindung abgeschlossen waren, schritt ich ans Werk.
Nächtelang malte und zeichnete ich, um meinen Visionen Ausdruck zu verleihen.
Freunde belächelten mich und meinen Eigensinn.
Behaupteten, du seist viel zu laut.
Voller Probleme, sobald man die Haustür ins Schloss fallen ließ.
Viel zu nah an den Nachbarn dran.
Sie gaben uns höchstens zwei
Jahre.
Wie wahr, wie wahr...
Dann endlich war der Plan gefasst: Die jahrhundertalte Mauer, die uns so schützend umgab, sollte ihren symbolischen Wert beibehalten.
Ihr heller Farbton sich in unserer beider Augenpaar spiegeln.
Eine ausgewogene Mischung aus Stein und Pflanze, Mineral und Organismus, aus alter Beständigkeit und unermüdlicher Erneuerung sollte zu unserer zweiten Haut werden
Immer mehr wurdest du zu einem Teil von mir – während ich über die „Typisch-Mensch“- liche Eigenart, sich beständig die eigene Wirklichkeit in die vorgegebene hineinzuschaffen, sinnierte.
Du öffnetest mir Tür und Tor und zeigtest mir deine Familie. Denn wie alles, was man im Leben bis ins Detail liebt, doch immer nur ein Stück des meist unbekannten Ganzen ist, warst auch du seit jeher eingebunden in einen größeren Zusammenhang.
So begann mein Stadtleben mit dir. Und auch ich machte dich mit meiner Familie bekannt.
Wir fanden Halt. Hier, sicher angelehnt an den Mauern der Altstadt, gab es noch ein bullerbü-ähnliches Kinderleben, eine Art Hinterhofromantik, die so manches Abenteuerherz höher schlagen ließ.
Der Kreativität war keine Grenzen gesetzt.
Beim Gang durch kopfsteingepflasterte Straßen meinten wir, noch immer das Knarzen der alten Ochsenwagen zu vernehmen, die unermüdlich ihres Weges zogen.
Hölzerne Erker beugten sich neugierig über uns und raunten uns geschichtsträchtige Daten zu.
Wir atmeten die mittelalterliche Stimmung nicht nur beim alljährlichen Weihnachtsmarkt ein.
Und wenn wir uns mal wieder zu sehr in unserer eigenen Wildheit verheddert hatten – kurz bevor
die Töpfe flogen, und die Nachbarn an unsere Haustür klopften - so genehmigten wir uns einen gediegenen Schluck Kaffee am nahegelegenen Marktplatz, berauschten uns am menschlichen Erfindungsgeist und den grandiosen Auswüchsen des bequemen Lebens,
um dann frisch gestärkt zu dir zurückzukehren...
Doch leider hat alles im Leben seine Schattenseiten und auch unsere Liebe unterliegt den menschlichen Begrenzungen:
Du, mein geliebtes Stückchen Erde, bist teuer.
Keine drei Monaten, nachdem ich meinen Fuß in dich gegraben habe, wurden die Weichen für eine schwerwiegende, schon längst anstehende Entscheidung gestellt.
Vielleicht war es dein guter, über Jahrhunderte voll ausgereifter kulturelle Einfluss, der uns nach nächtelangen, hitzigen und tränenreichen Diskussionen die richtige Wahl treffen ließ:
Um dich zu halten, werden wir dich verlassen – nicht für immer, doch für geraume Zeit.
Später werden wir vielleicht darüber lächeln und sagen:
"Wir waren jung und brauchten das Geld!"
und eine Flasche Kessler Sekt darüber vergießen.
Heute jedoch fühle ich mich zu alt, um meine Wurzeln wieder und wieder aus der Erde zu ziehen und mich neu verpflanzen zu lassen.
Mein Herz hängt an dir, mein Fleckchen Erde, ganz fest. Es will nicht schon wieder aus seiner Verankerung gerissen werden.
Also bleibt mir nichts anderes, als hier zu sitzen, die nackten Füße fest eingegraben in dich.
Und ich höre dich flüstern:
Es wächst wieder nach, dein Herz!
Bye, bye Esslingen!